Lektor

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Ein Lektor (von lat. lector „Leser, Vorleser“) ist im weitesten Sinn jemand, der damit beauftragt ist, einen gegeben schriftlich verfassten Text zu lesen (z.B. zu Korrekturzwecken) bzw. vor einer versammelten Gemeinschaft laut vorzulesen.

Historischer Hintergrund

Im Allgemeinen geht man davon aus, dass in der griechisch-römischen Zeit noch bis weit in die ersten christlichen Jahrhunderte auch einsame Leser vornehmlich laut rezitierend zu lesen pflegten[1][2][3], obwohl diese These gelegentlich auch angezweifelt wird[4][5][6]. Oft zitiert wird diesbezüglich die Stelle aus den "Bekentnissen" des Augustinus, der sich über den leise lesenden Bischof Ambrosius von Mailand verwundert:

„Und wenn er las, schweiften die Augen über die Seiten und das Herz erforschte den Sinn, er selbst aber schwieg. Oft, wenn wir gegenwärtig waren, denn jeder hatte Zutritt, auch pflegte der Kommende nicht angemeldet zu werden, sahen wir ihn schweigend lesen, und nie anders; lange Zeit saßen wir schweigend da - denn wer hätte es gewagt, eine solche Vertiefung zu stören?“

Augustinus: Confessiones 6,3

Als Lektoren wurden dann vornehmlich die Vorleser im Gottesdienst bezeichnet, später auch die Dozenten (von lat. docēre „lehren, unterrichten“), die an den Universitäten ihre Vorlesungen hielten. In den Klöstern und zuweilen auch an den Hochschulen wurden die Lehrer der Philosophie und Theologie Lesemeister genannt. Im Verlagswesen ist es die Aufgabe des Verlagslektors, eingereichte Manuskripte zu sichten, auszuwählen und zu korrigieren.

Lektoren der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft

Als Lektoren werden im anthroposophischen Zusammenhang jene Mitglieder der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft bezeichnet, die vom Vorstand am Goetheanum damit beauftragt sind, im Rahmen der Hochschularbeit die sogenannten Klassenstunden zu halten, in denen die geistige Welt, die in der Anthroposophie zunächst in Ideenform beschrieben wird, durch höhere Ausdrucksformen dargestellt wird, die unmittelbar der geistigen Welt selbst entlehnt sind. Die Grundlage dafür bilden die 29 erhaltenen stenographischen Mitschriften der insgesamt 38 Klassenstunden, die Rudolf Steiner selbst noch vor seinem Tod am 30. März 1925 im Rahmen der "Ersten Klasse" der Hochschule halten konnte. Von den Lektoren wird dabei entweder der genaue Wortlaut der von Steiner gehaltenen Stunden verlesen oder - bei den sogenannten frei gehaltenen Stunden - die Interpretation und Hinführung zu den Mantren, die den Kern der Klassenstunden bilden, individuell von den Lektoren selbst gestaltet. Weltweit haben sich mittlerweile zahlreiche Lektorenkreise gebildet, die sich über Fragen der Arbeit innerhalb der Ersten Klasse der Hochschule verständigen und der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion, die unter der Leitung der Vorstandsmitglieder am Goetheanum steht, neue Lektoren vorschlagen.

Für die Teilnehmer an den Klassenstunden wird eine entsprechende Vertrautheit mit den Grundlagen der Anthroposophie und der meditativen Praxis vorausgesetzt. Ferner ist eine weitere Hauptbedingung die Repräsentanz.

Literatur

  • Rudolf Steiner: Esoterische Unterweisungen für die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum 1924, GA 270 I-IV (1999), ISBN 3-7274-2700-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Der Meditationsweg der Michaelschule in neunzehn Stufen. Rudolf Steiners esoterisches Vermächtnis aus dem Jahre 1924, Perseus Vlg. Basel 2011
  • Rudolf Steiner: Der Meditationsweg der Michaelschule, Ergänzungsband. Die Wiederholungsstunden in Prag, Bern, London und Dornach, Perseus Vlg., Basel 2011
  • Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum - Zur Orientierung und Einführung. Herausgegeben für das Hochschulkollegium der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum von Johannes Kühl, Bodo von Plato und Heinz Zimmermann, Verlag am Goetheanum, Dornach 2008, ISBN 978-3-7235-1328-6
  • Heinz Eckhoff: Vorwort, in: Rudolf Steiner: Werde der du bist, Archiati Verlag 2005, S. 3 - 4
  • Johannes Kiersch: Den Engeln Nahrung geben. In: Wochenschrift Das Goetheanum, Nr. 49 vom 1. Dezember 2017, S. 7 - 9
  • Günter Röschert: Gibt es eine lektorenfreie allgemeine anthroposophische Hochschularbeit?. In: Anthroposophie, Michaeli 2017, Nr. 281, S. 254 - 256
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Eduard Norden: Die Antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v.Chr. bis in die Zeit der Renaissance I, Leipzig/Berlin 1909
  2. Josef Balogh: Voces Paginarum. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, Philologus 82 (1927)
  3. G. L. Hendrickson: Ancient Reading (1929), S 182–196
  4. B. M. W. Knox: Silent Reading in Antiquity (1968), S 421–435
  5. A. K. Gavrilov: Techniques of Reading in Classical Antiquity (1997), S 56–73
  6. M. F. Burnyeat: Postscript on Silent Reading, (1997), S 74–76