Todeserlebnis

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Aus anthroposophischer Sicht stellt sich das Todeserlebnis so dar: Der Tod löscht das Leben, dem eine eigenständige feinstoffliche, ätherische Realität zukommt, nicht aus, aber es trennt sich endgültig vom physischen Körper, worauf dieser unausweichlich dem Verfall anheim gegeben wird. Im Todesmoment steigern sich die Todesprozesse, die uns schon während unseres ganzen Erdenlebens die Grundlage für unser Bewusstsein geben, in ungeheurem Maße. Im Moment des Todes leuchtet das Bewusstsein derart hell auf, wie wir es während unseres Erdenlebens niemals erfahren können. Immer wieder berichten Menschen, die bereits an die Schwelle des Todes gekommen sind, aber noch einmal zurückgeholt werden konnten, aus ihrer Nahtod-Erfahrung von diesem strahlenden Lichterlebnis, das entsteht, wenn die ganzen Lebenskräfte aus dem physischen Körper herausgeschleudert werden und ihren gewaltigen Widerhall in der Seele erregen. Das Bewusstsein, das mit dem Tod erwacht, ist ungleich stärker, reicher und wirklichkeitsgesättigter als unser irdisches waches Tagesbewusstsein. So stark ist dieses im Tod aufstrahlende Bewusstseinslicht, dass es dem Toten sein ganzes weiteres Dasein erhellt. So intensiv und blendend ist dieses Seelenlicht, dass der Tote darin zunächst gar keine Einzelheiten unterscheiden kann, und nur indem es sich allmählich abdämpft, werden einzelne Details wahrnehmbar.

„Daß der Mensch nicht unmittelbar nach dem Tode imstande ist, diesen Moment des Todes gleich zu erschauen, das hängt damit zusammen, daß wir nun nicht zuwenig Bewußtsein haben, wenn der Tod eingetreten ist, sondern im Gegenteil, daß wir zuviel Bewußtsein haben. Erinnern Sie sich nur an dasjenige, was in den Wiener Vorträgen[1] steht: daß wir uns hineinleben nicht in zuwenig Weisheit, sondern in zuviel Weisheit, in eine uns wie überflutende, unendliche, von überall an uns herandringende Weisheit. Unweise zu sein ist uns unmöglich nach dem Tode. Diese Weisheit kommt über uns wie ein uns allseitig überflutendes Licht, und wir müssen im Gegenteil erst dahin gelangen, uns zu beschränken, uns in dem, worinnen wir anfangs nicht orientiert sind, zu orientieren. Also durch dieses Herabstimmen des ganz hochgestimmten Bewußtseins bis zu dem Grade von Bewußtheit, den wir ertragen können nach unserer irdischen Vorbereitung bis zum Tode, durch dieses Herabstimmen kommen wir zu dem, was wir das Erwachen nennen können nach dem Tode.“ (Lit.:GA 161, S. 128f)

"Der Mensch ist in einer Art unbewußtem Schlafzustand nach dem Tode. Dann erwacht er, aber «erwacht» ist nicht ganz richtig gesagt. Das sieht aus, wie wenn man beim Erwachen zu einer Art Bewußtsein käme. Das ist nicht der Fall. Wenn der Mensch den Ätherleib abgelegt hat, hat er nicht zuwenig oder Schlaf-Bewußtsein, er hat zuviel Bewußtsein. Er hat eine Art überquellendes Bewußtsein. Wie man, von überflutendem Licht geblendet, nicht sehen kann, so ist nach dem Tode zuviel Bewußtsein da. Wir sind ganz von unendlich wirksamem Bewußtsein überflutet, erst herabdämpfen muß es sich bis zu dem Grad, den wir nach unserer Entwickelung in der physischen Welt uns angeeignet haben. Wir müssen uns orientieren in der Überfülle des Bewußtseins. Das, was man da «Aufwachen» nennt, ist erst ein Hineingewöhnen in den viel höheren Grad von Bewußtsein, in den wir eintreten nach dem Tode. Es ist ein Herabdämpfen des Bewußtseins bis zu dem Grade, den wir ertragen können." (Lit.: GA 174a, S. 68)

"Von dieser Seite des Lebens aus erscheint der Tod als eine Auflösung, als etwas, wovor der Mensch leicht Furcht und Grauen hat. Von der anderen Seite erscheint der Tod als der lichtvollste Anfang des geistigen Erlebens, als dasjenige, was etwas Sonnenhaftes ausbreitet über das ganze spätere Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dasjenige, was am meisten mit Freuden die Seele durchwärmt im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dasjenige, auf das immer wieder mit tiefer Sympathie zurückgeblickt wird. Das ist der Moment des Todes. Wenn wir ihn in irdischen Ausdrücken schildern wollen: Das Allererfreulichste, das Allerentzückendste im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist, von der anderen Seite angesehen, der Moment des Todes.

Wenn wir uns die Vorstellung etwa aus der materialistischen Weltanschauung heraus gebildet haben, daß der Mensch mit dem Tode das Bewußtsein verloren habe, wenn wir keine richtige Vorstellung gewinnen können über diesen Fortgang des Bewußtseins - ich spreche das am heutigen Tage besonders aus, weil die Ursache, die Veranlassung dazu das Zusammenleben mit den lieben Toten ist, die in der letzten Zeit von uns gegangen sind -, wenn wir uns so schwer eine Vorstellung davon machen können, daß ein Bewußtsein über den Tod hinaus existiert, wenn man glaubt, das Bewußtsein verdunkelt sich - es scheint auch so, daß sich das Bewußtsein nach dem Tode verdunkelt -, dann müssen wir uns klar sein: Es ist nicht wahr, denn es ist das Bewußtsein ein überaus helles, und nur weil der Mensch noch ungewohnt ist, in der allerersten Zeit nach dem Tode in diesem übermäßig klaren Bewußtsein zu leben, tritt zunächst unmittelbar nach dem Tode etwas wie ein Schlaf zustand ein. Dieser Schlaf zustand ist aber das Entgegengesetzte von dem Schlaf zustande, den wir im gewöhnlichen Leben verbringen. Im gewöhnlichen Leben schlafen wir, weil das Bewußtsein herabgedämpft ist. Nach dem Tode sind wir in gewissem Sinne bewußtlos, weil das Bewußtsein zu stark, zu kräftig ist, weil wir ganz in Bewußtsein leben, und was wir brauchen in den ersten Tagen, ist ein Hineinleben in diesen übermäßigen Bewußtseinszustand. Wir müssen uns erst orientieren lernen in diesem übermäßigen Bewußtseinszustande, Wenn es uns dann gelingt, uns so weit darinnen zu orientieren, daß wir wie aus der Fülle der Weltgedanken heraus aufgehen fühlen: Das warst du! - in dem Augenblicke, wo wir zu unterscheiden anfangen aus der Fülle der Weltgedanken unser vergangenes Erdenleben, erleben wir in dieser Fülle des Bewußtseins darinnen den Moment, von dem wir sagen können: Wir wachen auf. - Wir werden vielleicht erweckt durch ein Ereignis, das besonders bedeutsam in unser Erdenleben eingegriffen hat, das auch in die Ereignisse nach unserem Erdenleben eingreift.

Also es ist ein Sich-Gewöhnen an das übersinnliche Bewußtsein, an das Bewußtsein, das nicht auf der Grundlage und Stütze der physischen Welt aufgebaut ist, sondern das in sich selber wirkt. Das ist es, was wir «Aufwachen» nennen nach dem Tode. Man möchte sagen, dieses Aufwachen besteht in einem Sich-Zurechttasten des Willens, der, wie Sie wissen und wie Sie aus dem angeführten Vortragszyklus ersehen können, nach dem Tode sich besonders entwickeln kann. Ich habe da gesprochen von dem gefühlsartigen Willen, von dem willensartigen Gefühl. Wenn dieses willensartige Gefühlsleben sich hineintastet in die übersinnliche Welt, wenn es den ersten Taster macht, dann ist das Aufwachen eingetreten." (Lit.: GA 161, S. 81f)

Selbsterkenntnis ist nach dem Tod notwendig, um dieses hell strahlende Bewusstsein soweit abzudämpfen, dass das geschilderte «Aufwachen» erfolgen kann. Die Hinterbliebenen können diesen Prozess der Selbsterkenntnis unterstützen, indem sie des Toten und seines Erdenlebens gedenken:

"Also ein Abdämpfen nach und nach des Bewußtseins ist es, was man zu tun hat. Man kann also nicht von einem Erwachen sprechen wie in der physischen Welt, sondern von einem Erholen von der Überfülle des Bewußtseins zu dem Grade, den man ertragen kann, je nachdem, was man hier in der physischen Welt erlebt hat. Dazu ist etwas notwendig: Um nun in diesem alles überflutenden Lichtesbewußtsein sich nach dem Tode zurechtzufinden, dazu gehört als Ausgangspunkt die Erkenntnis des eigenen Wesens; dazu gehört, daß wir zurückblicken können auf das eigene Wesen, um gleichsam die Richtlinien zu finden, um uns in der geistigen Welt zu orientieren. Der Mangel an Selbsterkenntnis ist eben das Hindernis für das Bewußtsein nach dem Tode. Wir müssen in dem überflutenden Licht uns selbst finden. Und jetzt sehen Sie, warum das Bedürfnis kommt, den Toten zu charakterisieren, um ihm entgegenzukommen in dem Sich-finden." (Lit.: GA 157, S. 160)

Für das weitere Selbstbewusstsein nach dem Tod ist das unmittelbare Todeserlebnis selbst von entscheidender Bedeutung:

"Würden wir beim Durchgang durch die Todespforte dieses Erlebnis nicht haben können, das wir wissentlich mitmachen, das Weggehen unseres physischen Leibes, so würden wir nach dem Tode niemals ein Ich-Bewußtsein entfalten können! Das Ich-Bewußtsein nach dem Tode wird angeregt durch dieses Erleben des Hinweggehens des physischen Leibes. Für den Toten ist es von größter Bedeutung: Ich sehe meinen physischen Leib von mir hinwegschwinden. - Und das andere: Ich sehe aus diesem Ereignis heraus in mir selber die Empfindung erwachsen: Ich bin ein Ich. - Man kann das paradoxe Wort aussprechen: Könnten wir unseren Tod nicht erleben von der anderen Seite, würden wir nach dem Tode nicht ein Ich-Bewußtsein haben können. - So wahr die Menschenseele, wenn sie durch die Geburt oder auch schon durch die Empfängnis ins Dasein tritt, sich nach und nach dem Gebrauche des physischen Apparates anpaßt und dadurch das Ich-Bewußtsein im Leibe gewinnt, so wahr gewinnt das Menschenwesen das Ich-Bewußtsein nach dem Tode von der anderen Seite des Daseins dadurch, daß es das Abfallen des physischen Leibes von dem Gesamtmenschen erlebt." (Lit.: GA 168, S. 13f)

"Denn so wenig man im physischen Leben auf die Geburt zurückblickt, so unerläßlich ist es, daß man zwischen Tod und neuer Geburt auf den Tod zurückblickt. Der Tod steht immer im Rückblick da, nur nimmt er sich von der geistigen Seite anders aus. Er mag von der physischen Seite Schreckliches haben, von der anderen Seite ist er das herrlichste Ereignis, auf das man blicken kann. Er zeigt das Herrliche, daß der Geist über das Physische siegt, indem er sich ihm entringt. Das gehört zum Schönsten, dies Erlebnis, das man zwischen Tod und neuer Geburt hat im Rückblick." (Lit.: GA 174a, S. 69)

"Ich habe Ihnen öfter davon gesprochen, daß der Moment des Todes ja in einer gewissen Beziehung etwas Schreckhaftes ist für das Leben hier im physischen Leibe. Die Menschen wenden ja auch gerne ihr Antlitz von dem Tode ab. Nach dem Tode ist der Anblick des Todes immer da - ich habe das öfters schon betont -, aber er bedeutet dann nichts Furchtbares; sondern indem der Mensch hinblickt auf seinen eigenen Tod von der andern Seite des Lebens aus, ist in diesem Anblick immer die Gewißheit vorhanden, daß er ein Ich ist und ein Ich bleibt." (Lit.: GA 183, S. 147f)

Nachdem mit dem Tod der physische Leib abgelegt wurde, lebt der Tote zunächst in seinen drei höheren, nur übersinnlich erfahrbaren Wesensgliedern weiter. Das sind: der Ätherleib, der Seelenleib und das Ich. Da wir nun nicht mehr mit dem physischen Leib verbunden sind, verändert sich das Bewusstsein zwangsläufig ganz entscheidend. Alles das, was wir durch die physischen Sinnesorgane während des Erdenlebens wahrnehmen konnten, verschwindet bald. Ebenso die abstrakten Gedanken, die auf das physische Werkzeug des Gehirns angewiesen sind. Das heißt aber nicht weniger, als dass das meiste, was wir auf Erden im wachen Tagesbewusstsein erleben konnten, für uns sehr bald nicht mehr greifbar ist. Nur eine ganze kurze Zeit lang können gelegentlich die Sinneswahrnehmung und das abstrakte Denken aufrechterhalten werden, da es ja im Grunde nicht die physischen Organe sind, die wahrnehmen, sondern letztlich das selbstbewusste Ich, das mit Hilfe des Seelenleibes und des Ätherleibes durch die Sinnesorgane in Kontakt mit der Außenwelt kommt. Die physischen Organe prägen dem Ätherleib und dem Seelenleib nur ganz spezifische Gewohnheiten auf, wie sie für die sinnliche Wahrnehmung nötig sind. Solange der Ätherleib und der Seelenleib diese Gewohnheiten beibehalten, ist eine eingeschränkte sinnliche Wahrnehmung noch möglich. Es entstehen dann Erlebnisse, wie sie gelegentlich von Menschen geschildert werden, die nahe an den Tod herangekommen sind und später berichten, wie sie sich dann außerhalb ihres physischen Körpers wiedergefunden haben, sich dabei als über ihm schwebend empfanden und auf ihn herabblicken konnten und auch bewusst miterlebten, was Ärzte und Retter sprachen und taten, um sie wieder ins Leben zurückzurufen. Derartige außerkörperliche Erfahrungen sind gar nicht so selten. Auch ohne in unmittelbare Todesnähe zu kommen, treten sie gelegentlich spontan auf. Sie beruhen stets darauf, dass sich die drei höheren Wesensglieder zumindest teilweise vom physischen Körper lösen, aber noch die der physischen Welt angemessenen Gewohnheiten beibehalten.

Was uns zunächst bleibt, wenn die äußere Wahrnehmung und das Verstandesdenken schließlich vollständig dahinschwinden, ist der Blick in bzw. auf den eigenen Ätherleib. Er ist es, der das blendende Bewusstseinslicht in der Seele erregt, wenn er sich dem physischen Körper entreißt. Unser Bewusstsein, wie wir es uns auf Erden erworben haben, ist zunächst viel zu schwach um diese blendende Fülle zu bewältigen. Der allergrößte Teil der Bildekräftetätigkeit war ja während des irdischen Lebens der beständigen Erhaltung und Regeneration des physischen Leibes zugewendet und blieb uns deshalb völlig unbewusst; nur ein sehr, sehr geringer Teil der Lebenskräfte wurde in das seelische Erleben zurückgespiegelt, und nur diesen Teil vermag der Tote zunächst bewusst zu erfassen. Was also ist der Inhalt dieses Bewusstseins? Sinneswahrnehmung und Verstandesdenken sind es nicht mehr – dafür aber die Erinnerungen an das, was wir wahrgenommen und gedacht haben! Der Ätherleib ist nämlich der eigentliche Träger des Gedächtnises. Während unseres Erdenlebens können wir uns an viele Dinge, die wir erlebt haben, nur sehr schwach erinnern, an manche gar nicht mehr. Nach dem Tod leuchtet das Gedächtnis mit ungeheurer Stärke auf und zeigt uns das vergangene irdische Leben als lückenloses Lebenspanorama. Alle Erlebnisse, die wir hatten, stehen gleichzeitig und ganz deutlich vor unserem Seelenblick. Alles, was wir längst vergessen glaubten, erleben wir nun noch einmal, aber mit der nüchternen Distanz eines neutralen Beobachters, was daran liegt, dass sich der Ätherleib bereits vom Seelenleib zu lösen beginnt und gleichsam von außen angeschaut wird, was während des wachen Erdenlebens niemals der Fall ist. Die Zeit spielt hier keine Rolle mehr. Ähnliche Phänomene kennt man ja auch aus dem Traumleben, wo sich innerhalb von Sekundenbruchteilen ein ganzes gewaltiges Traumdrama entrollen kann.

Man wird das Ganze noch besser verstehen, wenn man sich vor Augen hält, wie das Gedächtnis des auf Erden verkörperten Menschen eigentlich funktioniert. Was immer die Seele augenblicklich erlebt, lebt der Ätherleib sehr stark mit - denn im Wachzustand sind Ätherleib und Seelenleib ganz stark mit einander verbunden - und bewahrt es als dynamische innere Lebenstätigkeit auf. Diese durch das seelische Erleben erregte Lebenstätigkeit greift sehr bald auf den physischen Körper über und prägt diesem entsprechende Spuren ein. Damit diese Spuren auch ein Leben lang erhalten bleiben, muss sie der Ätherleib beständig regenerieren. Der Ätherleib nimmt also das seelische Erleben auf, setzt es in eine entsprechende Lebenstätigkeit um und gräbt diese dem Körper ein. Damit wird aber das, was wir seelisch erlebt haben, zunächst in die Tiefe des physischen Organismus hinein „vergessen“. Denn wenn sich die Bildekräftetätigkeit ganz dem Körper zuwendet, kann sie keine seelischen Bilder mehr erregen. Das entspricht auch durchaus unserer alltäglichen Erfahrung, denn wir tragen das, was wir einmal erlebt haben nicht ununterbrochen im Bewusstsein, und es ist, wie mancher Prüfling schmerzlich bemerken muss, oft sehr mühevoll, Erlerntes wieder ins Bewusstsein heraufzuheben. In der frühesten Kindheit verbindet sich das, was wir erleben, am aller stärksten mit dem physischen Leib. Nur flüchtige Reflexe spiegeln sich in der Seele wider und fast alles gerinnt zu körperlichen Strukturen. Alles, was wir als kleines Kind wahrnehmen, prägt sich dem Organismus so stark ein, dass wir uns später niemals daran erinnern können. Was wir als Baby nahezu bewusstlos wahrnehmen, gestaltet so überhaupt erst die Feinstruktur des Gehirns aus. Relativ leicht erinnern können wir uns nur an das, was wir mit dem voll erwachten Ichbewusstsein erlebt haben. Die dadurch gebildeten Gedächtnisspuren graben sich dem Organismus nur sehr oberflächlich ein. Die traumartigen Erlebnisse des Seelenleibes heften sich schon wesentlich stärker an den physischen Leib und können darum nur sehr viel schwerer wieder dem Dunkel des Vergessens entrissen werden. Deswegen können wir uns auch an die meisten nächtlichen Träume nur sehr wenig erinnern. Erst nach dem Tod werden uns die Erfahrungen des Seelenleibes lückenlos zugänglich. Tatsächlich ist das, was wir mittels des Seelenleibes erleben, sehr viel reicher als das, was wir mit dem vollen Selbstbewusstsein begleiten. Unser Selbstbewusstsein ist eben noch sehr schwach ausgebildet. Das nachtodliche Lebenspanorama zeigt uns daher vor allem jene Erfahrungen, deren wir uns auf Erden gar nicht so recht bewusst geworden sind, oder die wir gewaltsam in die tieferen Bewusstseinsschichten verdrängt haben. Das Lebenspanorama, das sich nach dem Tod unserem Seelenblick zeigt, unterscheidet sich daher doch sehr wesentlich von unserem irdischen Erinnerungsvermögen.

Was geschieht also, wenn wir uns an etwas erinnern? Erinnern heißt, dass wir die ätherischen Bildekräfte, welche die physischen Gedächtnisspuren beständig regenerieren, vom Körper abziehen und in das seelische Erleben zurückleiten. Die physischen Gedächtnisspuren beginnen sich dadurch aufzulösen, und nur wenn wir das Erinnerte wieder aus dem Bewusstsein entlassen, kann sie der Ätherleib dem physischen Körper neuerlich, vielleicht in modifizierter Form wieder einprägen. Es wäre also wahrscheinlich nicht sehr gesund, wenn wir uns an die frühesten Kindheitserlebnisse erinnern würden, denn dann könnte die Feinstruktur unseres Gehirns sehr leicht beschädigt werden. Erleben, Vergessen und Erinnern stellen einen wichtigen Lebenszyklus dar, durch den unser physischer Leib immer wieder nach Maßgabe unserer Lebenserfahrungen ganz leise umgestaltet und diesen angepasst wird. Bei den Tieren ist dieser Lebenszyklus beinahe ausschließlich auf eine kurze, sehr frühe Lebensepoche beschränkt. Beim Menschen ist diese Fähigkeit am stärksten in der frühen Kindheit ausgeprägt; mit zunehmendem Alter beginnt sich der Ätherleib bereits ganz vorsichtig vom physischen Leib zu trennen. Es fällt uns dann immer schwerer, Gedächtnisspuren unserem Organismus einzugraben, dafür tauchen aber plötzlich Jugenderlebnis wieder auf, an die man sich während des ganzen Lebens davor nicht erinnern konnte. Dieses Phänomen findet man bei älteren Menschen ja sehr häufig.

Solange wir auf Erden leben, sind die ätherischen Bildekräfte sehr stark dem physischen Leib zugewendet und verhindern dessen Zerfall. Nach dem Tod, wenn der physische Leib wegfällt, folgen sie ihrer inneren kosmischen Lichtnatur und gliedern sich dem kosmischen Geschehen ein. Schon wenige Tage nach dem Tod beginnt sich der Ätherleib normalerweise aufzulösen, wodurch auch das Lebenspanorama allmählich verblasst, gleichsam dünn und durchsichtig wird und nun anderen Erlebnissen Platz macht, die viel inniger mit unserem inneren Seelenwesen verbunden sind als dieser nüchterne Gesamtüberblick über die äußeren Geschehnisse des vergangenen Erdenlebens.

Der Tote tritt dann in jenen Bereich über, der in der geisteswisenschaftlichen Terminologie als Kamaloka, in der christlich-abendländischen Ausdrucksweise als Fegefeuer bezeichnet wird.

"Gleichzeitig mit dem Erinnerungsbilde empfindet der Mensch, daß er immer größer und größer wird. Die Bilder, die ihn umgeben, welche die Bilder des vergangenen Lebens sind, vergrößern sich ebenfalls. Indem der Mensch sich noch im Ätherleib befindet, wächst er sozusagen in seine Umgebung hinein. Wenn der im Ätherleib befindliche Mensch ein Ereignis erlebt hat, das sich fünfzig Meilen entfernt abgespielt hat, dann ist das so, als ob er sich bis zu dem Schauplatz des Ereignisses ausdehnte. Wenn er einmal in Amerika war, fühlt er sich hinauswachsen bis nach Amerika. Im Ätherleib empfindet der Mensch das Immer-größer-Werden. Im Astralleib fühlt er sich dagegen auf gestückelt in verschiedene einzelne Teile. Er empfindet den astralischen Leib keineswegs als eine räumliche Einheit. Es gibt zum Beispiel Gallwespen, deren Vorder- und Hinterleib nur durch einen ganz dünnen Stiel verbunden sind. Das ist ein Beispiel dafür, wie auch in der physischen Welt zwei zueinandergehörige Teile nur durch eine Verbindung von sehr geringer Ausdehnung zusammengehalten werden. In der astralischen Welt kann es nun vorkommen, daß sogar überhaupt keine Verbindung zwischen zwei Teilen da ist und dennoch der eine Teil zum anderen gehört und diese Zugehörigkeit durchaus empfunden wird. Im Astralleib kann sich der Mensch an den verschiedensten Orten zugleich befinden. Wenn ein Mensch, der durch das Kamaloka hindurchgeht, in seinem Erdenleben einmal einem anderen einen physischen oder seelischen Schmerz zugefügt hat und im Rückwärtserleben zu diesem Zeitpunkt gelangt, dann fühlt er sich in dem anderen darin und erlebt dessen Schmerz in seinem eigenen Astralleibe. Alle Erlebnisse und Taten des vorangegangenen Erdenlebens werden in diesem Empfindungsspiegel zum zweitenmal vorgefunden. Das ist auch ein Teil des Kamalokalebens." (Lit.: GA 96, S. 181f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelhinweise

  1. vgl. GA 153