Ennoia

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Evelyn de Morgan:
Helena von Troja (1898)

Ennoia (griech. έννοια), der „erste Gedanke“ oder die „erste Denkkraft“ Gottes, die als weibliches oder auch als männlich-weibliches Geistwesen, oft auch als Muttergöttin beschrieben wird, ist ein wesentlicher Bestandteil vieler gnostischen Systeme und wird oft auch mit Sophia (griech. σοφία, „Weisheit“) oder der Barbelo (griech. Βαρβηλώ) gleichgesetzt bzw. werden diese, wie etwa auch die Epinoia (griech. έπινοια, „Einsicht“), als weitere Entwicklungsstufen der Ennoia aufgefasst. So erfahren wir etwa im Apokryphon des Johannes wie der «unbekannte Gott» mittels der Ennoia die Äonen-Fünfheit nach seinem Bild erschaft, die in männlich-weiblichen Paaren (syzygien) erscheint und damit genau besehen eine Zehnheit und in ihrer Gesamtheit zugleich der erste Mensch ist. Die Ennoia wird hier auch mit der Pronoia (griech. πρόνοια), der Vorsehung, gleichgesetzt.

„Und sein Gedanke Ennoia vollbrachte eine Tat und trat in Erscheinung, das heißt die, die in Erscheinung trat vor ihm in dem Glanz seines Lichtes. Das ist die erste Kraft, welche vor dem All war und welche in Erscheinung trat aus seinem Denken. Sie ist die Pronoia des Alls, ihr Licht leuchtet im Abbild seines Lichtes, die vollkommene Kraft, die das Abbild ist des unsichtbaren, jungfräulichen Geistes, der vollkommen ist. Die erste Kraft, der Ruhm der Barbelo, die vollkommene Herrlichkeit in den Äonen, die Herrlichkeit der Offenbarung, sie gab Lobpreis dem vollkommenen Geist, und sie war es, die ihn preist, denn seinetwegen war sie in Erscheinung getreten.

Dieser ist der erste Gedanke, sein Abbild. Sie wurde der Mutterschoß des Alls, denn sie ist die, die vor ihnen allen ist, der Mutter-Vater, der erste Mensch, der heilige Geist, der dreifach-männliche, der dreifach-kraftvolle, der dreifachbenannte Mannweibliche und der ewige Äon bei den Unsichtbaren und das erste Herauskommen.

Sie bat den unsichtbaren, jungfräulichen Geist, das ist Barbelo, ihr Erkenntnis zu geben. Und der Geist stimmte zu. Und als er aber zugestimmt hatte, offenbarte sich die erste Erkenntnis. Und sie stellte sich hin mit der Pronoia; diese stammt aus dem Gedanken des unsichtbaren, jungfräulichen Geistes. Sie pries ihn und seine vollkommene Kraft, Barbelo, da sie ihretwegen entstanden waren. Und wiederum bat sie, ihr Unvergänglichkeit zu gewähren, und er stimmte zu. Als er zugestimmt hatte, offenbarte sich die Unvergänglichkeit, und sie stand zusammen mit dem Gedanken und der Ersterkenntnis. Sie pries den Unsichtbaren und Barbelo, deretwegen sie entstanden waren. Und Barbelo bat, ihr ewiges Leben zu geben. Und der unsichtbare Geist stimmte zu. Und als er zugestimmt hatte, trat das ewige Leben in Erscheinung, und sie standen zusammen und priesen den unsichtbaren Geist und Barbelo, deretwegen sie entstanden waren. Und sie bat wiederum, ihr die Wahrheit zu geben. Und der unsichtbare Geist stimmte zu. Und er stimmte zu. Und als er zugestimmt hatte, trat die Wahrheit in Erscheinung. Und sie standen zusammen und priesen den unsichtbaren, vorzüglichen Geist und seine Barbelo, deretwegen sie entstanden waren. Das ist die Fünfheit der Äonen des Vaters, der der erste Mensch ist, das Bild des unsichtbaren Geistes.

Dies ist die Pronoia, das ist die Barbelo, und der Gedanke und die Erst-Erkenntnis und die Unvergänglichkeit und das ewige Leben und die Wahrheit. Das ist die mannweibliche Fünfheit der Äonen, welche ist die Zehnheit der Äonen, welche ist der Vater.“

Apokryphon des Johannes: NHC II,1 [1]

Ähnliche Vorstellungen haben später die Kabbalisten mit dem System der 10 Sephiroth entwickelt, die zugleich den kosmischen Urmenschen Adam Kadmon repräsentieren.

Nach Irenäus von Lyon (Gegen die Häretiker, Buch 1, 23, 1-5) hat bereits der in der Apostelgeschichte erwähnte Simon Magus den Anspruch erhoben, ein Messias (Christus) zu sein, und sei gekommen, um den (weiblichen) „ersten Gedanken" Ennoia aus der Materie zu erlösen. Dieser „erste Gedanke" sei in die niedrigeren Regionen der Finsternis und Unwissenheit abgestiegen und habe die Engelwesenheiten und Mächte erschaffen. Die Engel lehnten sich aus Neid gegen Ennoia-Helena auf und schufen die materielle Welt als ihr Gefängnis, in dem sie in einem weiblichen Leib gefangen lag. So zog sie - durch Reinkarnation oder Seelenwanderung - von Leib zu Leib wie von Gefängnis zu Gefängnis. Sie inkarnierte sich u.a. in Helena von Troja, bis sie schließlich als Prostituierte in der phönizischen Stadt Tyrus durch Gott, der in Gestalt des Simon Magus abgestiegen war, erlöst wurde. Nur wer an Simon und an Helena glaube, könne die Welt vor dem Verderben retten und mit ihnen in die höheren Regionen zurückkehren.

„Dieser Simon von Samaria, von dem sämtliche Sekten abstammen, trägt folgende Irrlehre vor: Mit einer gewissen Helena, die er zu Tyrus in Phönizien als Lohndirne erstand, zog er herum und sagte, dies sei die erste Vorstellung seines Geistes, die Mutter aller, durch die er im Anfang gedachte, Engel und Erzengel zu erschaffen. Indem diese Ennoia von ihm ausging und erkannte, was der Vater wollte, stieg sie in die unteren Regionen hinab und zeugte die Engel und Mächte, von denen diese Welt gemacht worden sein soll. Dann aber wurde sie aus Neid von ihren eigenen Kindern zurückgehalten, da diese nicht für die Kinder irgend jemandes gehalten werden wollten. Er selbst blieb ihnen gänzlich unbekannt, die Ennoia aber hielten die Engel und Mächte zurück, die sie selbst geboren hatte, und jegliche Schmach mußte sie von ihnen erleiden, so daß sie nicht zu ihrem Vater zurückkehren konnte und sogar in menschlichem Körper eingeschlossen, in Ewigkeit wie von einem Gefäß in das andere in weibliche Körper überging. So war sie auch in dem Leib der Helena, deretwegen der trojanische Krieg unternommen wurde. Stesichorus, der auf sie Schmählieder dichtete, wurde deswegen geblendet, und erst als er reuevoll durch Gegenlieder Abbitte leistete, bekam er das Augenlicht wieder. Bei ihrer Wanderung von Körper zu Körper erlitt sie in jedem immer neue Schmach und landete zuletzt in einem öffentlichen Hause — sie ist das verlorene Schaf.“

Irenäus: Gegen die Häretiker I, 23, 1-5 [2]

Literatur

  1. Hans Jonas: Gnosis uns spätantiker Geist I, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1934, 1964, 1988 ISBN 978-3525531235
  2. Kurt Rudolph: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005 ISBN 3-525-52110-3