Anschauung

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Anschauung ist ein erkenntnistheoretischer Begriff, der in seiner heutigen Verwendung meist auf Immanuel Kant bezogen ist. Mit ihm wird auf den sinnlich-rezeptiven Anteil in der Erkenntnis Bezug genommen. Anschaulich ist im engeren Sinn etwas, von dem man sich eine visuelle Vorstellung machen kann. Der Begriff wurde allerdings auch schon vor Kant in der Philosophie verwendet, etwa bei Notker (ahd. anascouunga) und Meister Eckhart (mhd. anschauunge), bei denen der Begriff primär eine religiöse Bedeutung hatte. In der heutigen Erkenntnistheorie werden jedoch meist die verwandten Begriffe „Wahrnehmung“ und „Erfahrung“ verwendet.

Emprische und reine Anschauungsformen

Die gewöhnliche Anschauung nimmt die Erscheinungen ungeschieden so hin, wie sie sind, d.h. auch mit allen Zufälligkeiten, mit denen sie behaftet ist. Die reine Anschauung hebt hingegen das Wesentliche und mithin Notwendige heraus, das sie erst zu dem macht, was sie ihrer inneren Natur nach ist.

„Gewöhnliches Anschauen ist ein solches, welches die Erscheinungen aufnimmt wie sie sind, ohne Notwendiges und Zufälliges zu sondern. Reines Anschauen gibt sich dem Notwendigen hin und betrachtet das Zufällige als Unwesentliches.“ (Lit.: GA 1e, S. 364)

Kants in der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Erkenntnistheorie unterscheidet zwischen empirischen Anschauungen, die uns durch Sinnesorgane gegeben werden, und reinen Anschauungen, die a priori vor jeder Erfahrung gegeben sind. Die beiden von Kant angenommenen reinen Anschauungsformen sind Raum und Zeit. Reine Anschauungen als solche sind frei von jeglicher sinnlichen Wahrnehmung, können aber auf sinnliche Wahrnehmungen bezogen werden. Eine Anschauung im Sinne Kants ist rein, „wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist“ (KrV B74, AA III, 74).

Alle sinnlichen Erfahrungen erscheinen uns laut Kant notwendig in den Anschauungsformen von Raum und Zeit - aber nicht etwa, weil diese Notwendigkeit in den Dingen selbst begründet wäre, sondern vielmehr deshalb, weil sie aus unserem eigenen Wesen entspringen. Sie stellen damit die a priori gegebene Bedingung jeder möglichen sinnlichen Erfahrung dar.

„Die reine Mathematik und namentlich die reine Geometrie kann nur unter der Bedingung allein objective Realität haben, daß sie blos auf Gegenstände der Sinne geht, in Ansehung deren aber der Grundsatz feststeht: daß unsre sinnliche Vorstellung keinesweges eine Vorstellung der Dinge an sich selbst, sondern nur der Art sei, wie sie uns erscheinen. Daraus folgt, daß die Sätze der Geometrie nicht etwa Bestimmungen eines bloßen Geschöpfs unserer dichtenden Phantasie sind und also nicht mit Zuverlässigkeit auf wirkliche Gegenstände könnten bezogen werden, sondern daß sie nothwendiger Weise vom Raume und darum auch von allem, was im Raume angetroffen werden mag, gelten, weil der Raum nichts anders ist, als die Form aller äußeren Erscheinungen, unter der uns allein Gegenstände der Sinne gegeben werden können. Die Sinnlichkeit, deren Form die Geometrie zum Grunde legt, ist das, worauf die Möglichkeit äußerer Erscheinungen beruht; diese also können niemals etwas anderes enthalten, als was die Geometrie ihnen vorschreibt. Ganz anders würde es sein, wenn die Sinne die Objecte vorstellen müßten, wie sie an sich selbst sind. Denn da würde aus der Vorstellung vom Raume, die der Geometer a priori mit allerlei Eigenschaften desselben zum Grunde legt, noch gar nicht folgen, daß alles dieses sammt dem, was daraus gefolgert wird, sich gerade so in der Natur verhalten müsse. Man würde den Raum des Geometers für bloße Erdichtung halten und ihm keine objective Gültigkeit zutrauen, weil man gar nicht einsieht, wie Dinge nothwendig mit dem Bilde, das wir uns von selbst und zum voraus von ihnen machen, übereinstimmen müßten. Wenn aber dieses Bild oder vielmehr diese formale Anschauung die wesentliche Eigenschaft unserer Sinnlichkeit ist, vermittelst deren uns allein Gegenstände gegeben werden, diese Sinnlichkeit aber nicht Dinge an sich selbst, sondern nur ihre Erscheinungen vorstellt, so ist ganz leicht zu begreifen und zugleich unwidersprechlich bewiesen: daß alle äußere Gegenstände unsrer Sinnenwelt nothwendig mit den Sätzen der Geometrie nach aller Pünktlichkeit übereinstimmen müssen, weil die Sinnlichkeit durch ihre Form äußerer Anschauung (den Raum), womit sich der Geometer beschäftigt, jene Gegenstände als bloße Erscheinungen selbst allererst möglich macht.“

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage, 1781, AA IV, S. 287

Damit hatte Kant nicht nur wie zuvor schon John Locke die Wirklichkeit der sekundären Sinnesqualitäten, d.h. der Qualia wie Farbe, Ton, Geruch usw., verneint, sondern auch den primären Sinnesqualitäten, d.h. allen räumlichen und zeitlichen Anschauungsformen ihren Wirklichkeitsgehalt abgesprochen. Der Mensch ist damit letztlich in seinen selbst erzeugten Vorstellungen gefangen, das „Ding an sich“ bleibt ihm für immer unzugänglich.

„Alles, was uns als Gegenstand gegeben werden soll, muß uns in der Anschauung gegeben werden. Alle unsere Anschauung geschieht aber nur vermittelst der Sinne; der Verstand schauet nichts an, sondern reflectirt nur. Da nun die Sinne nach dem jetzt Erwiesenen uns niemals und in keinem einzigen Stück die Dinge an sich selbst, sondern nur ihre Erscheinungen zu erkennen geben, diese aber bloße Vorstellungen der Sinnlichkeit sind, "so müssen auch alle Körper mit sammt dem Raume, darin sie sich befinden, für nichts als bloße Vorstellungen in uns gehalten werden und existiren nirgend anders, als blos in unsern Gedanken." Ist dieses nun nicht der offenbare Idealismus?

Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrige Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der That kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand correspondirte. Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben; welches Wort also blos die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegentheil davon.

Daß man unbeschadet der wirklichen Existenz äußerer Dinge von einer Menge ihrer Prädicate sagen könne: sie gehörten nicht zu diesen Dingen an sich selbst, sondern nur zu ihren Erscheinungen und hätten außer unserer Vorstellung keine eigene Existenz, ist etwas, was schon lange vor Lockes Zeiten, am meisten aber nach diesen allgemein angenommen und zugestanden ist. Dahin gehören die Wärme, die Farbe, der Geschmack etc.. Daß ich aber noch über diese aus wichtigen Ursachen die übrigen Qualitäten der Körper, die man primarias nennt, die Ausdehnung, den Ort und überhaupt den Raum mit allem, was ihm anhängig ist (Undurchdringlichkeit oder Materialität, Gestalt etc.), auch mit zu bloßen Erscheinungen zähle, dawider kann man nicht den mindesten Grund der Unzulässigkeit anführen; und so wenig wie der, so die Farben nicht als Eigenschaften, die dem Object an sich selbst, sondern nur den Sinn des Sehens als Modificationen anhängen, will gelten lassen, darum ein Idealist heißen kann: so wenig kann mein Lehrbegriff idealistisch heißen, blos deshalb weil ich finde, daß noch mehr, ja alle Eigenschaften, die die Anschauung eines Körpers ausmachen, blos zu seiner Erscheinung gehören; denn die Existenz des Dinges, was erscheint, wird dadurch nicht wie beim wirklichen Idealism aufgehoben, sondern nur gezeigt, daß wir es, wie es an sich selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen können.“

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage, 1781, AA IV, S. 288f.

Kant geht zudem davon aus, dass jede Erkenntnis auf das Zusammenspiel von Anschauungen und Begriffen angewiesen ist. „Das Mannigfaltige“, das in der Anschauung gegeben werde, brauche einer begrifflichen Ordnung, um zu Erkenntnis führen zu können. Andererseits bräuchten Begriffe Anschauungen, um nicht vollkommen leer zu sein. Begriffsverwendungen ohne Anschauungsmaterial führten zu den sinnlosen Spekulationen der traditionellen Metaphysik, die Kant in der transzendentalen Dialektik widerlegen möchte. Dennoch ist nach Kant reine apriorische Erkenntnis im Wechselspiel von reinen Anschauungen und reinen Begriffen möglich, d.h.: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“:

„Wollen wir die Receptivität unseres Gemüths, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise afficirt wird, Sinnlichkeit nennen: so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses der Verstand. Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen afficirt werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen oder Fähigkeiten können auch ihre Functionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntniß entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Antheil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d. i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i. der Logik.“

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, KrV B75 (AA III, 75)

Intellektuelle Anschauung

Als intellektuelle Anschauung oder auch intellektuale Anschauung wird die Fähigkeit zur unmittelbaren Erkenntnis der Prinzipien unseres Wissens und der Wirklichkeit bezeichnet. Der Begriff wurde vor allem im Deutschen Idealismus, bei Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, zu einer zentralen Kategorie.

Während Immanuel Kant dem Menschen die Fähigkeit zu einer intellektuellen Anschauung kategorisch abspricht, da für ihn die menschliche Anschauung grundsätzlich sinnlich, d. h. durch einen äußeren und unabhängig vom Menschen existierenden Gegenstand hervorgerufen wird, wird der Begriff bei Fichte und Schelling zu einem wesentlichen Ausgangspunkt ihrer Philosophie. „Intellektuelle Anschauung“ bedeutet bei ihnen zunächst einmal nichts weiter als den Akt, in dem das Ich auf sich selbst reflektiert, d.h. denkend die Erfahrung seines Selbstbewusstseins betrachtet. Für Fichte und Schelling wird im Akt der Anschauung eines Gegenstandes das Ich nicht nur auf sich aufmerksam, sondern erzeugt sich dabei auch selbst. Denkend sich selbst betrachtend bringt sich das Ich selbst hervor. Dies wird für Fichte und Schelling zum Ausgangspunkt ihrer transzendental-idealistischen Systeme. Fichte schreibt dazu in „Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre“:

„Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen. Die Forderung, man solle es ihm durch Raisonnement nachweisen, ist noch um vieles wunderbarer, als die Forderung eines Blindgeborenen seyn würde, dass man ihm, ohne dass er zu sehen brauche, erklären müsse, was die Farben seyen.

Wohl aber lässt sich jedem in seiner von ihm selbst zu gestandenen Erfahrung nachweisen, dass diese intellectuelle Anschauung in jedem Momente seines Bewusstseyns vorkomme. Ich kann keinen Schritt thun, weder Hand noch Fuss bewegen, ohne die intellectuelle Anschauung meines Selbstbewusstseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiss ich, dass ich es thue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objecte des Handelns. Jeder, der sich eine Thätigkeit zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie ist der Tod.“ (Lit.: Fichte, S. 463)

In der intellektuellen Anschauung sieht sich, wie Fichte sagt, die Intelligenz selbst zu:

„Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst Sehen ist mit allem, was ihr zukommt, unmittelbar vereinigt[1], und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seyns und des Sehens besteht die Natur der Intelligenz. Was in ihr ist, und was sie überhaupt ist, ist sie für sich selbst; und nur, inwiefern sie es für sich selbst ist, ist sie es, als Intelligenz.“ (Lit.: Fichte, S. 435)

Das Ich setzt sich dabei selbst durch eine reine Tathandlung. In der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ §1 heißt es:

„Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Thätigkeit desselben. – Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines blossen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und That sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Thathandlung; aber auch der einzig-möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muss.“ (Lit.: Fichte, S. 96)

In seinem „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ (1797) gibt Fichte dazu noch folgende Erläuterung:

„Indem du deinen Tisch oder deine Wand dachtest, warest du, da du ja, als verständiger Leser, der Thätigkeit in deinem Denken dir bewusst bist, in diesem Denken dir selbst das Denkende: aber das Gedachte war dir nicht du selbst, sondern etwas von dir zu unterscheidendes. Kurz, in allen Begriffen dieser Art soll, wie du es in deinem Bewusstseyn wohl finden wirst, das Denkende und das Gedachte zweierlei seyn. In dem du aber dich denkst, bist du dir nicht nur das Denkende, sondern zugleich auch das Gedachte; Denkendes und Gedachtes sollen dann Eins seyn; dein Handeln im Denken soll auf dich selbst, das Denkende, zurückgehen. Also — der Begriff oder das Denken des Ich besteht in dem auf sich Handeln des Ich selbst; und umgekehrt, ein solches Handeln auf sich selbst giebt ein Denken des Ich, und schlechthin kein anderes Denken. Das erstere hast du soeben in dir selbst gefunden und mir zugestanden: solltest du an dem zweiten Anstoss nehmen, und über unsere Berechtigung zur Umkehrung des Satzes Zweifel haben, so überlasse ich es dir selbst, zu versuchen, ob durch das Zurückgehen deines Denkens auf dich, als das Denkende, je ein anderer Begriff herauskomme, als der deiner selbst; und ob du dir die Möglichkeit denken könnest, dass ein anderer herauskomme. — Beides sonach, der Begriff eines in sich zurückkehrenden Denkens, und der Begriff des Ich, erschöpfen sich gegenseitig. Das Ich ist das sich selbst Setzende, und nichts weiter: das sich selbst Setzende ist das Ich, und nichts weiter. Durch den beschriebenen Act kommt nichts anderes heraus, als das Ich: und das Ich kommt durch keinen möglichen anderen Act heraus, ausser durch den beschriebenen.“ (Lit.: Fichte, S. 522f)

Schelling hat diese in völliger Freiheit hervorgebrachte und zugleich als unmittelbare Erfahrung erlebte intellektuelle Anschauung im achten seiner Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus treffend so beschrieben:

„Uns allen nämlich wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes, von allem, was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen, und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung zuerst überzeugt uns, dass irgend etwas im eigentlichen Sinne ist, während alles übrige nur erscheint, worauf wir jenes Wort übertragen. Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung dadurch, dass sie nur durch Freiheit hervorgebracht und jedem Andern fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit, von der eindringenden Macht der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewusstseins hinreicht.

[...]

Diese intellektuelle Anschauung tritt dann ein, wo wir für uns selbt aufhören, Objekt zu sein, wo, in sich selbst zurückgezogen, das anschauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist. In diesem·Moment der Anschauung schwindet für uns Zeit und Dauer dahin: nicht wir sind in der Zeit, sondern die Zeit - oder vielmehr nicht sie, sondern die reine absolute Ewigkeit ist in uns. Nicht wir sind in der Anschauung der objektiven Welt, sondern sie ist in unsrer Anschauung verloren.“ (Lit.: Schelling, S. 165f)

In einem Brief vom 13. Januar 1881 an seinen Freund Josef Köck bezog sich Rudolf Steiner als junger Student auf diese Worte Schellings, die ihm zu einem bedeutsamen Erweckungserlebnis wurden:

„Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis ½1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben - geahnt habe ich es ja schon längst —; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!“ (Lit.:GA 38, S. 13)

Auch Goethe, dem diese intellektuelle Anschauung ebenfalls lebendig gegenwärtig und keineswegs ein bloß erklügelter Verstandesbegriff war, widersprach Kant ganz energisch:

„Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheben trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:

«Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen: Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.» (vgl. KdU §77, AA V, 405ff)

Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen“ (Lit.: Goethe: Anschauende Urteilskraft)

Übersinnliche Anschauungsformen

Im geisteswissenschaftlichen Sinn muss man von höheren, übersinnlichen Anschauungsformen sprechen, etwa von der imaginativen Anschauung.

"Es ist ja so, daß, wenn der Mensch mit seinem physischen Auge hinschaut, seine andern physischen Sinne in Regsamkeit hat und aufmerksam wird auf dasjenige, was in seiner Weltumgebung ist, er da wahrnimmt die physische Atmosphäre der Erde, in ihr eingebettet die Wesenheitender verschiedenen Reiche, innerhalb dieses ganzenMilieus sich zutragend alles dasjenige, was in Wind und Wetter im Laufe der Jahreserscheinungen vor sich geht. Daß also der Mensch das alles vor sich hat, das ist der äußere Tatsachenbestand, wenn der Mensch seine Sinne der Außenwelt exponiert.

Aber hinter der Atmosphäre, hinter der sonnendurchleuchteten Atmosphäre liegt, wahrnehmbar für dasjenige, was man Geistorgane nennen kann, eben eine andere Welt, man darf sagen eine gegenüber der Sinnenwelt höhere Welt, eine Welt, in der auch in einer Art Licht, in einer Art geistigen Lichtes, in einer Art Astrallichtes, geistig Wesenhaftes und geistige Tatsachen erglänzen und sich abspielen, die wahrhaftig für das Gesamtwerden der Welt und des Menschen nicht weniger bedeutsam sind als dasjenige, was in der äußeren Atmosphäre auf der äußeren Erdoberfläche geschichtlich sich abspielt." (Lit.: GA 229, S. 9f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Dieses sich selbst Sehen geht unmittelbar auf alles, was sie ist.


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