Mütter

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Als Mütter wurden in den griechischen Mysterien die drei Weltenmütter Rhea, Demeter und Proserpina (Persephone) bezeichnet. Goethe lässt sie erscheinen in der «Mütter»-Szene im zweiten Teil seiner Faust-Dichtung.

Die Mütter in Goethes Faust

"Persönlich ist Goethe dieses ganze Verhältnis zu den Müttern vor die Seele getreten aus der Lektüre des Plutarch. Plutarch, der griechische Schriftsteller, den Goethe gelesen hat, spricht von den Müttern. Insbesondere eine Szene im Plutarch scheint auf Goethe dem Gemüte nach einen tiefen Eindruck gemacht zu haben: Die Römer sind mit den Karthagern im Kriege. Nikias ist römisch gesinnt, und er will die Stadt Engyion den Karthagern entreißen. Er soll an die Karthager deshalb ausgeliefert werden. Da stellt er sich wahnsinnig und läuft auf den Straßen herum und ruft: Die Mütter, die Mütter verfolgen mich! - Sie sehen daraus, daß in der Zeit, von der Plutarch spricht, man diese Verwandtschaft der Mütter nicht mit dem gewöhnlichen sinnlichen Verstände, sondern mit einem Zustand des Menschen, wo dieser sinnliche Verstand nicht da ist, in Zusammenhang bringt. Zweifellos hat alles dasjenige, was Goethe im Plutarch gelesen hat, ihm die Anregung gegeben, den Ausdruck, die Idee der Mütter einzuführen in den Faust." (Lit.: GA 273, S 86)

Als Mephistopheles das Wort «Mütter» erwähnt, schaudert es Faust. Hinabsteigen muß Faust in einen Seelenbereich, in dem ihm Mephistopheles nicht mehr folgen kann, in einen Seelenbereich, der hinausführt aus der luziferisch verseuchten Sinnlichkeit, hin zu einer Seelenprovinz, wo noch die ursprünglichen Schöpfermächte zu finden sind, wo die Mütter der menschlichen Seelenkraft wohnen. Äußerer Anlaß dazu ist das Verlangen des Kaisers, Paris und Helena, „das Musterbild der Männer so der Frauen“ in „deutlichen Gestalten“ zu schauen. Goethe bezog sich hier auf die Sachs’sche Darstellung, wie ein Nekromant am Hofe Kaiser Maximilians die Helena erscheinen läßt. Da war es aber der Kaiser selbst, der ihr verfiel und dadurch paralysiert wurde.

Zu den Müttern also muß Faust hinabsteigen. „Ins Unbetretene, nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene, nicht zu Erbittende“ führt der Weg, in eine Welt schwankender Erscheinungen ohne feste Kontur:

FAUST. Die Mütter! Mütter! - 's klingt so
                                                         wunderlich!
MEPHISTOPHELES.
    Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
    Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
    Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
    Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.
FAUST. Wohin der Weg?
MEPHISTOPHELES. Kein Weg! Ins Unbetretene,
    Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
    Nicht zu Erbittende. Bist du bereit? -
    Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
    Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
    Hast du Begriff von Öd' und Einsamkeit?
FAUST. Du spartest, dächt' ich, solche Sprüche;
    Hier wittert's nach der Hexenküche.
MEPHISTOPHELES.
    Und hättest du den Ozean durchschwommen,
    Das Grenzenlose dort geschaut,
    So sähst du dort doch Well' auf Welle kommen,
    Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
    Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
    Gestillter Meere streichende Delphine;
    Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne -
    Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
    Den Schritt nicht hören, den du tust,
    Nichts Festes finden, wo du ruhst.
FAUST. Du sprichst als erster aller Mystagogen,
    Die treue Neophyten je betrogen;
    Nur umgekehrt. Du sendest mich ins Leere,
    Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;
    Nur immer zu! wir wollen es ergründen,
    In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden.

Räumliche Begriffe machen in dieser Welt keinen Sinn mehr, wo alles in strömender Bewegung ist. Oben und unten verlieren hier ihre Bedeutung. Hinter die fertige Schöpfung tritt Faust zurück in den Bereich der Kräfte, die diese Schöpfung erst hervorgebracht haben.

   Versinke denn! Ich könnt' auch sagen: steige!
   's einerlei. Entfliehe dem Entstandnen
   In der Gebilde losgebundne Reiche!

Mephisto kann Faust noch den Schlüssel zu diesem Reich geben, selbst einzutreten vermag er nicht – und damit kann sich Faust zugleich erstmals dem luziferischen Zugriff entziehen!

Der Gang zu den Müttern führt Faust dorthin, wo die menschliche Seele ihren Ursprung gefunden hat. Hier ist die Quelle, aus der die drei wesentlichsten Seelenkräfte, das Denken, Fühlen und Wollen, fließen. Drei Mütter sind es, denen Faust hier begegnet. Man sieht, wie uns Goethe hier in eine Welt führt, die noch viel tiefer reicht als alles das, was die Tiefenpsychologie zu erfassen vermag. Eine umfassende Psychologie der menschlichen Seele führt uns Goethe hier vor Augen, nicht in abstrakten Begriffen, sondern in lebendig gestalteten Bildern.

Die mystische Versenkung in die eigenen Seelentiefen führt Faust bis an das Urbild der menschlichen Seele heran, wie es einstmals von den Göttern geschaffen wurde. Von hier kann er Helena, die dieses ewige Urbild in ihrem schönen Wesen ausdrückt, heraufholen an das Bewußtsein - so stark, so intensiv, daß es durch eine Art Massensuggestion dem ganzen versammelten Hofstaat am Kaiserhof gegenwärtig wird, wobei Mephisto tüchtig hilft, wodurch aber auch wiederum alles seinem Zugriff unterliegt. Was in der Hexenküche erst wie ein flüchtiger Schein vorüber huschte, steht Faust nun ganz klar in der Seele. Und doch – real zu vereinigen vermag er sich mit dieser ewigen menschlichen Seele noch nicht. Kaum will er Helena berühren, von erneut aufwallenden Begierden getrieben, zerstäubt das Bild in einer mächtigen Explosion, und Faust stürzt wie gelähmt ohnmächtig zu Boden.

Das ist die Gefahr aller Mystik, die in die inneren Seelentiefen vordringt, daß das, was von dort auch immer ans Bewußtsein heraufgebracht wird, wieder durch die luziferische Sphäre hindurch getragen werden muß. Höchstes kann wieder von der niedersten Begierde ergriffen werden – mit fatalen Folgen für das Seelenleben. Wie ein gewaltiger elektrischer Schlag können diese übermächtigen Seelenkräfte, das Bewußtsein treffen, wenn dieses nicht völlig rein und frei von sinnlicher Glut sich ihnen hingeben kann. Man sehe sich nur manche mystische Schriften an und beachte, welche wollüstige Phantasien sich da oftmals hinein mischen.

Die Urmütter bei den Orphikern und Pherekydes von Syros

Rudolf Steiner weist bezüglich der Mütter, von denen Goethe spricht, auch auf die Lehren der Orphiker hin, die wiederum Pherekydes von Syros beeinflussten. Die Orphiker sprachen von drei übergeschlechtlichen Urprinzipien der Welt, die sie Zeus, Chronos und Chaos nannten. Man darf sie nicht unmittelbar mit den gleichnamigen Göttern der griechischen Mythologie gleichsetzen. Mütter sind sie in dem Sinn, dass aus ihnen die ganze Welt geboren wird. Bei Pherekydes wurden daraus die drei Urprinzipen Chronos, Zeus und Chton, die man nur sehr abstrakt und uneigentlich, wenn man vom imaginativen Bilderleben zum Gedankenleben übergeht, mit Zeit, Raum und Materie identifizieren darf.

"In den verschiedenen Kulturen der Völker hat sich der Übergang von dem alten Bild-Erleben zum Gedanken-Erleben zu verschiedenen Zeitpunkten vollzogen. In Griechenland kann man diesen Übergang belauschen, wenn man den Blick auf die Persönlichkeit des Pherekydes wirft. Er lebt in einer Vorstellungswelt, an welcher das Bild-Erleben und der Gedanke noch gleichen Anteil haben. Es können seine drei Grundideen, Zeus, Chronos, Chthon, nur so vorgestellt werden, daß die Seele, indem sie sie erlebt, sich zugleich dem Geschehen der Außenwelt angehörig fühlt. Man hat es mit drei erlebten Bildern zu tun und kommt diesen nur bei, wenn man sich nicht beirren läßt von allem, was die gegenwärtigen Denkgewohnheiten dabei vorstellen möchten.

Chronos ist nicht die Zeit, wie man sie gegenwärtig vorstellt. Chronos ist ein Wesen, das man mit heutigem Sprachgebrauch «geistig» nennen kann, wenn man sich dabei bewußt ist, daß man den Sinn nicht erschöpft. Chronos lebt, und seine Tätigkeit ist das Verzehren, Verbrauchen des Lebens eines anderen Wesens, Chthon. In der Natur waltet Chronos, im Menschen waltet Chronos; in Natur und Mensch verbraucht Chronos Chthon. Es ist einerlei, ob man das Verzehren des Chthon durch Chronos innerlich erlebt oder äußerlich in den Naturvorgängen ansieht. Denn auf beiden Gebieten geschieht dasselbe. Verbunden mit diesen beiden Wesen ist Zeus, den man sich im Sinne des Pherekydes ebensowenig als Götterwesen im Sinne der gegenwärtigen Auffassung von Mythologie vorstellen darf, wie als bloßen «Raum» in heutiger Bedeutung, obwohl er das Wesen ist, welches das, was zwischen Chronos und Chthon vorgeht, zur räumlichen, ausgedehnten Gestaltung schafft.

Das Zusammenwirken von Chronos, Chthon, Zeus im Sinne des Pherekydes wird unmittelbar im Bilde erlebt, wie die Vorstellung erlebt wird, daß man ißt; es wird aber auch in der Außenwelt erlebt, wie die Vorstellung der blauen oder roten Farbe erlebt wird. Dies Erleben kann man in folgender Art vorstellen. Man lenke den Blick auf das Feuer, welches die Dinge verzehrt. In der Tätigkeit des Feuers, der Wärme, lebt sich Chronos dar. Wer das Feuer in seiner Wirksamkeit anschaut und noch nicht den selbständigen Gedanken, sondern das Bild wirksam hat, der schaut Chronos. Er schaut mit der Feuerwirksamkeit - nicht mit dem sinnlichen Feuer - zugleich die «Zeit». Eine andere Vorstellung von der Zeit gibt es vor der Geburt des Gedankens noch nicht. Was man gegenwärtig «Zeit» nennt, ist erst eine im Zeitalter der gedanklichen Weltanschauung ausgebildete Idee. - Lenkt man den Blick auf das Wasser, nicht wie es als Wasser ist, sondern wie es sich in Luft oder Dampf verwandelt, oder auf die sich auflösenden Wolken, so erlebt man im Bilde die Kraft des «Zeus», des räumlich wirksamen Verbreiterers; man könnte auch sagen: des sich «strahlig» Ausdehnenden. Und schaut man das Wasser, wie es zum Festen wird, oder das Feste, wie es sich in Flüssiges bildet, so schaut man Chthon. Chthon ist etwas, was dann später im Zeitalter der gedankenmäßigen Weltanschauungen zur «Materie», zum «Stoffe» geworden ist; Zeus ist zum «Äther» oder auch zum «Raum» geworden; Chronos zur «Zeit».

Durch das Zusammenwirken dieser drei Urgründe stellt sich im Sinne des Pherekydes die Welt her. Es entstehen durch dieses Zusammenwirken auf der einen Seite die sinnlichen Stoff weiten: Feuer, Luft, Wasser, Erde; auf der anderen Seite eine Summe von unsichtbaren, übersinnlichen Geistwesen, welche die vier Stoffwelten beleben. Zeus, Chronos, Chthon sind Wesenheiten, denen gegenüber die Ausdrücke «Geist, Seele, Stoff» wohl gebraucht werden können, doch wird die Bedeutung damit nur annähernd bezeichnet. Erst durch die Verbindung dieser drei Urwesen entstehen die mehr stofflichen Weltenreiche, das des Feuers, der Luft, des Wassers, der Erde und die mehr seelischen und geistigen (übersinnlichen) Wesenheiten. Mit einem Ausdruck der späteren Weltanschauungen kann man Zeus als «Raum-Äther», Chronos als «Zeit-Schöpfer» und Chthon als «Stoff-Erbringer» die drei «Urmütter» der Welt nennen. Man sieht sie noch in Goethes «Faust» durchblicken, in der Szene des zweiten Teiles, wo Faust den Gang zu den «Müttern» antritt.

So wie bei Pherekydes diese drei Urwesen auftreten, weisen sie zurück auf Vorstellungen bei Vorgängern dieser Persönlichkeit, auf die sogenannten Orphiker. Diese sind Bekenner einer Vorstellungsart, welche noch ganz in der alten Bildhaftigkeit lebt. Bei ihnen finden sich auch drei Urwesen, Zeus, Chronos und das Chaos. Neben diesen drei «Urmüttern» sind diejenigen des Pherekydes um einen Grad weniger bildhaft. Pherekydes versucht eben schon mehr durch das Gedankenleben zu ergreifen, was die Orphiker noch völlig im Bilde hielten. Deshalb erscheint er als die Persönlichkeit, bei welcher man von der «Geburt des Gedankenlebens» sprechen kann. - Dies drückt sich weniger durch die gedankliche Fassung der orphischen Vorstellungen bei Pherekydes aus, als durch eine gewisse Grundstimmung seiner Seele, die sich dann in einer ähnlichen Art bei manchem philosophierenden Nachfolger des Pherekydes in Griechenland wiederfindet. Pherekydes sieht sich nämlich gezwungen, den Ursprung der Dinge in dem «Guten» (Ariston) zu sehen. Mit den «mythischen Götterwelten» der alten Zeit konnte er diesen Begriff nicht verbinden. Den Wesen dieser Welt kamen Seeleneigenschaften zu, die mit diesem Begriffe nicht verträglich waren. In seine drei «Urgründe» konnte Pherekydes nur den Begriff des «Guten», des Vollkommenen hineindenken.

Damit hängt zusammen, daß mit der Geburt des Gedankenlebens eine Erschütterung des seelischen Empfindens verbunden war. Man soll dieses seelische Erlebnis da nicht übersehen, wo die gedankliche Weltanschauung ihren Anfang hat. Man hätte in diesem Anfang nicht einen Fortschritt empfinden können, wenn man mit dem Gedanken nicht etwas Vollkommneres hätte zu erfassen geglaubt, als mit dem alten Bild-Erleben erreicht war. Es ist ganz selbstverständlich, daß innerhalb dieser Stufe der Weltanschauungsentwickelung die hier gemeinte Empfindung nicht klar ausgesprochen wurde. Empfunden aber wurde, was man jetzt rückblickend auf die alten griechischen Denker klar aussprechen darf. - Man empfand: die von den unmittelbaren Vorfahren erlebten Bilder führten nicht zu den höchsten, den vollkommensten Urgründen. In diesen Bildern zeigten sich nur weniger vollkommene Urgründe. Der Gedanke müsse sich erheben zu den noch höheren Urgründen, von denen das in Bildern Geschaute nur die Geschöpfe sind." (Lit.: GA 18, S 40ff)

Die Mütter als Repräsentanten früherer Weltentwicklungsstufen

Die Mütter sind nach Rudolf Steiner auch Repräsentanten früherer Weltentwicklungsstufen, die unserer Erdentwicklung vorangegangen sind. Sie stehen also für den alten Saturn, die alte Sonne und den alten Mond. Wir "sehen hinauf zu Saturn, Sonne, Mond, haben wir dort die Mütter, die nur die griechischen Mysterien in einer andern Form ausgesprochen haben: Proserpina, Demeter, Rhea. Denn alle die Kräfte, die in Saturn, Sonne und Mond sind, sie wirken ja nach, wirken herein in unsere Zeit." (Lit.: GA 273, S 88f)

Siehe auch

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, GA 18 (1985) pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust», Band II: Das Faust-Problem, GA 273 (1981) pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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