Wahrheit und Werden: Unterschied zwischen den Seiten

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'''Wahrheit''' (von {{idg|*wēr-|Vertrauen, Treue, Zustimmung}}; [[lat.]] ''[[veritas]]''; {{ELSalt|ἀλήθεια}} [[Aletheia]], aus [[Wikipedia:Alpha privativum|α privativum]] und {{polytonisch|λῆθος}}, [[Wikipedia:Partizip Perfekt Passiv|P.P.P.]] von {{polytonisch|λανθάνω}}, „verbergen“, bedeutet also wörtlich: „das Unverborgene“) ist ein [[Philosophie|philosophischer]] [[Begriff|Grundbegriff]], der aber von verschiedenen [[Denken|Denkern]] sehr unterschiedlich gefasst wurde → [[Wikipedia:Wahrheit|Wahrheit]].
'''Werden''' ist ''Veränderung'', ist ''Entstehen'', ''Verwandeln'' und ''Vergehen'', ist [[Metamorphose]], und als solches der grundlegende [[Prozess]] der [[Schöpfung]]. Alles [[Sein]] entspringt aus dem [[Nichts]], verdichtet sich bis zum [[physisch]]en [[Dasein]] und verschwindet wieder ins Nichts. Mit dem Werden tritt zugleich die [[Zeit]] hervor. Das Sein, als ein bereits [[real]] Gewordenes, gehört der [[Vergangenheit]] an. Das ''Werdende'' ist noch nicht [[Gegenwart|gegenwärtig]], d.h. noch nicht äußerlich sichtbar oder messbar vorhanden, sondern gehört der [[Zukunft]] an, aus der es uns entgegenkommt. Und doch liegt in diesem Werdenden, das ''jetzt'' noch keine äußerlich [[real]]e [[Existenz]] hat, die [[wirklich]]e gestaltende [[Kraft]], die das zukünftige Sein bestimmt.  


{{GZ|Die Wahrheit ist aber nichts,
Bereits der [[Griechisch-Lateinische Kultur|griechische]] [[Wikipedia:Philosoph|Philosoph]] [[Heraklit]] betonte im Gegensatz zu [[Parmenides]], dass das Wesen alles Seins im Werden begründet ist. Er vergleicht das Sein mit einem Fluss, in den man kein zweites Mal steigen könne: ''"Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht."'' {{Lit|Heraklit, S 132<ref>Das Fragment 49a gilt allerdings nur als vage Anlehnung an den Originaltext, der gesamte zweite Teil ist nicht authentisch; vgl. Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', S. 326</ref>}}. Der [[spätantike]] [[Aristoteles]]-Kommentator [[Wikipedia:Simplikios|Simplikios]]<ref>[[Wikipedia:Hermann Diels|Hermann Diels]]: ''Simplicius, In Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria''. Reimer, Berlin 1895 (Nachdr. de Gruyter 1954), ([[Wikipedia:Commentaria in Aristotelem Graeca|Commentaria in Aristotelem Graeca]] 10) S. 1313.</ref> fasste das später zusammen in die berühmte Kurzformel "[[panta rhei]]" ({{ELSalt|πάντα ῥεῖ}}, „Alles fließt“).
worüber man [[Meinung]]en haben kann. Eine Wahrheit weiß man, oder
man weiß sie nicht. Es kann niemand sagen, daß die drei Winkel im
Dreieck 725 Grad haben statt 180.|93|108}}


== Was ist Wahrheit? ==
[[Rudolf Steiner]] bemerkte dazu:
[[Bild:Was_ist_Wahrheit.jpg|thumb|250px|[[Wikipedia:Nikolai Nikolajewitsch Ge|Nikolai Nikolajewitsch Ge]]: ''Was ist Wahrheit'' – Quid est veritas? (1890); [[Pontius Pilatus]] zu [[Jesus von Nazareth|Jesus]] {{Bibel|Joh|18|38|LUT}}.]]
 
Solange die Menschen noch von der alten Götterweisheit, die sie [[Hellsehen|hellsichtig]] empfangen hatten, zehren konnten, und sei es auch nur durch Überlieferung, solange brauchten sie die Frage nach der Wahrheit nicht zu stellen. [[Paulus]], als er noch Saulus war, vertraute noch ganz auf diese alte Offenbarung. Ein letzter Rest dieser - mittlerweile freilich substanzlos gewordenen - Gesinnung lebt noch in dem [[Wikipedia:1870|1870]] festgeschriebenen [[Wikipedia:Dogma|Dogma]] der [[Wikipedia:Päpstliche Unfehlbarkeit|Päpstlichen Unfehlbarkeit]] für alle [[Wikipedia:ex cathedra|ex cathedra]] verkündigten [[Glaube]]ns- und [[Moral|Sittenlehren]]. Quelle der Wahrheit ist hier nicht der [[Mensch]], aber ein allmächtiger Gott kann nach dem Anspruch dieses Dogmas die Unfehlbarkeit eines Menschen, nämlich des [[Wikipedia:Papst|Papst]]es, bewirken.
 
[[Pilatus]], als er den [[Christus]] verhörte, konnte sich der Wahrheit nicht mehr sicher sein:
 
{{Zitat|33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden?
34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben dir's andere über mich gesagt?
35 Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?
36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt.
37 Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.
38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.|[[Johannesevangelium]]|{{BB|Joh|18|33-38|LUT}}}}
 
Durch [[Luzifer]] war der [[Mensch]] in die [[irdisch]]-[[sinnliche Welt]] versetzt worden. Dadurch kam er zugleich immer mehr in den Einflussbereich [[Ahriman]]s und verfiel dem [[Irrtum]] und der [[Sünde]].


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<div style="margin-left:20px">
"Dadurch, daß der Mensch verfrüht herunterversetzt
"... daß alles dasjenige, was wir als das
worden ist in die irdische Sphäre, daß ihn seine irdischen Interessen
Sein bezeichnen, oder was wir als das Sein den Dingen, den Wesen
und Begierden heruntergedrängt haben, dadurch kam es anders, wie es
beilegen, in einem lebendigen Verhältnis zum Werden steht, und zwar
sonst gekommen wäre in der Mitte der atlantischen Zeit.
in einem eigentümlichen Verhältnis zum Werden. In Wahrheit ist
weder der alte Satz des Parmenides von dem starren Sein, noch der
Satz des Heraklit von dem Werden, wahr. Es ist in der Welt Sein und
Werden, aber nur: Das Werden ist lebendig, das Sein ist immer tot;
und jedes Sein ist ein Leichnam des Werdens. Finden Sie irgendwo ein
Sein, zum Beispiel in der sich um uns ausbreitenden Natur, so antwortet
Ihnen die Geisteswissenschaft darauf: Dieses Sein — lesen Sie
das in der «Geheimwissenschaft» - ist dadurch entstanden, daß einmal
ein Werden war, und dieses Werden hat seinen Leichnam zurückgelassen,
dasjenige, was uns gegenwärtig als Sein umgibt. Das Sein ist
das Tote, das Werden ist das Lebendige!" {{Lit|{{G|176|182}}}}
</div>


Dadurch haben sich hineingemischt in das, was der Mensch hat
Für [[Aristoteles]] ist alles Werden durch das Zusammenspiel von [[Akt und Potenz]] bedingt, indem der verwirklichende Akt die bloße [[Möglichkeit]] (''Potenz'') zum realen [[Sein]] erhebt. Diese Lehre wurde später von [[Thomas von Aquin]] aufgegriffen und im [[christlich]]en Sinn gedeutet. Die [[Urmaterie]], die «[[materia prima]]», ist reine [[Potenz]] und [[Gott]], als die höchste Quelle der [[schöpferisch]]en Aktivität, ist «[[actus purus]]».
sehen und begreifen können, die ahrimanischen Geister, diejenigen
Geister, die eben auch mit dem Namen mephistophelische Geister
bezeichnet werden können. Dadurch verfiel der Mensch in Irrtum,
verfiel in das, was man eigentlich erst die bewußte Sünde nennen
könnte. Also von der Mitte der atlantischen Zeit an wirkt auf den
Menschen die Schar der ahrimanischen Geister ein. Wozu hat nun diese
Schar der ahrimanischen Geister sozusagen den Menschen verführt?
Sie hat ihn dazu verführt, daß er das, was in seiner Umgebung ist,
für stofflich, für materiell hält, daß er nicht durch dieses Stoffliche
hindurchsieht auf die wahren Untergründe des Stofflichen, auf das
Geistige. Würde der Mensch in jedem Stein, in jeder Pflanze und in
jedem Tier das Geistige sehen, er würde niemals verfallen sein in
Irrtum und damit in das Böse, sondern der Mensch würde, wenn nur
die fortschreitenden Geister auf ihn gewirkt hätten, bewahrt geblieben
sein vor jenen Illusionen, denen er immer verfallen muß, wenn er nur
auf die Aussage der Sinneswelt baut." {{Lit|{{G|107|244ff}}}}
</div>


Erst nachdem der Mensch gelernt hatte, sich seines eigenen [[Verstand]]es zu bedienen, der aber eben auch durch den Einfluss [[Ahriman]]s dem [[Irrtum]] unterliegen kann, stellt sich immer wieder die Frage, die auch [[Pontius Pilatus]] stellen musste: „Was ist Wahrheit?“
[[Hegel]] setzte zwar als Anfang das Sein, dem sich aber das Nichts entgegensetzt; die höhere Einheit beider, ihre [[Synthese]], ist das ''Werden''. In seiner [[Wikipedia:Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften|Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften]] schreibt er:


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<div style="margin-left:20px">
"Unter
"'''§86''' Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke als das unbestimmte, einfache Unmittelbare ist, der erste Anfang aber nichts Vermitteltes und weiter Bestimmtes sein kann [...]
den hebräischen Menschen gab es Schriftgelehrte, die aus der Schrift
wußten, was da noch aufbewahrt worden war von der alten Götterweisheit
her. Aus diesen Schriftgelehrten heraus entstand das Urteil,
das den Christus Jesus zum Tode verurteilt hat. Solch ein Mensch wie
Paulus, als er noch Saulus war, sieht also hinauf zu der Urgötterweisheit. Aus der strömt herunter bis zu den Schriftgelehrten seiner Zeit
dasjenige, was diese Götterweisheit dem Menschen geworden ist. Indem
hervorragende Menschen sich hingegeben haben dem Schrifttum,
konnte diese Götterweisheit nur dazu führen, daß gerechte Urteile
gesprochen wurden. Ein Unschuldiger, der zum Kreuzestod verurteilt
wird: unmöglich, unmöglich! wenn sich alles so vollzog, wie es sich
vollzogen hat bei der Verurteilung des Christus Jesus. Nur der römische
Landpfleger Pontius Pilatus, der war schon instinktiv hineinverstrickt
in eine ganz andere Weltanschauung, der konnte das inhaltsvolle
Wort aussprechen: Was ist Wahrheit? - Für Paulus, als er noch
Saulus war, war keine Möglichkeit, auch nur daran zu denken, daß
das, was nach gerechtem Urteile sich vollzogen hat, nicht hätte Wahrheit
sein sollen.
 
Zu welcher Überzeugung mußte sich denn Paulus durchringen? Zu
der Überzeugung, daß bei den Menschen Irrtum sein kann dasjenige,
was einmal von den Göttern als Wahrheit gekommen ist, daß die Menschen
es haben zum Irrtume machen können, zu solch starkem Irrtum,
daß der Schuldloseste durch den Kreuzestod geht.
 
Um ganz klar zu werden, machen wir uns davon eine schematische
Zeichnung:
 
[[Datei:GA211 118.gif|center|500px|GA 211, S 118]]
 
Ursprüngliche Götterweisheit, sie strömt herunter bis zu der Weisheit
der Schriftgelehrten, die die Zeitgenossen des Mysteriums von
Golgatha innerhalb des Hebräertums waren (weiß). Da kann nur die
Wahrheit drinnen sein, so mußte Saulus denken. Aber man mußte anders
denken. Paulus, als er noch Saulus war, sagte sich: Ist das wirklich
der Christus, der Messias, der durch den Kreuzestod gegangen ist, so
muß da drinnen in dieser Strömung (rot) Irrtum sein. Da muß Irrtum
zugemischt sein der Wahrheit, denn der Irrtum muß es sein, der den
Christus ans Kreuz gebracht hat; das heißt, die einstige Götter Wahrheit
muß in den Menschen zum Irrtum geworden sein.
 
Selbstverständlich konnte der Saulus sich nur überzeugen durch die
Tatsache, daß das so ist. Nur der Christus selbst konnte ihn überzeugen,
wenn er ihm erschien, wie das durch das Ereignis von Damaskus
geschehen ist. Was bedeutete das aber für den Saulus? Das bedeutete,
daß eben nicht mehr die alte Götterweisheit war, sondern daß in diese
das [[Ahriman]]ische hereingeströmt war.
 
So kam Paulus dazu, einzusehen, daß die Menschheitsentwickelung
von einem Feinde ergriffen war, und daß dieser Feind der Quell des
Irrtums auf der Erde ist." {{Lit|{{G|211|117ff}}}}
</div>
 
=== Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben ===
{{Textbox|<poem>Ich habe den MENSCHEN gesehn in seiner tiefsten
        Gestalt,
ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.
 
Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn,
und daß ich da, um immer mehr zu lieben, bin.
 
Ich breite die Arme aus, wie ER getan,
ich möchte die ganze Welt, wie ER, umfahn.
                                        <small>Christian Morgenstern<ref>Christian Morgenstern: ''Wir fanden einen Pfad'', Piper, München 1914, S. 52</ref></small></poem>}}
Die Antwort auf die Frage des Pilatus nimmt der Christus schon während des [[Abendmahl|Letzten Abendmahls]] in seinen Abschiedsreden voraus, wie sie im [[Johannesevangelium]] überliefert sind, wenn er sagt: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben». Christus selbst ''ist'' die lebendige Wahrheit, zu der er auch den Weg bereitet - und dieser Weg führt durch den Christus zum [[Vater]], d.h. in das innerste Zentrum und die eigentliche Quelle des höchsten [[Gott|Göttlichen]]. Indem sich der Mensch aus freiem Entschluss auf ganz individuelle Weise mit der Christuskraft durchdringt, im Sinne des Paulinischen Wortes «[[Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir]]» {{Bibel|Gal|2|20|LUT}}, lebt in ihm die Wahrheit.
 
[[File:Christ at Rest, by Hans Holbein the Younger.jpg|mini|340px|[[Wikipedia:Hans Holbein der Jüngere|Hans Holbein der Jüngere]]: ''Christus im Elend'', 1519]]
{{Zitat|1 Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!
2 In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?
3 Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.
4 Und wo ich hingehe, den Weg wisst ihr.
5 Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen?
6 Jesus spricht zu ihm: '''Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben'''; niemand kommt zum Vater denn durch mich.
7 Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.
8 Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater und es genügt uns.
9 Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater! Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater?
10 Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke.
11 Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen.
12 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.
13 Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht werde im Sohn.
14 Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun.|[[Johannesevangelium]]|{{BB|Joh|14|1-14|LUT}}}}
 
=== Ecce homo ===
 
In dem [[Christus Jesus]] ist die Wahrheit erstmals und in vollem Umfang leibhaftig Mensch geworden. Mit vollem Recht spricht Pilatus daher, als er den gegeißelten, blutüberströmten, in den purpurnen Königsmantel gehüllten und mit der [[Dornenkrone]] gekrönten Jesus Christus dem Volk präsentiert, sein [[Ecce homo]] ({{ELSalt|Ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος}} ''idoù ho ánthropos'' „Siehe, der Mensch“) {{Bibel|Joh|19|5|ELB}}.
 
Die Wahrheit erkennen heißt deshalb: ''Christus erkennen!'' Jenen Christus, dessen Wesen die reine Liebe ist, die sich frei verschenkt und darum auch Freiheit schenkt. Und wo immer ein Stück der Wahrheit erkannt wird, wird auch der Christus erkannt.
 
{{LZ|Wenn wir von
»Wahrheit« reden, meinen wir damit einen allgemeinen
Sinnverhalt, nämlich die Tatsache, daß wir irgend
etwas im Lichte der ewigen Wesenheit erkennen. Johannes
aber sagt im Prolog: Das ist ein bloßer Zwischengedanke, der nur bedingt gilt. Im Letzten ist die
Wahrheit Er, der Logos; und Erkennen bedeutet im
Letzen, den Logos, Christus zu erkennen und alle
Dinge in Ihm.|Guardini, S. 103f}}
 
Und weil der Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich ist, ist auch die Wahrheit ''göttlich'' und ''menschlich'' zugleich.
 
== Wahrheitstheorien ==
 
{{Hauptartikel|Wahrheitstheorie}}
 
Im Lauf der [[Philosophiegeschichte]] wurden verschiedene [[Wahrheitstheorien]] entwickelt. Nachstehende Tabelle gibt eine Übersicht über die wichtigsten Ansätze:
 
{| class="wikitable zebra" style="width: 90%; margin-left: 2em; text-align: center;"
!width="20%"|''Position''
!width="38%"|''Wahrheitsdefinition''
!width="20%"|''Wahrheitsträger''
!width="22%"|''Wahrheitskriterium''
|-
|[[Ontologisch-metaphysische Korrespondenztheorie]]
|„Veritas est adaequatio intellectus et rei“<br />Wahrheit ist die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache
|Denken
|Sachen in der Welt
|-
| [[Dialektisch-materialistische Widerspiegelungstheorie]]
|Übereinstimmung zwischen Bewusstsein und objektiver Realität
|Bewusstsein (orthodoxer Marxismus)<br />oder Aussage (moderner Marxismus)
|Praxis<ref name="Wahrheit">Artikel „Wahrheit“. In: Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): ''Philosophisches Wörterbuch.'' 11. Aufl., Leipzig 1975.</ref>
|-
|[[Wikipedia:Wahrheit|Logisch-empiristische Bildtheorie]]
|Übereinstimmung der logischen Struktur des Satzes mit der des von ihm abgebildeten Sachverhalts
|Satzstruktur
|Struktur der Sachverhalte
|-
|[[Semantische Theorie der Wahrheit]]
|„x ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p“ (Für „p“ ist eine beliebige Aussage, für „x“ ein beliebiger Eigennahmen dieser Aussage einzusetzen.)
|Satz (der Objektsprache)
|Diskursuniversum (der Objektsprache)
|-
|[[Redundanztheorie]]
|Der Begriff der Wahrheit wird nur aus stilistischen Gründen verwendet, oder um der eigenen Behauptung Nachdruck zu verleihen.
| Sätze
| –
|-
|[[Wikipedia:Wahrheit|Performative Theorie]]
|das, was man tut, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr
|Handlung / Sprechakt / Selbstverpflichtung
|eigenes Verhalten
|-
|[[Kohärenztheorie der Wahrheit|Kohärenztheorie]]
|[[Widerspruchsfreiheit]] / Ableitungsbeziehungen einer Aussage zum System akzeptierter Aussagen
|Aussage
|Kein Widerspruch von Aussage und bereits akzeptiertem Aussage-System
|-
|[[Konsenstheorie der Wahrheit|Konsensustheorie]]
|[[diskurs]]iv einlösbarer [[Geltungsanspruch]], der mit einem konstativen Sprechakt verbunden ist
|Aussage/Proposition<ref name="Habermas">Jürgen Habermas: ''Wahrheitstheorien''. In: [[Wikipedia:Helmut Fahrenbach|Helmut Fahrenbach]] (Hrsg.): ''Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag''. Neske, Pfullingen 1973, S. 211–265, hier S. 249: „Nur Aussagen können wahr oder falsch sein.“</ref>
|begründeter Konsens unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation<ref name="Habermas" />
|-
|}
 
== Die Wahrheit ist ein freies schöpferisches Erzeugnis des Menschen ==
[[Datei:GA3.jpg|thumb|200px|]]
 
{{Zitat|Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.|Johannes-Evangelium|{{BB|Joh|8|31-32|LUT}}}}
 
[[Rudolf Steiner]]s Wahrheitsbegriff deckt sich in ihrem wesentlichen Kern mit ''keiner'' der genannten [[Wahrheitstheorien]], sondern ist auf die [[schöpfer]]ische [[Freiheit]] des [[Individuum|individuellen]] Menschen gegründet.
 
Für [[Johann Gottlieb Fichte|Fichte]], an den Rudolf Steiner in seiner Dissertation anknüpft, muss die Wahrheit ''„thätig und mit Freiheit hervorgebracht werden, durch Anstrengung und eigne Kraftanwendung“''<ref>Johann Gottlieb Fichte: Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit. In: Johann Gottlieb Fichte: Werke. Bd. 8, S. 351</ref> und besteht letztlich darin, ''mit sich selbst'' übereinstimmend zu denken.
 
{{Zitat|Die Frage ist ja gar nicht, ob wir mit andern, sondern ob wir mit uns selbst übereinstimmend denken. Ist das leztere, so können wir des erstern ohne unser Zuthun, und ohne erst die Stimmen zu sammeln, bey allen denen gewiß seyn, die mit sich selbst in Übereinstimmung stehen; denn das Wesen der Vernunft ist in allen vernünftigen Wesen Eins, und eben dasselbe. Wie andre denken, wissen wir nicht, und wir können davon nicht ausgehen. Wie wir denken sollen, wenn wir vernünftig denken wollen, können wir finden; und so, wie wir denken sollen, sollen alle vernünftige Wesen denken. Alle Untersuchung muß von innen heraus, nicht von aussen herein, geschehen. Ich soll nicht denken, wie andre denken; sondern wie ich denken soll, so, soll ich annehmen, denken auch andre. – Mit denen übereinzustimmend zu seyn, die es mit sich selbst nicht sind, wäre das wohl ein würdiges Ziel für ein vernünftiges Wesen?|Johann Gottlieb Fichte|Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit|ref=<ref>[http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/bibliothek/Philosophie/Fichte/Fichte_Ueber_Belebung_und_Erhoehung_des_reinen_Interesses_fuer_Wahrheit.pdf Johann Gottlieb Fichte: ''Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit'']</ref>}}
 
Wahrheit ist nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern etwas [[Freiheit|frei]] und [[Individualität|individuell]] durch das [[Ich]] zu Schaffendes - diesen Standpunkt hat auch [[Rudolf Steiner]] in seinem [[Philosophie|philosophischen]] Grundlagenwerk «[[Wahrheit und Wissenschaft]]» (1892) vertreten:
 
{{GZ|Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit
nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle
Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies
Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends
existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die
Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts
Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern
die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der
sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle
Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des
Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem
allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese
Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich
abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem
Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger
Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich
wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht,
sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das
Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des
Universums.|3|11f|11}}
 
Rudlof Steiner sieht sich damit im Einklang mit [[Goethe]]:
 
{{GZ|Dem
einzelnen Menschen erscheint die Wahrheit in einem
individuellen Kleide. Sie passt sich der Eigenart seiner
Persönlichkeit an. Besonders für die höchsten, dem Menschen
wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu gewinnen,
überträgt der Mensch seine geistigen, intimsten Erlebnisse auf
die angeschaute Welt und mit ihnen zugleich das Eigenartigste
seiner Persönlichkeit. Es gibt auch allgemeingültige
Wahrheiten, die jeder Mensch aufnimmt, ohne ihnen eine
individuelle Färbung zu geben. Dies sind aber die
oberflächlichsten, die trivialsten. Sie entsprechen dem
allgemeinen Gattungscharakter der
Menschen, der bei allen der gleiche ist. Gewisse
Eigenschaften, die in allen Menschen gleich sind, erzeugen über
die Dinge auch gleiche Urteile. Die Art, wie die Menschen die
Dinge nach Maß und Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher
finden alle die gleichen mathematischen Wahrheiten. In den
Eigenschaften aber, in denen sich die Einzelpersönlichkeit von
dem allgemeinen Gattungscharakter abhebt, liegt auch der
Grund zu den individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit.
Nicht darauf kommt es an, dass in dem einen Menschen die
Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf,
dass alle zum Vorschein kommenden individuellen Gestalten
einem einzigen Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen
Welt. Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen
verschiedene Sprachen und Dialekte; in jedem großen
Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen
Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit,
die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine
eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.» Dies
ist Goethes Meinung.|6|65f|59}}
 
Die „eine einzige Wahrheit“ kann sich nur auf das Vergangene, Gewordene, Tote beziehen - und versagt gegenüber dem [[Leben]]digen.
 
{{GZ|Dasjenige, was in dem gewöhnlichen Sinne des physischen Planes als wahr gilt,
das kann sich im Grunde genommen, wenn wir unter Wahrheit verstehen, die Übereinstimmung
mit dem, was schon ist, nur auf das Vergangene, das heißt auf das Notwendige
beziehen. Was im lebendigen Entstehen ist, das müssen wir immer produzieren.
Darinnen müssen wir leben. Darinnen müssen wir uns gerade aus dem Notwendigen
herausfließende, lebendige Begriffe aneignen gegenüber dem Lebendigen.
Da können wir nicht auf etwas, womit der Begriff übereinstimmt, hinschauen,
sondern nur in dem Begriff selber leben.|163|88}}


Ganz deutlich betonte Rudolf Steiner diesen schöpferischen Charakter des Erkennens auch in dem Ausblick, mit dem seine 1900 veröffentlichen „[[Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert]]“ ausklingen, die später zu „[[Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt]]“ ([[GA 18]]) erweitert wurden:
'''§87''' Dieses reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist [...]


{{LZ|Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten.|Rudolf Steiner: ''Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert'', Berlin 1900, [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url&#61;http://www.odysseetheater.org/ftp/anthroposophie/Rudolf_Steiner/Faksimiles/GA018_1900.pdf#page&#61;370&view&#61;Fit S. 188]}}
'''§88''' Das Nichts ist als dieses unmittelbare, sich selbst gleiche, ebenso umgekehrt dasselbe, was das Sein ist. Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Einheit ist das Werden." {{Lit|Hegel, S 182ff.}}
 
Schon in den «[[GA 1|Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften]]» hatte Rudolf Steiner geschrieben, dass der Mensch zwangsläufig einen offenbaren oder verhüllten [[Anthropomorphismus]] in seine [[Erkenntnis]]tätigkeit hineinträgt, ja, dass dadurch, wenn es in richtiger Weise geschieht, überhaupt erst Erkenntnis möglich wird. Er entfernt sich dadurch keineswegs von der Wirklichkeit, die grundsätzlich nur in einem Subjekt und Objekt übergreifenden Prozess zu erreichen ist:
 
<div style="margin-left:20px">
"Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen
lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über
dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines
Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die
Welt beurteilen. Er muß anthropomorphisch denken. In die
einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoß zweier Körper
bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man
sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper
stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn
man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges
hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen,
das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper
der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen
Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man
vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt
die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber
diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der
Dinge. Und man kann daher nicht sagen, daß der Mensch
die objektive Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne,
weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie
machen kann.<ref>Goethes Anschauungen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz
zur Kantschen Philosophie. Diese geht von der Auffassung aus, daß
die Vorstellungswelt von den Gesetzen des menschlichen Geistes beherrscht
werde und deshalb alles, was ihr von außen entgegengebracht
wird, in ihr nur als subjektiver Abglanz vorhanden sein könne.
Der Mensch nehme nicht das «An sich» der Dinge wahr, sondern die
Erscheinung, die dadurch entsteht, daß die Dinge ihn affizieren und
er diese Affektionen nach den Gesetzen seines Verstandes und seiner
Vernunft verbindet. Daß durch diese Vernunft das Wesen der Dinge
spricht, davon haben Kant und die Kantianer keine Ahnung. Deshalb
konnte die Kantsche Philosophie für Goethe nie etwas bedeuten.
Wenn er sich einzelne ihrer Sätze aneignete, so gab er ihnen einen
völlig anderen Sinn, als sie innerhalb der Lehre ihres Urhebers
haben. Es ist durch eine Notiz, die erst nach Eröffnung des Weimarischen
Goethe-Archivs bekannt geworden ist, klar, daß Goethe den
Gegensatz seiner Weltauffassung und der Kantschen sehr wohl
durchschaute. Für ihn liegt der Grundfehler Kants darin, daß dieser
«das ''subjektive'' Erkenntnisvermögen nun selbst als ''Objekt'' betrachtet
und den Punkt, wo ''subjektiv'' und ''objektiv'' zusammentreffen,
zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert». Subjektiv und objektiv
treten zusammen, wenn der Mensch das, was die Außenwelt ausspricht,
und das, was sein Inneres vernehmen läßt, zum ''einigen'' Wesen
der Dinge verbindet. Dann hört aber der Gegensatz von subjektiv
und objektiv ganz auf; er verschwindet in der geeinten Wirklichkeit.
Ich habe darauf schon hingedeutet in dieser Schrift S. 218 ff.
Gegen meine damaligen Ausführungen polemisiert nun K. ''Vorländer''
im 1. Heft der «Kantstudien». Er findet, daß meine Anschauung
über den Gegensatz von Goethescher und Kantscher Weltauffassung
«mindestens stark einseitig und mit klaren Selbstzeugnissen
Goethes in Widerspruch» sei und sich «aus dem völligen Mißverständnis
der transzendentalen Methode» Kants von meiner Seite
erkläre. ''Vorländer'' hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in
der Goethe lebte. Mit ihm zu polemisieren würde mir gar nichts
nützen, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Wie klar sein
Denken ist, zeigt sich darin, daß er bei meinen Sätzen nie weiß, was
gemeint ist. Ich mache z. B. eine Bemerkung zu dem Goetheschen
Satze: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr
wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn
es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder
mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder
schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist . . . Ein weit
schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb
nach Kenntnis die Gegenstände der Natur ''an sich selbst'' und in
ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt, sie suchen
und untersuchen, was ist, und nicht was behagt.» Meine Bemerkung
lautet: «Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der
entgegengesetzte Pol der Kantschen ist. Für Kant gibt es überhaupt
keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich sind, sondern nur wie
sie in bezug auf uns ''erscheinen''. Diese Ansicht läßt Goethe nur als
ganz untergeordnete Art gelten, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
zu setzen.» Dazu sagt ''Vorländer'': «Diese (Worte Goethes) wollen
weiter nichts als einleitend den trivialen Unterschied zwischen dem
Angenehmen und dem Wahren auseinandersetzen. Der Forscher soll
suchen, <''was ist'' und nicht was ''behagt''>. Wer, wie Steiner, die letztere
allerdings sehr untergeordnete Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
zu setzen, als diejenige Kants zu bezeichnen wagt, dem ist zu
raten, daß er sich erst die Grundbegriffe der Kantschen Lehre, z. B.
den Unterschied von subjektiver und objektiver Empfindung, etwa
aus § 3 der Kr. d. U. klarmache.» Nun habe ich durchaus nicht, wie
aus meinem Satze klar hervorgeht, gesagt, daß jene Art, sich zu den
Dingen in ein Verhältnis zu setzen, die Kants ist, sondern daß Goethe
die Kantsche Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt
nicht entsprechend dem Verhältnis findet, in dem der Mensch
zu den Dingen steht, wenn er erkennen will, wie sie an sich sind.
Goethe ist der Ansicht, daß die Kantsche Definition nicht dem
menschlichen Erkennen, sondern nur dem Verhältnisse entspricht,
in das sich der Mensch zu den Dingen setzt, wenn er sie in bezug auf
sein Gefallen und Mißfallen betrachtet. Wer einen Satz in einer solchen
Weise mißverstehen kann wie ''Vorländer'', der mag es sich ersparen,
andern Leuten Ratschläge zu geben über ihre philosophische
Ausbildung, und lieber erst sich die Fähigkeit aneignen, einen Satz
richtig ''lesen'' zu lernen. Goethesche Zitate aufsuchen und sie historisch
zusammenstellen kann jeder; sie im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung deuten, kann jedenfalls ''Vorländer'' nicht.</ref> Von einer andern als einer subjektiven
menschlichen Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn
Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven
Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven
Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter
annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren
Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen,
was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder
Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas in
gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich
mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern,
der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz
zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle
Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur
darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente
der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken
eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen
oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder
seiner Individualität ansehen. «Diejenigen, welche
widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, daß
nicht jede Sprache jedem verständlich sei» (Natw. Schr.,
4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine
allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert
die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er
die äußeren Erscheinungen deutet.
 
Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes
seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit
nur durch den Zusammenfluß des äußeren Objektiven
und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges
Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt
der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges
in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst
durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen
hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil
der Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung
anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß
die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw.
Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon
Theorie», d. h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein
Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung,
die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt
und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen
der Dinge, ist nicht ''[[Mystik]]''. Sie hat aber mit der Mystik das
gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in
der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas,
das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt.
Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe
der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen
Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich
einem blinden ''[[Glauben]]'' an diese Gründe hingeben, der von
einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält,
oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen,
wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen
ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen
Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein
Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab,
und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem
Menschen selbst ausspricht." {{Lit|{{G|1|335ff|335}}}}
</div>
</div>


== Subjekt und Objekt ==
Hegels [[dialektisch]]en Ansatz erläutert Steiner so:
{{Textbox|<poem><center><small>Johann Wolfgang Goethe</small>
Vermächtnis</center>
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebendgen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
 
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn,
 
Sofort nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
 
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.
 
Genieße mäßig Füll und Segen;
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendige
Der Augenblick ist Ewigkeit.
 
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr –
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
 
Und wie von alters her, im stillen,
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf. <small><ref>Goethe: ''Gedichte - Ausgabe letzter Hand 1827'', Goethe-BA Bd. 1, 541 [http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Gedichte/Gedichte+%28Ausgabe+letzter+Hand.+1827%29/Gott+und+Welt/Verm%C3%A4chtnis]</ref></small></poem>}}
 
Tatsächlich lässt sich der Begriff der Wahrheit nur im [[Subjekt]] und [[Objekt]] übergreifenden, [[individuell]]en Bezug auf die [[Wirklichkeit]] sinnvoll formulieren, womit aber keineswegs ein willkürlicher [[Relativismus]] begründet wird. Der [[Quantenchemiker]] [[Hans Primas]] schreibt dazu:
 
{{LZ|In der von
René Descartes (1596 - 1650) begründeten
Philosophie zerlegt das Subjekt die Welt in
einfache Sachverhalte und betrachtet die objektive
Welt einfach als Summe dieser elementaren
Sachverhalte. Dagegen steht in der
Quantenmechanik so etwas wie ein «[[Ding an sich]]» nicht mehr zur Diskussion. Ein Subjekt
ist ein Subjekt, weil es in Relation zu einem
Objekt steht. Ein Objekt ist ein Objekt, weil
es in Relation zu einem Subjekt steht. Das bisher
übliche Kompartimentalisierungsdenken
muß aufgegeben werden. Die Quantenmechanik
beschreibt die materielle Welt primär als
ein unteilbares Ganzes; das Heraustrennen
einzelner Objekte bedarf einer Rechtfertigung,
welche prinzipiell außerhalb der Prinzipien
der Quantenmechanik liegt.
 
In jeder ganzheitlichen Theorie kann man
über ein Phänomen in Klarheit und Deutlichkeit
nur sprechen, wenn man zugleich den
[[Kontext]] angibt, von dem aus es bestimmt ist.
Isolierte «Fakten» beweisen wenig, sie erlangen
ihren Beweiswert erst durch die Angabe
des Kontexts, in dem sie beobachtet wurden.
Jeder Kontext hat seine implizierten Vorgaben,
die wir als Bezugspunkte zur Beschreibung
der Natur auswahlen. Entscheidet man
sich für andere Vorgaben, so wählt man einen
anderen Kontext mit anderer Perspektive, so
daß die Natur anders gesehen wird.|Primas, S. 114f.}}
 
Ähnlich dachte schon [[Johann Wolfgang von Goethe]]:


<div style="margin-left:20px">
<div style="margin-left:20px">
"In monumentaler Weise hat Goethe den Gesichtspunkt der höchsten [[Erkenntnis]] in den Worten angedeutet:
"Der Begriff, der den geringsten Inhalt und
 
den größten Umfang hat, ist der Begriff des Seins. Er ist in der Tat
«Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.»<ref name=goethe>Goethe: ''Maximen und Reflexionen'' (1923){{Zeno-Werk|http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Aphorismen+und+Aufzeichnungen/Maximen+und+Reflexionen/Aus+%C2%BBKunst+und+Altertum%C2%AB/Vierten+Bandes+zweites+Heft.+1823|Maximen und Reflexionen, 4. Band, 2. Heft (1823)|Johann Wolfgang Goethe}}</ref>
derjenige Begriff, der im ganzen Umkreis unserer Welt anwendbar
 
ist, er hat den größten Umfang und den geringsten Inhalt. Wenn wir
Jeder hat seine eigene Wahrheit: weil jeder ein individuelles, besonderes Wesen neben und mit anderen ist. Diese anderen Wesen wirken auf ihn durch seine Organe. Von dem individuellen Standpunkte aus, auf den er gestellt ist, und je nach der Beschaffenheit seines Wahrnehmungsvermögens bildet er sich im Verkehr mit den Dingen seine eigene Wahrheit. Er gewinnt sein Verhältnis zu den Dingen. Tritt er dann in die Selbsterkenntnis ein, lernt er sein Verhältnis zu sich selbst kennen, dann löst sich seine besondere Wahrheit in die allgemeine Wahrheit auf; diese allgemeine Wahrheit ist in allen dieselbige.
vom Sein schlechtweg sprechen, ist nichts ausgesagt von der Art des
 
Seins. Von dem Begriff des Seins geht Hegel aus. Nun fragt es sich:
Das Verständnis für die Aufhebung des Individuellen,
Wie kommt man hinaus über diesen Begriff des Seins ? Wir können
des einzelnen Ich zum All-Ich in der Persönlichkeit betrachten
nicht stehenbleiben bei diesem Begriff, sonst bekommen wir kein
tiefere Naturen als das im Innern des Menschen sich
Begriffssystem. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein Begriffssystem
offenbarende Geheimnis, als das Ur-Mysterium des Lebens.
zu gewinnen, indem wir Begriff aus Begriff herauswachsen
Auch dafür hat ''Goethe'' einen treffenden Ausspruch
lassen. Wie finden wir einen Anhaltspunkt dazu? Diesen Anhaltspunkt
gefunden: «Und so lang du das nicht hast,dieses: Stirb
finden wir eben in der dialektischen Methode, und zwar
und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen
wenn wir uns darüber klar werden, wie ein jeder Begriff in sich selber
Erde.»
noch etwas anderes enthält, als das, als was er zunächst erscheint.
Es ist mit dem Begriff wie mit einer Wurzel. Die Wurzel
enthält eigentlich die ganze Pflanze, die noch nicht herausgewachsen,
sondern noch in ihr drinnen ist. Wenn wir die Wurzel anschauen,
haben wir noch nicht alles, was da ist. Die Pflanze selber, die
drin ist in der Wurzel, sehen wir nicht. Wenn wir nur mit äußeren
Augen die Wurzel anschauen, sehen wir gerade nicht, was die Pflanze
aus der Wurzel heraustreibt. So steckt auch in jedem Begriff etwas
drin, was aus ihm herauswachsen kann, ebenso wie in der Wurzel etwas
steckt, was aus ihr herauswachsen kann, und zwar steckt im Begriff
des Seins das Gegenteil, das Nichts drin. Wenn wir den Begriff
des Seins fassen, so umfaßt er alles Mögliche, was in der sinnlichen
und in der übersinnlichen Welt auftauchen kann. Dadurch, daß er
alles umfaßt, umfaßt er zugleich das «Nichts». Das «Nichts» steckt
darinnen im «Sein», es sproßt heraus aus dem «Sein». Wenn wir das
«Sein» innerlich betrachten, so sehen wir hier schon den Begriff des
«Nichts» aus dem Begriff des «Seins» herauswachsen. Wenn wir uns
eine Vorstellung von dem Begriff des Nichts machen wollen, so ist
das ebenso schwer als es wichtig ist. Viele Leute, auch Philosophen,
werden sagen, es sei überhaupt unmöglich, sich von dem Nichts eine
Vorstellung zu machen. Das ist aber etwas, was innerhalb der Begriffswelt
für den Anthroposophen ungeheuer wichtig ist, und es
wird eine Zeit kommen, wenn die Anthroposophie mehr eingehen
wird auf die Begriffe, da wird viel davon abhängen, daß gerade der
Begriff des «Nichts» in der richtigen Weise gefaßt wird. Es leidet die
Theosophie daran, daß der Begriff des «Nichts» unklar gefaßt wird.
Deshalb ist ja die Theosophie zu einer Art «Emanationslehre» geworden,
[Lücke in der Nachschrift] so als ob das Spätere aus dem
Früheren hervorgegangen sei.


Nicht eine gedankliche Wiederholung, sondern ein reeller
Denken Sie sich selbst einer äußeren Wirklichkeit gegenübergestellt,
Teil des Weltprozesses ist das, was sich im menschlichen
zum Beispiel zwei Menschen, und betrachten Sie diese nach
Innenleben abspielt. Die Welt wäre nicht, was sie ist, wenn
einem Gesichtspunkt, der nur von Ihnen selbst abhängt. Und betrachten
sich das zu ihr gehörige Glied in der menschlichen Seele
Sie zum Beispiel zwei Menschen, einen großen und einen
nicht abspielte. Und nennt man das höchste, das dem Menschen
kleinen, und denken Sie sich etwas über sie aus, bilden Sie sich einen
erreichbar ist, das Göttliche, dann muß man sagen,
Begriff, der nie gefaßt worden wäre, wenn Sie ihnen nicht gegenübergetreten
daß dieses Göttliche nicht als ein Äußeres vorhanden ist,
wären. Es ist ganz gleich, was Sie sich da über diese beiden
um ''bildlich'' im Menschengeiste wiederholt zu werden, sondern
Menschen denken, aber der Begriff wäre nicht gefaßt worden,
daß dieses Göttliche im Menschen ''erweckt'' wird. Dafür
wenn sie Ihnen nicht gegenübergetreten wären. Nehmen wir an, die
hat [[Angelus Silesius]] die rechten Worte gefunden: «Ich
beiden hätten in Amerika gelebt, dann wären Sie als Europäer ihnen
weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd'
niemals begegnet. Dadurch aber, daß Sie ihnen begegnet sind,
ich zu nicht, er muß von Not den Geist aufgeben.» «Gott
ist der Begriff «groß» und «klein» in Ihnen aufgetaucht. Es liegt also
mag nicht ''ohne mich'' ein einzig's Würmlein machen:
nicht an Ihnen, daß sich der Begriff des großen und des kleinen Menschen
erhalt' ich's nicht mit ihm, so muß es stracks zerkrachen.»
gebildet hat; Sie werden in sich selbst nichts finden, das zu Ihrem
Eine solche Behauptung kann nur der machen, welcher
Begriff von «groß» und «klein» hätte führen müssen. Auf der
voraussetzt, daß im Menschen etwas zum Vorschein
anderen Seite werden Sie die Urgründe, die zu dem Begriff hätten
kommt, ohne welches ein äußeres Wesen nicht existieren
führen müssen, auch in den beiden Menschen nicht finden. Sie mußten
kann. Wäre alles, was zum «Würmlein» gehört, auch ohne
erst den beiden Menschen gegenübertreten. So also liegt es nicht
den Menschen da, dann könnte man unmöglich davon sprechen,
an Ihnen, was sich da als Begriff gebildet hat, und es liegt auch nicht
daß es «zerkrachen» müßte, wenn der Mensch es
an dem großen oder kleinen Menschen; es ist etwas, was rein durch
nicht erhielte.
die Beziehung der Dinge zueinander, durch ihre Konstellation herbeigeführt
worden ist. Jetzt aber wird dieser Begriff, der aus dem
Nichts entstanden ist, ein Faktor, der in Ihnen fortwirkt. Sie können
es sich nicht anders denken, als daß dieser Begriff aus dem
Nichts durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch die Konstellation
hervorgehen kann. Aus der Beziehung, aus der Konstellation
bildet so eine fortwährende Kraft etwas heraus, was dann fortwirkt.
Das heißt, es entsteht ein Etwas aus dem Nichts. Das Nichts
ist so durchaus ein reeller Faktor im Weltengeschehen, und Sie können
dieses Weltengeschehen nie begreifen, wenn Sie das Nichts in
dieser realen Bedeutung nicht erfaßt haben. Sie würden auch den Begriff
des «Nirwana» besser verstehen, wenn Sie einen klaren Begriff
vom Nichts hätten, wenn Sie einmal über den Begriff des Nichts
meditiert hätten, was etwas durchaus Wirksames ist.


Als geistiger Inhalt kommt der innerste Kern der Welt
Wir haben also aus dem Begriff des Seins den Begriff des Nichts
in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erleben der Selbsterkenntnis
herausgesponnen. Den nächsten Begriff findet man nun dadurch,
bedeutet für den Menschen Weben und Wirken
daß man diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Wenn man
innerhalb des Weltenkernes." {{Lit|{{G|7|33f|33}}}}
«Sein» und «Nichtsein» miteinander verbindet, entsteht das «Werden
». Das «Werden» ist ein reicherer Begriff, der die beiden anderen
schon in sich enthält. «Werden» ist ein fortwährender Übergang
von Nichtsein zu Sein, das Vorhergehende vergeht, das Folgende
entsteht. So haben Sie in dem Begriff «Werden» das Spiel der beiden
Begriffe «Sein» und «Nichts». Von dem Begriff des Werdens ausgehend
kommen Sie dann zu dem Begriff «Dasein». Es ist das, was als
das Nächste an das Werden sich anschließt: das Starrwerden des
Werdens ist das «Dasein», ein abgeschlossenes Werden. Dem «Dasein» muß ein Werden vorangehen. Was haben wir nun davon,
wenn wir solche vier Begriffe innerlich uns ausgestaltet und sie so
gewonnen haben? Wir haben sehr viel davon. Wir denken nun bei
dem Begriff des Werdens nichts anderes, als was wir hier als Inhalt
das Begriffs kennengelernt haben. Wir müssen alles ausschließen,
was nicht zu dem Begriff gehört. Wer richtig dialektisch geschult ist,
der hat, wenn von «Werden» gesprochen wird, in diesem Begriff
nichts anderes als das Ineinanderspielen von «Sein» und «Nichts».
Wenn der dialektisch geschulte Denker vom «Werden» spricht, so
ist das ein ebenso bestimmter Begriff, wie wenn er von dem Begriff
«Dreieck» spricht. So ist die Dialektik gerade die wunderbarste
Zucht des Denkens." {{Lit|{{G|108|247ff}}}}
</div>
</div>


Oder wie es [[Johannes Scottus Eriugena]] mit dem Hinweis auf [[Dionysius Areopagita]] ausdrückt:
Der Begriff des ''Werdens'' steht im Gegensatz zu dem des ''Gewordenen''. Ersterer bezieht sich primär auf die lebendige Welt des [[Äther]]ischen, letzterer auf die [[physische Welt]], die das Insgesamt des Gewordenen darstellt. Um einen wirklichkeitsgemäßen Begriff des Werdens zu fassen, genügt es nicht, Veränderungen des Gewordenen aus dem gesetzmäßigen Zusammenwirken von Teilelementen des Gewordenen abzuleiten. Damit kommt man aus dem Bereich des Gewordenen nicht heraus; das Gewordene bleibt ein Gewordenes, auch wenn es sich im [[Zeit]]enlauf gesetzmäßig verändert. Erst dort, wo etwas in den Bereich des Gewordenen hereintritt, das zuvor nicht vorhanden war und auch nicht aus dem Vorhandenen abgeleitet werden kann, beginnt das lebendige Werden. Das Ätherische, das die Quelle des Werdens ist, erscheint aber aus der Sicht des [[Physisch]]en als ''Nichts'', als etwas nicht Vorhandenes, nicht [[Dasein|Daseiendes]]. Der Begriff des Werdens leitet zu dem der ''Schöpfung aus dem Nichts'' über, allerdings noch nicht im absoluten Sinn. Schreitet man nämlich vom Ätherischen weiter zum [[Astralisch]]en, so erscheint das Ätherische, allerdings nun in einem höheren und lebendigeren Sinn, ebenfalls wieder als etwas Gewordenes. Ähnlich ist es, wenn man vom Astralischen zum [[Geist]]igen vordringt; dann erscheint selbst das Astralische als etwas Geschaffenes. Erst im Geistigen selbst hat man die [[wahr]]e Quelle alles Werdens. Das Geistige entsteht aus nichts anderem, als aus sich selbst. Erst im Geistigen haben wir es mit einem reinen Schaffen zu tun, das auf kein Geschaffenes mehr zurückgreift. Hier erst verwirklicht sich die [[Schöpfung aus dem Nichts]] im absoluten Sinn.
 
{{Zitat|Denn die Gedanken der Dinge sind wahrhaft die Dinge selbst, wie der heilige Dionysius sagt: „die Erkenntnis des Seienden ist das Seiende selbst;“ aber ihre uranfänglichen Ursachen und Gründe werden durch Denktätigkeit, nicht durch die Dinge selbst zur Vereinigung geführt.|Johannes Scottus Eriugena|''Über die Einteilung der Natur''|ref=<ref>Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): ''Über die Eintheilung der Natur'', Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 133f [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/bibliothek/Philosophie/Johannes_Scotus_Erigena/Johannes_Scotus_Erigena_Ueber_die_Einteilung_der_Natur.pdf#page=140&view=Fit]</ref>}}
 
Die [[Subjekt-Objekt-Spaltung]], ohne die unser [[Ich-Bewusstsein]] nicht möglich wäre, durch die sich aber die Wahrheit zunächst unter dem Schleier der Objekte verhüllt, wird durch das [[Ich]] auf jeweils [[individuell]]e Weise hervorgerufen und kann auch nur durch das individuelle Ich wieder enthüllt werden. Indem im [[Erkenntnis]]akt die Wahrheit aufleuchtet, wird die durch unser [[Ich-Bewusstsein]] aufgerissene Kluft zwischen [[Ich]] und Welt wieder überwunden.
 
Mit dem an [[Sinne]] gebundenen [[Verstand]] stehen wir den Dingen ''gegenüber'', wir sind von ihnen getrennt. Wir sehen sie nur von außen und sie bleiben uns dadurch letztlich fremd. So ist es nicht in der wahren [[Erkenntnis]], wie auch die [[Gnosis|Gnostiker]] betonen. Hier ist die Trennung aufgehoben. Wir ''werden'' selbst, was wir erkennen - und darum ist ''diese'' Subjekt und Objekt übergreifende Erkenntnis zugleich immer auch ''wahre'' [[Selbsterkenntnis]]. Im [[apokryphen]] [[Valentinianer|valentinianischen]] [[Philippusevangelium]] heißt es entsprechend:
 
{{Zitat|Niemand kann etwas Unvergängliches wahrnehmen,
außer er wird selbst unvergänglich.
 
Es ist mit der Wahrheit nicht so wie auf der Welt,
wo der Mensch die Sonne sieht, ohne selbst Sonne zu
sein, wo er den Himmel sieht und die Erde und alles
Übrige, ohne selbst Himmel, Erde und dergleichen zu
sein. Sondern im Reich der Wahrheit siehst du etwas
von ihr und wirst selbst zu ihr. Du siehst den Geist
und wirst selbst zu Geist. Du siehst Christus: du wirst
Christus. Du siehst den Vater: du wirst zum Vater.
Hier auf dieser Welt also siehst du alle Dinge, siehst
aber dich selbst nicht. In der anderen Welt jedoch
siehst du dich selbst. Denn was du dort siehst, das
wirst du selbst.|[[Philippusevangelium]]|Spruch 44|ref=&nbsp;<ref>Dietzfelbringer, S. 107</ref>}}
 
Oder wie es der [[Wikipedia:österreich|österreich]]ische Arbeiterdichter [[Alfons Petzold]] poetisch ausdrückte:
 
{{Zitat|vor=|nach=|<poem>;ICH BIN DIE WELT
Der Erde Dasein ist in mir begründet,
ich bin ihr Raum und bin auch ihre Zeit,
und was der Tag an Kraft in mir entzündet,
das nimmt sie auf in ihre Ewigkeit.
 
Ich bin die Welt, in meinem Pulsgetriebe
sagt dies mir laut und deutlich jeder Schlag,
und was mich ewig macht, das ist die Liebe,
mit der ein Gott erschuf den ersten Tag.</poem>|Alfons Petzold|''Pfad aus der Dämmerung'', Wien 1947}}
 
== Die lebendige Wahrheit lebt im [[Ätherleib]] ==
 
Mit dem an das Werkzeug des [[physisch]]en [[Gehirn]]s gebundenen [[Verstand]]esdenken lassen sich nur ''tote'' Wahrheiten erfassen, die sich auf das bereits Gewordene beziehen, das bereits mehr oder weniger fertig in der Welt vorhanden ist. Zwar lassen sich auf diese Weise mannigfaltigste gesetzmäßige Beziehungen zwischen den einzelnen [[Erscheinung]]en der gewordenen Welt erhellen und in logisch zusammenhängender Weise darstellen, was durchaus zur [[Erkenntnis]] der [[Physische Welt|physischen Welt]] notwendig ist, doch bleibt die Erkenntnis dennoch unvollständig, solange das heute fertig Gewordene nicht in seinem ursprünglichen [[Werden]], aus dem es einst hervorgegangen ist, erfasst wird. Zwar lassen sich mit dem Verstandesdenken auch Veränderungen des bereits Gewordenen, das durchaus nicht starr und unveränderlich gedacht werden muss, beschreiben, in dem sie auf das gesetzmäßige Zusammenwirken einzelner Teilelemente des Gewordenen bezogen werden, doch ist damit das eigentliche ''lebendige'' Werden noch nicht erfasst. Man bleibt immer noch bei der bloßen Kombination fertiger ''toter'' Elemente stehen. Wahres Werden ist erst dort gegeben, wo etwas völlig Neues, zuvor noch nicht Vorhandenes und auch nicht aus bereits Vorhandenem Ableitbares gleichsam aus dem [[Nichts]] entsteht. Solange das lebendige Werden nicht begriffen wird, bleibt auch das Gewordene seinem eigentlichen Ursprung nach unverständlich, so wie der Leichnam unverständlich bleibt, solange er nicht als das Ergebnis eines ehemals Lebendigen erkannt wird. Die volle Wahrheit, die das lebendige Werden mit umfasst, kann erst durch die lebendige Tätigkeit des [[Ätherleib]]s ergriffen werden:  


<div style="margin-left:20px">
Das Nichts, als Gegensatz des Seins, ist eben nicht einfach ''nichts'', sondern hat seinen Ursprung im [[Unendlichen]], Unbeschränkten, Unbegrenzten, das sich eben durch seine völlige Grenzenlosigkeit und Unbestimmbarkeit grundsätzlich jeder [[Erkenntnis]]möglichkeit entzieht, aus dem aber letzlich ''ohne'' kausale Ursache und daher in völliger [[Freiheit]] ''alles'' entstehen kann. Das ''Nichts'' und das ''unbeschränkt Unendliche'' sind derart identisch. In diesem Sinn ist etwa das [[Ain Soph]] ([[Hebräische Sprache|hebr.]]אין סוף, ''nicht endlich'') in der [[Kabbala|kabbalistischen]] [[Mystik]] aufzufassen oder das [[Apeiron]] ([[Wikipedia:Griechische Sprache|griech.]] άπειρον, ''das Unendliche'', ''das Unbegrenzte'') des [[Wikipedia:Anaximander|Anaximander]] (um 610–546 v. Chr), das für ihn die [[Arché]], der Ursprung ist, aus dem die ganze Welt entstand. Dem entspricht auch das [[Nirvana]] als der wahren Quelle allen aktiven [[Sein]]s, aus der die ''Schöpfung aus dem Nichts'' entspringt. Aus dieser Quelle stammt und schöpft auch das [[mensch]]liche [[Ich]], der schöpferische Funke in uns, und darum liegt es im [[Wesen]] des [[Mensch]]en, ein stets Werdender zu sein.
"Indem die Wahrheit in Form der Gedanken im Menschen lebt, lebt sie im
ätherischen Leib. Wahrheit erfaßt unmittelbar den Ätherteil des Kopfes und überträgt
sich da natürlich als Wahrheit auf den physischen Teil des Kopfes." {{Lit|{{G|170|72}}}}
</div>


<div style="margin-left:20px">
<div style="margin-left:20px">
"Das Wahre nimmt man eigentlich erst dann wahr, wenn es einem gelingt, die Urteile so
"Denn Geisteswissenschaft kann nicht anders, als den Menschen darauf
zu erfassen, daß man sie losbekommt vom physischen Leibe, daß man den Ätherleib
verweisen, daß man fortwährend etwas werden muß, daß man nicht
losbekommt vom physischen Leibe. Das erste Hellsehen ist schon das wirklich reine
irgend etwas durch dies oder jenes fertig sein kann. Der Mensch
Denken. Derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist schon hellsehend. Nur ist
täuscht sich in furchtbarster Weise über sich selbst, wenn er glaubt,
das gewöhnliche menschliche Denken eben kein reines Denken, sondern ein von
auf etwas Absolutes hinweisen zu können, was bei ihm irgendeine besondere
sinnlichen Vorstellungen, von Phantasmen erfülltes Denken. Aber derjenige, der einen
Vollkommenheit bedingt. Alles, was nicht im Werden ist, bedingt
reinen Gedanken faßt, ist eigentlich schon hellsehend, denn der reine Gedanke
beim Menschen eine Unvollkommenheit und nicht eine Vollkommenheit." {{Lit|{{G|186|94}}}}
kann nur im Ätherleibe gefaßt werden." {{Lit|{{G|176|116}}}}
</div>
</div>


<div style="margin-left:20px">
<div style="margin-left:20px">
"Weil der Mensch mit seinem Bewußtsein nicht so untertaucht in seinen Ätherleib, kommt ihm die Wahrheit als etwas
"... der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen, er ist ein Wesen im
Fertiges vor. Das ist gerade das Bestürzende, das Überraschende der [[Initiation]], daß man beginnt, die Wahrheit, wie sie da hineinpulst in den Ätherleib, als etwas ebenso Freies zu empfinden, wie man sonst das Hereinpulsieren der Moralität empfindet
Werden. Und je mehr er wird, je mehr er sich selbst in die Möglichkeit
oder der Schönheit in den astralischen Leib. Das ist dieses Bestürzende, Überraschende
versetzt, zu werden, desto mehr erfüllt er gewissermaßen hier im
aus dem Grunde, weil es den Menschen, der irgendeine Initiation durchgemacht
physischen Lebenslaufe schon seine wirkliche Aufgabe. Diejenigen
hat, in ein viel freieres Verhältnis zur Wahrheit bringt, und dadurch in ein
Menschen, die starr bleiben, die abgeneigt sind, eine Entwickelung
viel verantwortungsvolleres Verhältnis zur Wahrheit. Tritt die Wahrheit ganz unbewußt
durchzumachen, entwickeln wenig von dem, was eigentlich ihre
in uns herein, dann ist sie fertig, und dann sagen wir einfach mit der gewöhnlichen
irdische Mission ist. Was Sie gestern waren, sind Sie heute nicht mehr,
Logik: das ist wahr, das ist unwahr. Dann hat man ein viel geringeres Verantwortlichkeitsgefühl
und was Sie heute sind, werden Sie morgen nicht mehr sein. Es sind
gegenüber der Wahrheit, als wenn man weiß, daß die Wahrheit
das allerdings kleine Nuancen. Wohl dem, bei dem es überhaupt
geradeso im Grunde abhängig ist von tiefliegenden Sympathie- und Antipathiegefühlen
Nuancen sind, denn das Stehenbleiben ist [[ahrimanisch]]. Nuancen sollten
wie die Moralität und wie die Schönheit, so daß man ein gewisses freies Verhältnis
da sein. Es sollte wenigstens gewissermaßen im Leben des Menschen
zur Wahrheit hat. Hier liegt ein subjektives Mysterium vor, das sich darin
kein Tag vor sich gehen, ohne daß er wenigstens einen Gedanken
äußert, daß manche, die nicht in richtiger, würdiger Weise sich dem Erlebnis der Initiation
in sich aufnimmt, der ein wenig sein Wesen ändert; der ein
nähern, an ihrem Wahrheitsgefühl nicht so gewinnen, daß sie ein größeres
wenig ihn in die Möglichkeit versetzt, ein werdendes Wesen, nicht
Verantwortlichkeitsgefühl, das sie gegenüber der aufgezwungenen Wahrheit haben,
bloß ein seiendes Wesen zu sein." {{Lit|{{G|187|45f}}}}
verlieren und in ein gewisses unwahres Element hineinkommen." {{Lit|{{G|170|72f}}}}
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== Der Ursprung der Wahrheit auf der [[Alte Sonne|alten Sonne]] ==
== Literatur ==


Wahrheit, [[Schönheit]] und [[Güte]] sind die drei großen [[Tugend]]en des [[Eingeweihter|Eingeweihten]], der in dieser Beziehung nur den anderen Menschen beispielgebend voranschreitet, damit sie sich diese Tugenden auch einmal im vollen Umfang erwerben. Die Anlage zu diesen Tugenden haben wir bereits in der Vergangenheit zu suchen, allerdings sind sie sehr unterschiedlichen Alters. Da die Wahrheit im [[Ätherleib]] lebt, müssen wir ihren Ursprung dort suchen, wo der Ätherleib des Menschen entstanden ist. Die erste Anlage des menschlichen Ätherleibs wurde auf der [[Alte Sonne|alten Sonne]] als Gabe der [[Geister der Weisheit]] gebildet. Damals wurde auch die Wahrheit veranlagt und sie ist damit die älteste der drei genannten Tugenden; die Schönheit geht auf das [[Alter Mond|alte Mondendasein]] zurück, wo sich zugleich die Wahrheit weiter bis zur [[Weisheit]] geläutert hat, und der Sinn für das [[Gute]] wird erst auf der [[Erde (Planet)|Erde]] entwickelt:
* [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel]]: ''Werke. Band 8'', Frankfurt a. M. 1979
 
* [[Heraklit]]: Fragment 49a [[Wikipedia:Die Fragmente der Vorsokratiker|DK]], Übersetzung nach Wilhelm Capelle, ''Die Vorsokratiker'', S 132
<div style="margin-left:20px">
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie'', [[GA 108]] (1986), ISBN 3-7274-1081-7 {{Vorträge|108}}
"So steht der Mensch zum Wahren, Schönen, Guten. Im Wahren öffnet er seinen Ätherleib, zunächst den Ätherteil des Kopfes, unmittelbar dem Kosmos. Im Schönen öffnet er seinen astralischen Leib unmittelbar dem Kosmos. In der Moralität öffnet er unmittelbar sein Ich dem Kosmos. Im Wahren - wir werden diese Dinge morgen weiter ausführen und dann auch die Gesetze des Lebens zwischen Geburt und Tod und auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt anführen -, im Wahren haben wir etwas, was am längsten schon vorbereitet ist für den Menschen. Im Schönen haben wir etwas, was verhältnismäßig kürzer vorbereitet ist; und im Moralischen haben wir etwas, was erst jetzt auf der Erde seinen Anfang nimmt. Was in der Wahrheit lebt, die sich zur Weisheit läutert, nimmt eigentlich schon während der Sonnenentwickelung seinen ersten Anfang, hat dann in einer gewissen Weise seinen Höhepunkt in der Mondenentwickelung, lebt sich weiter ein in der Erdenentwickelung, und wird im wesentlichen schon vollendet sein bei dem, was wir als die Jupiterentwickelung kennen. Da wird das menschliche Wesen mit Bezug auf den Inhalt der Weisheit einen gewissen vollen Abschluß erlangt haben. Schönheit - was eine sehr innerliche Sache für den Menschen ist - nimmt ihren Anfang während der Mondenentwickelung, setzt sich während der Erdenentwickelung fort, wird den Abschluß erlangen während der Venusentwickelung, was wir die Venusentwickelung nennen." {{Lit|{{G|170|74}}}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten'', [[GA 176]] (1982), ISBN 3-7274-1760-9 {{Vorträge|176}}
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* [[Rudolf Steiner]]: ''Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage'', [[GA 186]] (1990), ISBN 3-7274-1860-5 {{Vorträge|186}}
 
* [[Rudolf Steiner]]: ''Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?'', [[GA 187]] (1995), ISBN 3-7274-1870-2 {{Vorträge|187}}
Auf der [[Alte Sonne|alten Sonne]] konnte die Wahrheit vom [[Mensch]]en noch nicht [[individuell]] erfasst werden, ebensowenig auf dem [[Alter Mond|alten Mond]] die [[Weisheit]], die sich dort entwickelt hat. Das konnte erst auf der [[Erde (Planet)|Erde]] beginnen, seit der Mensch hier sein [[Ich]] entwickelt. Seit dem tritt zur [[göttlich]]en Weisheit die individuelle menschliche hinzu.
 
==Literatur==
* [[Wikipedia:Romano Guardini|Romano Guardini]]: ''Die letzten Dinge: Die christliche Lehre vom Tode, der Läuterung nach dem Tode, Auferstehung, Gericht und Ewigkeit'', Topos Verlag 2008 (1. Aufl. 1952), ISBN 978-3836704618
*Konrad Dietzfelbringer: ''Apokryphe Evangelien aus Nag Hammadi'', Königsdorfer-Verlag 2004, ISBN 978-3980784733
*[[Hans Primas]]: ''Kann Chemie auf Physik reduziert werden?'' Erster Teil: ''Das Molekulare Programm'' in: [[Wikipedia:Chemie in unserer Zeit|Chemie in unserer Zeit]] 19/4 (August 1985) {{doi|10.1002/ciuz.19850190402}}
*Rudolf Steiner: ''Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert'', Verlag Siegfried Cronbach, Berlin 1900 [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/anthroposophie/Rudolf_Steiner/Faksimiles/GA018_1900.pdf pdf (1900)]
*Rudolf Steiner: ''Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften'', [[GA 1]] (1987), ISBN 3-7274-0011-0; '''Tb 649''', ISBN 978-3-7274-6490-4 {{Schriften|001}}
*Rudolf Steiner: ''Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung''. 8. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2002, ISBN 3-7274-0020-X; '''Tb 629''', ISBN 978-3-7274-6290-0 {{Schriften|002}}
*Rudolf Steiner: ''Wahrheit und Wissenschaft'', [[GA 3]] (1980), ISBN 3-7274-0030-7
*Rudolf Steiner: ''Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung'', [[GA 7]] (1990)
*Rudolf Steiner: ''Die Tempellegende und die Goldene Legende '', [[GA 93]] (1991), ISBN 3-7274-0930-4 {{Vorträge|093}}
*Rudolf Steiner: ''Geisteswissenschaftliche Menschenkunde'', [[GA 107]] (1988), ISBN 3-7274-1070-1 {{Vorträge|107}}
*Rudolf Steiner: ''Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung '', [[GA 163]] (1986), ISBN 3-7274-1630-0
*Rudolf Steiner: ''Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte'', [[GA 170]] (1992)
*Rudolf Steiner: ''Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten'', [[GA 176]] (1982)
*Rudolf Steiner: ''Der menschliche und der kosmische Gedanke'', [[GA 151]], (1980)
*Rudolf Steiner: ''Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung'', [[GA 211]] (1986), ISBN 3-7274-2110-X {{Vorträge|211}}
*[[Sigismund von Gleich]]: ''Die Wahrheit als Gesamtumfang aller Weltansichten'', J. Ch. Mellinger Vlg., Stuttgart 1989
*[[Herbert Witzenmann]]: ''Das Wahrheitsproblem im Lichte der Urteilslehre Rudolf Steiners'', Aufsatz in: ''Verstandesblindheit und Ideenschau'', S.16-31, Gideon Spicker Verlag, Dornach, 1. Aufl. 1985


{{GA}}
{{GA}}
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Wahrheit}}
* [[Wahrheitskriterium]]
* [[Wahrhaftigkeit]]


== Weblinks ==
== Weblinks ==
* {{Eisler|Wahrheit}}
* [[Wikipedia:Werden (Philosophie)|Werden]] - Artikel in der deutschen [http://de.wikipedia.org Wikipedia].
* {{Kirchner|Wahrheit}}
* {{UTB-Philosophie|Brigitte Wiesen|948|Wahrheit}}
*[http://www.gerd-albrecht.de/Die%20Gnostischen%20Schriften/Das%20Philippusevangelium.htm Das Philippusevangelium] (Gerd Albrecht)
* [http://web.archive.org/web/20070912010206/http://wwwuser.gwdg.de/~rzellwe/nhs/node87.html#SECTION000190000000000000000 Das Philippusevangelium] (deutsche Übersetzung von Gerd Lüdemann und Martina Janßen)
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/philosophie2b.html Projekt Wahrheit] Website
 
== Einzelnachweis ==


== Einzelnachweise ==
<references/>
<references/>


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Version vom 6. Februar 2020, 01:29 Uhr

Werden ist Veränderung, ist Entstehen, Verwandeln und Vergehen, ist Metamorphose, und als solches der grundlegende Prozess der Schöpfung. Alles Sein entspringt aus dem Nichts, verdichtet sich bis zum physischen Dasein und verschwindet wieder ins Nichts. Mit dem Werden tritt zugleich die Zeit hervor. Das Sein, als ein bereits real Gewordenes, gehört der Vergangenheit an. Das Werdende ist noch nicht gegenwärtig, d.h. noch nicht äußerlich sichtbar oder messbar vorhanden, sondern gehört der Zukunft an, aus der es uns entgegenkommt. Und doch liegt in diesem Werdenden, das jetzt noch keine äußerlich reale Existenz hat, die wirkliche gestaltende Kraft, die das zukünftige Sein bestimmt.

Bereits der griechische Philosoph Heraklit betonte im Gegensatz zu Parmenides, dass das Wesen alles Seins im Werden begründet ist. Er vergleicht das Sein mit einem Fluss, in den man kein zweites Mal steigen könne: "Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht." (Lit.: Heraklit, S 132[1]). Der spätantike Aristoteles-Kommentator Simplikios[2] fasste das später zusammen in die berühmte Kurzformel "panta rhei" (griech. πάντα ῥεῖ, „Alles fließt“).

Rudolf Steiner bemerkte dazu:

"... daß alles dasjenige, was wir als das Sein bezeichnen, oder was wir als das Sein den Dingen, den Wesen beilegen, in einem lebendigen Verhältnis zum Werden steht, und zwar in einem eigentümlichen Verhältnis zum Werden. In Wahrheit ist weder der alte Satz des Parmenides von dem starren Sein, noch der Satz des Heraklit von dem Werden, wahr. Es ist in der Welt Sein und Werden, aber nur: Das Werden ist lebendig, das Sein ist immer tot; und jedes Sein ist ein Leichnam des Werdens. Finden Sie irgendwo ein Sein, zum Beispiel in der sich um uns ausbreitenden Natur, so antwortet Ihnen die Geisteswissenschaft darauf: Dieses Sein — lesen Sie das in der «Geheimwissenschaft» - ist dadurch entstanden, daß einmal ein Werden war, und dieses Werden hat seinen Leichnam zurückgelassen, dasjenige, was uns gegenwärtig als Sein umgibt. Das Sein ist das Tote, das Werden ist das Lebendige!" (Lit.: GA 176, S. 182)

Für Aristoteles ist alles Werden durch das Zusammenspiel von Akt und Potenz bedingt, indem der verwirklichende Akt die bloße Möglichkeit (Potenz) zum realen Sein erhebt. Diese Lehre wurde später von Thomas von Aquin aufgegriffen und im christlichen Sinn gedeutet. Die Urmaterie, die «materia prima», ist reine Potenz und Gott, als die höchste Quelle der schöpferischen Aktivität, ist «actus purus».

Hegel setzte zwar als Anfang das Sein, dem sich aber das Nichts entgegensetzt; die höhere Einheit beider, ihre Synthese, ist das Werden. In seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften schreibt er:

"§86 Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke als das unbestimmte, einfache Unmittelbare ist, der erste Anfang aber nichts Vermitteltes und weiter Bestimmtes sein kann [...]

§87 Dieses reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist [...]

§88 Das Nichts ist als dieses unmittelbare, sich selbst gleiche, ebenso umgekehrt dasselbe, was das Sein ist. Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Einheit ist das Werden." (Lit.: Hegel, S 182ff.)

Hegels dialektischen Ansatz erläutert Steiner so:

"Der Begriff, der den geringsten Inhalt und den größten Umfang hat, ist der Begriff des Seins. Er ist in der Tat derjenige Begriff, der im ganzen Umkreis unserer Welt anwendbar ist, er hat den größten Umfang und den geringsten Inhalt. Wenn wir vom Sein schlechtweg sprechen, ist nichts ausgesagt von der Art des Seins. Von dem Begriff des Seins geht Hegel aus. Nun fragt es sich: Wie kommt man hinaus über diesen Begriff des Seins ? Wir können nicht stehenbleiben bei diesem Begriff, sonst bekommen wir kein Begriffssystem. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein Begriffssystem zu gewinnen, indem wir Begriff aus Begriff herauswachsen lassen. Wie finden wir einen Anhaltspunkt dazu? Diesen Anhaltspunkt finden wir eben in der dialektischen Methode, und zwar wenn wir uns darüber klar werden, wie ein jeder Begriff in sich selber noch etwas anderes enthält, als das, als was er zunächst erscheint. Es ist mit dem Begriff wie mit einer Wurzel. Die Wurzel enthält eigentlich die ganze Pflanze, die noch nicht herausgewachsen, sondern noch in ihr drinnen ist. Wenn wir die Wurzel anschauen, haben wir noch nicht alles, was da ist. Die Pflanze selber, die drin ist in der Wurzel, sehen wir nicht. Wenn wir nur mit äußeren Augen die Wurzel anschauen, sehen wir gerade nicht, was die Pflanze aus der Wurzel heraustreibt. So steckt auch in jedem Begriff etwas drin, was aus ihm herauswachsen kann, ebenso wie in der Wurzel etwas steckt, was aus ihr herauswachsen kann, und zwar steckt im Begriff des Seins das Gegenteil, das Nichts drin. Wenn wir den Begriff des Seins fassen, so umfaßt er alles Mögliche, was in der sinnlichen und in der übersinnlichen Welt auftauchen kann. Dadurch, daß er alles umfaßt, umfaßt er zugleich das «Nichts». Das «Nichts» steckt darinnen im «Sein», es sproßt heraus aus dem «Sein». Wenn wir das «Sein» innerlich betrachten, so sehen wir hier schon den Begriff des «Nichts» aus dem Begriff des «Seins» herauswachsen. Wenn wir uns eine Vorstellung von dem Begriff des Nichts machen wollen, so ist das ebenso schwer als es wichtig ist. Viele Leute, auch Philosophen, werden sagen, es sei überhaupt unmöglich, sich von dem Nichts eine Vorstellung zu machen. Das ist aber etwas, was innerhalb der Begriffswelt für den Anthroposophen ungeheuer wichtig ist, und es wird eine Zeit kommen, wenn die Anthroposophie mehr eingehen wird auf die Begriffe, da wird viel davon abhängen, daß gerade der Begriff des «Nichts» in der richtigen Weise gefaßt wird. Es leidet die Theosophie daran, daß der Begriff des «Nichts» unklar gefaßt wird. Deshalb ist ja die Theosophie zu einer Art «Emanationslehre» geworden, [Lücke in der Nachschrift] so als ob das Spätere aus dem Früheren hervorgegangen sei.

Denken Sie sich selbst einer äußeren Wirklichkeit gegenübergestellt, zum Beispiel zwei Menschen, und betrachten Sie diese nach einem Gesichtspunkt, der nur von Ihnen selbst abhängt. Und betrachten Sie zum Beispiel zwei Menschen, einen großen und einen kleinen, und denken Sie sich etwas über sie aus, bilden Sie sich einen Begriff, der nie gefaßt worden wäre, wenn Sie ihnen nicht gegenübergetreten wären. Es ist ganz gleich, was Sie sich da über diese beiden Menschen denken, aber der Begriff wäre nicht gefaßt worden, wenn sie Ihnen nicht gegenübergetreten wären. Nehmen wir an, die beiden hätten in Amerika gelebt, dann wären Sie als Europäer ihnen niemals begegnet. Dadurch aber, daß Sie ihnen begegnet sind, ist der Begriff «groß» und «klein» in Ihnen aufgetaucht. Es liegt also nicht an Ihnen, daß sich der Begriff des großen und des kleinen Menschen gebildet hat; Sie werden in sich selbst nichts finden, das zu Ihrem Begriff von «groß» und «klein» hätte führen müssen. Auf der anderen Seite werden Sie die Urgründe, die zu dem Begriff hätten führen müssen, auch in den beiden Menschen nicht finden. Sie mußten erst den beiden Menschen gegenübertreten. So also liegt es nicht an Ihnen, was sich da als Begriff gebildet hat, und es liegt auch nicht an dem großen oder kleinen Menschen; es ist etwas, was rein durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch ihre Konstellation herbeigeführt worden ist. Jetzt aber wird dieser Begriff, der aus dem Nichts entstanden ist, ein Faktor, der in Ihnen fortwirkt. Sie können es sich nicht anders denken, als daß dieser Begriff aus dem Nichts durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch die Konstellation hervorgehen kann. Aus der Beziehung, aus der Konstellation bildet so eine fortwährende Kraft etwas heraus, was dann fortwirkt. Das heißt, es entsteht ein Etwas aus dem Nichts. Das Nichts ist so durchaus ein reeller Faktor im Weltengeschehen, und Sie können dieses Weltengeschehen nie begreifen, wenn Sie das Nichts in dieser realen Bedeutung nicht erfaßt haben. Sie würden auch den Begriff des «Nirwana» besser verstehen, wenn Sie einen klaren Begriff vom Nichts hätten, wenn Sie einmal über den Begriff des Nichts meditiert hätten, was etwas durchaus Wirksames ist.

Wir haben also aus dem Begriff des Seins den Begriff des Nichts herausgesponnen. Den nächsten Begriff findet man nun dadurch, daß man diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Wenn man «Sein» und «Nichtsein» miteinander verbindet, entsteht das «Werden ». Das «Werden» ist ein reicherer Begriff, der die beiden anderen schon in sich enthält. «Werden» ist ein fortwährender Übergang von Nichtsein zu Sein, das Vorhergehende vergeht, das Folgende entsteht. So haben Sie in dem Begriff «Werden» das Spiel der beiden Begriffe «Sein» und «Nichts». Von dem Begriff des Werdens ausgehend kommen Sie dann zu dem Begriff «Dasein». Es ist das, was als das Nächste an das Werden sich anschließt: das Starrwerden des Werdens ist das «Dasein», ein abgeschlossenes Werden. Dem «Dasein» muß ein Werden vorangehen. Was haben wir nun davon, wenn wir solche vier Begriffe innerlich uns ausgestaltet und sie so gewonnen haben? Wir haben sehr viel davon. Wir denken nun bei dem Begriff des Werdens nichts anderes, als was wir hier als Inhalt das Begriffs kennengelernt haben. Wir müssen alles ausschließen, was nicht zu dem Begriff gehört. Wer richtig dialektisch geschult ist, der hat, wenn von «Werden» gesprochen wird, in diesem Begriff nichts anderes als das Ineinanderspielen von «Sein» und «Nichts». Wenn der dialektisch geschulte Denker vom «Werden» spricht, so ist das ein ebenso bestimmter Begriff, wie wenn er von dem Begriff «Dreieck» spricht. So ist die Dialektik gerade die wunderbarste Zucht des Denkens." (Lit.: GA 108, S. 247ff)

Der Begriff des Werdens steht im Gegensatz zu dem des Gewordenen. Ersterer bezieht sich primär auf die lebendige Welt des Ätherischen, letzterer auf die physische Welt, die das Insgesamt des Gewordenen darstellt. Um einen wirklichkeitsgemäßen Begriff des Werdens zu fassen, genügt es nicht, Veränderungen des Gewordenen aus dem gesetzmäßigen Zusammenwirken von Teilelementen des Gewordenen abzuleiten. Damit kommt man aus dem Bereich des Gewordenen nicht heraus; das Gewordene bleibt ein Gewordenes, auch wenn es sich im Zeitenlauf gesetzmäßig verändert. Erst dort, wo etwas in den Bereich des Gewordenen hereintritt, das zuvor nicht vorhanden war und auch nicht aus dem Vorhandenen abgeleitet werden kann, beginnt das lebendige Werden. Das Ätherische, das die Quelle des Werdens ist, erscheint aber aus der Sicht des Physischen als Nichts, als etwas nicht Vorhandenes, nicht Daseiendes. Der Begriff des Werdens leitet zu dem der Schöpfung aus dem Nichts über, allerdings noch nicht im absoluten Sinn. Schreitet man nämlich vom Ätherischen weiter zum Astralischen, so erscheint das Ätherische, allerdings nun in einem höheren und lebendigeren Sinn, ebenfalls wieder als etwas Gewordenes. Ähnlich ist es, wenn man vom Astralischen zum Geistigen vordringt; dann erscheint selbst das Astralische als etwas Geschaffenes. Erst im Geistigen selbst hat man die wahre Quelle alles Werdens. Das Geistige entsteht aus nichts anderem, als aus sich selbst. Erst im Geistigen haben wir es mit einem reinen Schaffen zu tun, das auf kein Geschaffenes mehr zurückgreift. Hier erst verwirklicht sich die Schöpfung aus dem Nichts im absoluten Sinn.

Das Nichts, als Gegensatz des Seins, ist eben nicht einfach nichts, sondern hat seinen Ursprung im Unendlichen, Unbeschränkten, Unbegrenzten, das sich eben durch seine völlige Grenzenlosigkeit und Unbestimmbarkeit grundsätzlich jeder Erkenntnismöglichkeit entzieht, aus dem aber letzlich ohne kausale Ursache und daher in völliger Freiheit alles entstehen kann. Das Nichts und das unbeschränkt Unendliche sind derart identisch. In diesem Sinn ist etwa das Ain Soph (hebr.אין סוף, nicht endlich) in der kabbalistischen Mystik aufzufassen oder das Apeiron (griech. άπειρον, das Unendliche, das Unbegrenzte) des Anaximander (um 610–546 v. Chr), das für ihn die Arché, der Ursprung ist, aus dem die ganze Welt entstand. Dem entspricht auch das Nirvana als der wahren Quelle allen aktiven Seins, aus der die Schöpfung aus dem Nichts entspringt. Aus dieser Quelle stammt und schöpft auch das menschliche Ich, der schöpferische Funke in uns, und darum liegt es im Wesen des Menschen, ein stets Werdender zu sein.

"Denn Geisteswissenschaft kann nicht anders, als den Menschen darauf verweisen, daß man fortwährend etwas werden muß, daß man nicht irgend etwas durch dies oder jenes fertig sein kann. Der Mensch täuscht sich in furchtbarster Weise über sich selbst, wenn er glaubt, auf etwas Absolutes hinweisen zu können, was bei ihm irgendeine besondere Vollkommenheit bedingt. Alles, was nicht im Werden ist, bedingt beim Menschen eine Unvollkommenheit und nicht eine Vollkommenheit." (Lit.: GA 186, S. 94)

"... der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen, er ist ein Wesen im Werden. Und je mehr er wird, je mehr er sich selbst in die Möglichkeit versetzt, zu werden, desto mehr erfüllt er gewissermaßen hier im physischen Lebenslaufe schon seine wirkliche Aufgabe. Diejenigen Menschen, die starr bleiben, die abgeneigt sind, eine Entwickelung durchzumachen, entwickeln wenig von dem, was eigentlich ihre irdische Mission ist. Was Sie gestern waren, sind Sie heute nicht mehr, und was Sie heute sind, werden Sie morgen nicht mehr sein. Es sind das allerdings kleine Nuancen. Wohl dem, bei dem es überhaupt Nuancen sind, denn das Stehenbleiben ist ahrimanisch. Nuancen sollten da sein. Es sollte wenigstens gewissermaßen im Leben des Menschen kein Tag vor sich gehen, ohne daß er wenigstens einen Gedanken in sich aufnimmt, der ein wenig sein Wesen ändert; der ein wenig ihn in die Möglichkeit versetzt, ein werdendes Wesen, nicht bloß ein seiendes Wesen zu sein." (Lit.: GA 187, S. 45f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Das Fragment 49a gilt allerdings nur als vage Anlehnung an den Originaltext, der gesamte zweite Teil ist nicht authentisch; vgl. Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, S. 326
  2. Hermann Diels: Simplicius, In Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria. Reimer, Berlin 1895 (Nachdr. de Gruyter 1954), (Commentaria in Aristotelem Graeca 10) S. 1313.