Ästhetik

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Die Ästhetik (griech. aísthesis: Wahrnehmung) wurde bis zum 19. Jahrhundert vorwiegend als Lehre von der Schönheit (Kallistik) aufgefasst. Allgemeiner versteht man darunter heute die Theorie und Philosophie der sinnlichen Wahrnehmung. Der deutsche Philosoph Gernot Böhme lehnt eine ausschließlich intellektualistische Interpretation der Kunst ab und versteht und Ästhetik phänomenologisch als Aisthetik, d.h. als allgemeine Wahrnehmungslehre, die auf der sinnlich-seelischen Wahrnehmung objektiver Stimmungen und ästhetischer Atmosphären aufbaut. Er greift dabei auch auf Hermann Schmitz zurück, den Begründer der Neuen Phänomenologie, der einen ähnlichen Ansatz verfolgt.

Die subjektive und die objektive Seite des ästhetischen Erlebens

Fragen der Ästhetik sind in der Regel nur sehr schwer zu entscheiden, da das ästhetische Erleben eine objektive und eine subjektive Seite hat. Entsprechend kann auch der ästhetische Wert eines Kunstwerks mehr nach objektiven oder mehr nach subjektiven Kriterien beurteilt werden. Beides hat seine Berechtigung. Es ist hier auf einer höheren Ebene ähnlich wie bei der Ernährung. Es gibt objektive Kriterien, nach denen sich die Qualität eines Nahrungsmittels beurteilen lässt. Ob es uns auch schmeckt und unserem Organismus wohltut, ist eine ganz andere Frage und hängt von unseren subjektiven persönlichen Voraussetzungen ab. Ähnlich ist es auch um das ästhetische Erleben bestellt.

Objektive Schönheitskriterien

Schön im objektiven Sinn ist nach Rudolf Steiner etwas, wenn sich das, was ihm geistig-wesenhaft zugrunde liegt, unmittelbar in seiner sinnlichen Erscheinung offenbart. Das Sinnliche erscheint dann, befreit von allen Zufälligkeiten und Unzulänglichkeiten, selbst bereits als ein Geistiges. Einer entsprechende ästhetische Anschauung hat Rudolf Steiner schon sehr früh formuliert. In einem Notizbuch aus dem Jaht 1888 heißt es:

"Der Künstler schafft das Individuum um, er verleiht ihm den Charakter der Allgemeinheit; er macht es aus einem bloß Zufälligen zu einem Notwendigen, aus einem Irdischen zu einem Göttlichen. Nicht der Idee sinnliche Gestalt zu geben, ist die Aufgabe des Künstlers, nein, sondern das Wirkliche im idealen Lichte erscheinen zu lassen. Das Was ist der Wirklichkeit entnommen, darauf aber kommt es nicht an, das Wie ist Eigentum der gestaltenden Kraft des Genius, und darauf kommt es an." (Lit.: GA 271, S. 12)

Subjektives Schönheitsempfinden

Ob das objektiv Schöne aber auch als solches erlebt wird und unser Wohlgefallen findet, steht auf einem ganz anderen Blatt. Über Geschmack lässt sich tatsächlich in gewissem Sinn nicht streiten, er ist eine Frage des persönlichen Erlebens. Das liegt nach Steiner daran, dass das ästhetische Erleben eine zweifache Wurzel hat. Einerseits wirken die gestaltenden Kräfte des Kunstwerks unmittelbar im Inneren des Menschen auf den Ätherleib und den physischen Leib. Dieser Vorgang bleibt zunächst weitgehend unbewusst. Auf der anderen Seite steht die bewusste äußere Wahrnehmung des Kunstwerks mittels Astralleib und Ich. Stehen diese beiden Strömungen im harmonischen Einklang miteinander, so empfinden wir das Kunstwerk als schön, im anderen Fall nicht.

"Eine gewisse Berechtigung hat schon der Satz: Über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Man hat eben für irgendeine Sache Geschmack oder hat ihn nicht, hat ihn schon der hat ihn noch nicht. Woher kommt dieses? Sehen Sie, das kommt davon her, daß bei aller Wahrnehmung desjenigen, auf das wir die Idee des Schönen anwenden, eigentlich ein doppeltes Wahrnehmen vorhanden ist. Sie nehmen einen Gegenstand, den Sie so betrachten, wahr, erstens indem er eine gewisse Wirkung auf Sie ausübt, auf physischen und Ätherleib. Dies ist die eine Strömung, möchte ich sagen, die von dem schönen Objekt zu Ihnen kommt, die Strömung, die auf den physischen und auf den Ätherleib geht, gleichgültig, ob Sie eine Malerei, eine Skulptur oder irgend etwas vor sich haben, die Wirkung geschieht auf physischen und Ätherleib. Außerdem erleben Sie im Ich und im Astralleibe dasjenige mit, was draußen ist. Sie erleben tatsächlich eine Doppelwahrnehmung. Und je nachdem Sie in der Lage sind, das eine mit dem anderen in Harmonie oder Disharmonie zu bringen, finden Sie das betreffende Objekt schön oder häßlich. Das Schöne ist unter allen Umständen darin gelegen, daß auf der einen Seite Ihr Ich und Astralleib, auf der anderen Seite Ihr physischer und Ätherleib zusammenschwingen, miteinander in Einklang kommen. Es muß ein innerer Prozeß, ein innerer Vorgang stattfinden, damit Sie etwas als schön erleben können." (Lit.: GA 176, S. 112f)

Mit dem nüchternen Intellekt lässt sich Schönheit nicht empfinden. Das Schönheitserlebnis ist vielmehr unserem Traumleben verwandt, das wiederum eng mit den Fühlen zusammenhängt:

"Hätten wir nicht die Möglichkeit zu träumen und die Fortsetzung dieser Traumeskraft in unserem Inneren, so hätten wir keine Schönheit. Für das prosaische Dasein müssen wir sagen: Wir verdanken es der Traumeskraft, daß wir eine Erinnerung haben; für das künstlerische Dasein des Menschen verdanken wir der Traumeskraft die Schönheit. Die Art, wie wir ein Schönes empfinden und ein Schönes schaffen, ist nämlich sehr ähnlich der webenden wirkenden Kraft des Träumens." (Lit.: GA 228, S. 47)

Ästhetisches Empfinden und Wesensglieder

Ästhetische Eindrücke wirken in anderer Weise auf die Wesensglieder als moralische Impulse.

"Jetzt wollen wir andeuten, wie die ästhetischen Impulse in den Menschen hereinstrahlen (Zeichnung II). Da sind die Dinge etwas verschoben, und zwar einfach um eins hinauf verschoben. Da muß man dasjenige, was man vorher noch in das Haupt hereingezeichnet hat, hoher zeichnen, so daß es das Haupt gleichsam umschwebt. Im Ästhetischen wird das Ich umflossen und das Ästhetische strömt gleich in den astralischen Leib herein, so daß man den Eindruck hat, wie wenn das Haupt von dem Ich im Ästhetischen umschwebt würde. Wer ein wenig Gefühl und Empfinden des Schönen hat, der kann schon, ohne besonders stark hellfühlend zu sein, empfinden, wie er beim Anblick irgendeines Kunstwerkes eigentlich in einer äußeren Umgebung des Kopfes lebt. Dagegen die unmittelbare Ergreifung des Menschen, die ist im Kopf drinnen; da wird der astralische Leib ergriffen, so daß wir hier die Strahlungen so zu zeichnen hätten.

Dagegen der Brustteil wird so ergriffen beim Schönen, damit dieses Auf- und Abwogen, das ich gestern beschrieben habe, stattfinden kann, daß jetzt das Ätherische den Brustteil durchglüht, könnte man sagen. Und das wirklich Schöne wirkt so, daß außer der Kopfaura, dem Kopf und dem Brustteil eigentlich nichts in Betracht kommen soll. Also dasjenige, worin die Sophrosyne lebt, das soll für die Betrachtung des Schönen in Wirklichkeit gar nicht in Betracht kommen. Unser materialistisches Zeitalter aber zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es die Sexualsphäre für die künstlerische Betrachtung so sehr heranzog - ein Unfug unseres materialistischen Zeitalters - , denn die kommt gerade bei der Betrachtung des Schönen absolut nicht in Betracht, sondern ist absolut ausgeschlossen. So daß wir also nur das Ailerniederste der ästhetischen Betrachtung, was nicht mehr in das Reich der Kunst gehört, in das Physische zu verlegen hätten (rot)." (Lit.: GA 170, S. 80f)

Zeichnung aus GA 170, S 81
Zeichnung aus GA 170, S 81

Das künstlerische Schaffen und Genießen verlebendigt die Sinnesorgane und durchseelt die Lebensprozesse

Wie Rudolf Steiner sehr ausführlich dargestellt hat, werden im ästhetischen Schaffen und Genießen die Sinnesorgane verlebendigt und die Lebensprozesse durchseelt. Steiner Darstellungen über die 12 Sinne des Menschen und über die grundlegenden 7 Lebensprozesse müssen für das Verständnis des nachstehenden Textes vorausgesetzt werden:

"Es ist jede menschliche Art und Betätigung von einer gewissen Richtung her zu verstehen, wenn man in der rechten Art und Weise die nötigen Fragen stellt an das, was wir in den letzten Betrachtungen vor unsere Seele hingestellt haben. Wir haben zum Beispiel gesagt: Die Sinnesbezirke, so wie sie heute im Menschen sind, sind gewissermaßen voneinander getrennte und ruhende Bezirke, wie die Tierkreisbilder draußen im Weltenraume ruhende Bezirke sind, im Gegensatz zu dem, was in den Planeten erscheint, die da kreisen, die da wandeln, die ihren Ort in verhältnismäßig rascher Weise ändern. So sind die Sinnesbezirke gewissermaßen fest abgegrenzt in ihren Regionen, während die Lebensprozesse durch den ganzen Organismus pulsen und die einzelnen Sinnesbezirke durchkreisen, das heißt durchkraften in ihrem Wirken.

Nun haben wir aber auch gesagt, daß während der alten Mondenzeit [siehe -> Planetarische Weltentwicklungsstufen] unsere heutigen Sinnesorgane noch Lebensorgane waren, daß sie noch gewirkt haben als Lebensorgane, und daß unsere heutigen Lebensorgane noch im wesentlichen mehr seelischer Art waren in der alten Mondenzeit. Nun denken Sie an das, was ja öfter betont worden ist: daß es einen Atavismus gibt im menschlichen Leben, eine Art Wiederum-Zurückkehren zu den Gewohnheiten, zu den Eigentümlichkeiten dessen, was früher einmal — in diesem Falle während der Mondenzeit - naturgemäß war; eine Art Zurückfallen. Wir wissen, daß es ein atavistisches Zurückfallen gibt in die An der traumhaft-imaginativen Anschauungsweise der Mondenzeit. Dieses atavistische Zurückfallen in Mondenvisionen müssen wir heute als krankhaft bezeichnen.

Nun bitte, fassen Sie streng ins Auge: Nicht die Visionen als solche sind krankhaft, denn sonst wäre ja alles, was der Mensch während der Mondenzeit erlebt hat, wo er nur in solchen Visionen lebte, als krankhaft zu bezeichnen, und man wäre genötigt zu sagen, der Mensch hat während der Mondenzeit einen Krankheitsprozeß, noch dazu einen seelischen Krankheitsprozeß durchgemacht, er war verrückt während der alten Mondenzeit. Das wäre natürlich ein vollständiger Unsinn, das kann man nicht sagen. Das Krankhafte liegt nicht in den Visionen als solchen, sondern es liegt darin, daß sie in der gegenwärtigen Erdenorganisation des Menschen so vorhanden sind, daß sie nicht ertragen werden, daß sie so angewendet werden von dieser Erdenorganisation, wie es ihnen als Mondenvisionen nicht angemessen ist. Denken Sie, wenn einer eine Mondenvision hat, so ist diese ja eigentlich nur geeignet, zu einem Gefühle, zu einer Tätigkeit, zu einer Handlung zu führen, wie es dem Monde entsprechend war. Wenn er aber eine Mondenvision hier während der Erdenzeit hat und er macht solche Dinge, wie man sie nur mit einem Erdenorganismus tut, so besteht darin das Krankhafte. Und das tut er nur, weil sein Erdenorganismus die Vision nicht erträgt, wenn sich der Erdenorganismus gewissermaßen imprägniert mit der Vision. Nehmen Sie den gröbsten Fall: Jemand wird veranlaßt, eine Vision zu haben. Statt nun mit dieser Vision ruhig zu bleiben und sie innerlich anzuschauen, wendet er sie irgendwie, während sie nur auf die geistige Welt anzuwenden ist, auf die physische Welt an und verhält sich danach mit seinem Leib. Das heißt, er fängt an zu toben, weil die Vision seinen Leib durchdringt, durchkraftet, was sie nicht sollte. Da haben Sie den gröbsten Fall. Sie sollte stehenbleiben innerhalb der Region, in der die Vision lebt, und das tut sie nicht, wenn sie heute als atavistische Vision nicht ertragen wird von dem physischen Leib. Wenn der physische Leib zu schwach ist, um aufzukommen gegen die Vision, dann tritt Kraftlosigkeit ein. Wenn der physische Leib stark genug ist, um gegen sie aufzukommen, dann schwächt er die Vision ab. Sie hat dann nicht jenen Charakter, durch den sie einem vorlügt, sie wäre etwas gleich einem Dinge oder Vorgang in der Sinneswelt; denn das lügt ja die Vision demjenigen vor, der dadurch krankhaft wird. Wenn also der physische Organismus so stark ist, daß er die Neigung der atavistischen Vision, zu lügen, bekämpft, dann wird das Folgende eintreten: dann wird der Mensch stark genug sein, sich in einer ähnlichen Weise zur Welt zu verhalten, wie während der alten Mondenzeit, und doch dieses Verhalten dem heutigen Organismus anzupassen.

Was heißt denn das? Das heißt, der Mensch wird seinen Tierkreis mit den zwölf Sinnesbezirken innerlich etwas verändern. Er wird ihn so verändern, daß in diesem Tierkreis mit seinen zwölf Sinnesbezirken mehr Lebensprozesse als Sinnesprozesse sich abspielen, oder besser gesagt, Prozesse sich abspielen, die zwar den Sinnesprozeß anschlagen, aber ihn in dem Sinnesbezirk zum Lebensprozeß umgestalten, also den Sinnesprozeß aus dem Toten, das er heute hat, herausheben und ins Lebendige umsetzen, so daß der Mensch sieht, aber in dem Sehen zugleich drinnen etwas lebt; daß er hört und zugleich in dem Hören drinnen etwas lebt, wie es sonst nur im Magen lebt oder auf der Zunge, so im Auge und so im Ohr. Die Sinnesprozesse werden eben in Bewegung gebracht. Ihr Leben wird angeregt. Das kann ruhig geschehen. Dann wird diesen Sinnesorganen einverleibt etwas von dem, was sonst nur die Lebensorgane heute in demselben Grade haben. Die Lebensorgane haben eine starke innerliche Durchkraftung mit Sympathie und Antipathie. Denken Sie, wie das ganze Leben abhängt von Sympathie und Antipathie! Das eine wird aufgenommen, das andere abgestoßen. Das, was die Lebensorgane sonst entfalten an sympathischen und antipathischen Kräften, das wird gleichsam den Sinnesorganen wieder eingeflößt. Das Auge sieht nicht nur das Rot, sondern es empfindet Sympathie oder Antipathie mit der Farbe. Das Durchdrungensein mit Leben strömt wieder zu den Sinnesorganen zurück. So daß wir also sagen können: Die Sinnesorgane werden wiederum Lebensbezirke in einer gewissen Weise.

Die Lebensprozesse müssen dann auch verändert werden. Und das geschieht so, daß die Lebensprozesse durchseelter werden als sie für das Erdenleben sind. Es geschieht so, daß die drei Lebensprozesse -Atmung, Wärmung, Ernährung - gewissermaßen zusammengefaßt und beseelt werden, seelischer auftreten. Bei der gewöhnlichen Atmung atmet man die derbe materielle Luft, bei der gewöhnlichen Wärmung die Wärme und so weiter. Nun aber findet eine Art Symbiose statt, das heißt die Lebensprozesse bilden dann eine Einheit, wenn sie durchseelt werden. Sie sind nicht getrennt wie im jetzigen Organismus, sondern sie bilden eine Art Verbindung miteinander. Eine innige Gemeinschaft schließen Atmung, Wärmung, Ernährung im Menschen - nicht die grobe Ernährung, sondern etwas, was Ernährungsprozeß ist; der Prozeß läuft ab, aber man braucht nicht zu essen dabei, aber er läuft auch nicht allein ab wie beim Essen, sondern mit den anderen Prozessen zusammen.

Ebenso werden die vier anderen Lebensprozesse vereinigt. Absonderung, Erhaltung, Wachstum, Reproduktion werden vereinigt und bilden wiederum mehr einen beseelten Prozeß, einen Lebensprozeß, der also mehr seelisch ist. Und dann können sich die zwei Partien selber wieder vereinigen, so daß nicht etwa alle Lebensprozesse zusammenwirken, sondern so zusammenwirken, daß sie sich in drei und vier gliedern, die drei mit den vieren zusammenwirken.

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Dadurch entstehen - ähnlich, aber nicht ebenso, wie es jetzt auf der Erde ist - Seelenkräfte, die den Charakter von Denken, Fühlen und Wollen haben: auch drei. Die sind nun anders; nicht Denken, Fühlen und Wollen so wie auf der Erde, sondern etwas anders. Sie sind mehr Lebensprozesse, nicht solch abgesonderte Lebensprozesse wie die der Erde sind. Der Prozeß ist ein sehr intimer, feiner, der da in dem Menschen stattfindet, wo er dieses gleichsam Zurücksinken in den Mond verträgt, wo es nicht zu Visionen kommt, und dennoch eine ähnliche Art, eine leise ähnliche Art des Auffassens stattfindet, wo die Sinnesbezirke zu Lebensbezirken werden, die Lebensprozesse zu Seelenprozessen. Auch kann der Mensch nicht immer so bleiben, denn er würde dann für die Erde unbrauchbar sein. Der Erde ist er ja angepaßt dadurch, daß seine Sinne und auch seine Lebensorgane so sind, wie wir sie beschrieben haben. Aber in gewissen Fällen kann sich der Mensch doch so gestalten, und wenn er sich so gestaltet, dann tritt bei ihm, wenn die Gestaltung sich mehr auf das Wollen legt, ästhetisches Schaffen ein, wenn sich die Gestaltung mehr auf das Auffassen verlegt, auf das Wahrnehmen, ästhetisches Genießen. Das wirkliche ästhetische Verhalten des Menschen besteht darin, daß die Sinnesorgane in einer gewissen Weise verlebendigt werden, und die Lebensprozesse durchseelt werden. Dies ist eine sehr wichtige Wahrheit über den Menschen, denn sie bringt uns vieles zum Verständnis. Jenes stärkere Leben der Sinnesorgane und andersartige Leben der Sinnesgebiete, als das im gewöhnlichen der Fall ist, müssen wir in der Kunst und im Kunstgenuß suchen. Und ebenso ist es bei den Lebensvorgängen, die im Kunstgenuß durchseelter sind als im gewöhnlichen Leben. Weil man diese Dinge nicht der Wirklichkeit gemäß betrachtet in unserer materialistischen Zeit, kann das Bedeutungsvolle der ganzen Veränderung, die mit dem Menschen vorgeht, wenn er im Künstlerischen drinnensteht, auch nicht voll erfaßt werden. Heute betrachtet man ja den Menschen doch mehr oder weniger als ein grob abgeschlossenes Wesen. Aber innerhalb gewisser Grenzen ist doch der Mensch variabel. Und das zeigt eine solche Variabilität, wie wir sie jetzt eben betrachtet haben. Wenn Sie so etwas wie das eben Ausgeführte haben, dann liegen darinnen eingeschlossen weite, weite Wahrheiten. Um eine solche Wahrheit nur zu erwähnen: Gerade diejenigen Sinne, welche am meisten für den physischen Plan eingerichtet sind, die müssen die größte Veränderung erfahren, wenn sie so gewissermaßen halb ins Mondendasein zurückgeleitet werden. Der Ichsinn, der Denksinn, der grobe Tastsinn, sie müssen, weil sie ja in ganz robustem Sinne für die physische Welt der Erde geeignet sind, sich ganz ändern, wenn sie derjenigen Konstitution des Menschen dienen sollen, welche diesen Weg halb in die Mondenzeit zurückmacht.

So wie wir im Leben dem Ich gegenüberstehen, wie wir im Leben der Gedankenwelt gegenüberstehen, können wir es zum Beispiel in der Kunst schon nicht brauchen. Höchstens in einigen Nebenkünsten kann ein gleiches Verhältnis zum Ich und zum Denken stattfinden wie in dem gewöhnlichen physischen Erdenleben. Einen Menschen seinem Ich nach unmittelbar, wie er in der Wirklichkeit drinnensteht, schildern, porträtieren, gibt keine Kunst. Der Künstler muß mit dem Ich etwas machen, einen Prozeß machen, wodurch er dieses Ich aus der Spezialisierung heraushebt, in der es heute im Erdenprozesse lebt, er muß ihm eine allgemeinste Bedeutung verleihen, etwas Typisches geben. Das tut der Künstler ganz von selber. Ebenso kann der Künstler nicht die Gedankenwelt unmittelbar so künstlerisch zum Ausdruck bringen, wie man sie für die gewöhnliche Erdenwelt zum Ausdruck bringt; denn sonst wird er keine Dichtung oder überhaupt kein Kunstprodukt hervorbringen, sondern höchstens ein lehrhaftes Produkt, irgend etwas Didaktisches, was niemals ein Künstlerisches im wahren Sinne des Wortes sein kann. Die Veränderungen, die da der Künstler vornimmt mit dem, was da ist, die sind ein gewisses Zurückführen zur Verlebendigung der Sinne in der Richtung, wie ich das hier angeführt habe.

Aber es kommt noch etwas dazu, was wir bedenken müssen, wenn diese Veränderung der Sinne ins Auge gefaßt wird. Die Lebensprozesse greifen ineinander, sagte ich. Wie die Planeten einer den ändern bedecken und in ihrem gegenseitigen Verhältnis eine Bedeutung haben, während die Sternbilder ruhig bleiben, so werden die Sinnesbezirke, wenn sie gleichsam ins planetarische Menschenleben übergehen, beweglich, lebendig werden, sie werden zueinander Beziehungen erlangen, und daher kommt es, daß das künstlerische Wahrnehmen niemals so auf besondere Sinnesbezirke geht wie das gewöhnliche irdische Wahrnehmen. Es treten auch die einzelnen Sinne in gewisse Beziehungen zueinander. Nehmen wir irgendeinen Fall, zum Beispiel die Malerei.

Für eine von der wirklichen Geisteswissenschaft ausgehende Betrachtung stellt sich folgendes heraus: Für die gewöhnliche Sinnesbeobachtung hat man es zu tun für das Sehen und für den Wärmesinn, für den Geschmackssinn und für den Geruchssinn mit abgesonderten Sinnesbezirken. Da trennt man diese Bezirke. In der Malerei findet eine merkwürdige Symbiose, ein merkwürdiges Zusammengehen dieser Sinnesbezirke statt, nur nicht in den groben Organen, sondern in der Verbreiterung der Organe, wie ich es angedeutet habe in vorhergehenden Vorträgen.

Der Maler oder der die Malerei Genießende sieht nicht bloß den Inhalt der Farbe an, das Rot oder das Blau oder das Violett, sondern er schmeckt die Farbe in Wirklichkeit, nur nicht mit dem groben Organ, sonst müßte er mit der Zunge dran lecken; das tut er ja nicht. Aber mit alledem, was zusammenhängt mit der Sphäre der Zunge, geht etwas vor, was in feiner Weise ähnlich ist dem Geschmacksprozeß. Also wenn Sie einfach einen grünen Papagei anschauen durch den sinnlichen Auffassungsprozeß, so sehen Sie mit Ihren Augen die Grünheit der Farbe. Wenn Sie aber eine Malerei genießen, so geht ein feiner imaginativer Vorgang vor in dem, was hinter Ihrer Zunge liegt und noch zum Geschmackssinn der Zunge gehört, und nimmt teil an dem Sehprozeß. Es sind ähnlich feine Vorgänge wie sonst, wenn Sie schmek-ken und die Nahrungsmittel verspeisen. Nicht das, was auf der Zunge vorgeht, sondern was sich erst an die Zunge anschließt, feinere physiologische Prozesse, die gehen zugleich mit dem Sehprozeß vor sich, so daß der Maler die Farbe im tieferen seelischen Sinne wirklich schmeckt. Und die Nuancierung der Farbe, die riecht er, aber nicht mit der Nase, sondern mit dem, was bei jedem Riechen seelischer, tiefer in dem Organismus vorgeht. So finden solche Zusammenlagerungen der Sinnesbezirke statt, indem die Sinnesbezirke mehr in Lebensvorgänge, in Bezirke für Lebensvorgänge übergehen.

Wenn wir eine Beschreibung lesen, durch die wir nur unterrichtet werden sollen, wie etwas aussieht oder was mit etwas geschieht, da lassen wir unseren Sprachsinn wirken, den Wortsinn, durch dessen Vermittelung wir informiert werden über dies oder jenes. Wenn wir ein Gedicht anhören, und hören es ebenso an, wie wir etwas anhören, was uns bloß informieren soll, da verstehen wir das Gedicht nicht. Das Gedicht lebt sich zwar so aus, daß wir es durch den Sprachsinn wahrnehmen, aber wenn bloß der Sprachsinn auf das Gedicht gerichtet ist, da verstehen wir es nicht. Es muß außer dem Sprachsinn auf das Gedicht noch gerichtet sein der durchseelte Gleichgewichtssinn und der durchseelte Bewegungssinn; aber eben durchseelt. Da entstehen also wiederum Zusammenlagerungen, Zusammenwirkungen der Sinnesorgane, indem der ganze Sinnesbereich in den Lebensbereich übergeht. Und begleitet muß das alles werden von beseelten, in Seelisches verwandelten Lebensprozessen, die nur nicht so wirken wie die gewöhnlichen Lebensprozesse der physischen Welt.

Wenn einer beim Anhören eines Musikstückes den vierten Lebensprozeß so weit bringt, daß er schwitzt, so geht das zu weit; das gehört nicht mehr zum Ästhetischen, da ist die Absonderung bis zur physischen Absonderung getrieben. Aber erstens soll es nicht zur physischen Absonderung kommen, sondern der Prozeß als seelischer Prozeß verlaufen, aber genau derselbe Prozeß soll verlaufen, der der physischen Absonderung zugrunde liegt, und zweitens soll die Absonderung nicht für sich auftreten, sondern die vier zusammen - aber alle seelisch -: Absonderung, Wachstum, Erhaltung und Reproduktion. Also die Lebensprozesse werden seelischere Prozesse.

Auf der einen Seite wird die Geisteswissenschaft der Erdenentwickelung die Hinlenkung zur geistigen Welt zu bringen haben, ohne die, wie wir aus Verschiedenem gesehen haben, die Menschheit in der Zukunft verderben wird. Aber auf der anderen Seite muß durch die Geisteswissenschaft auch wieder die Fähigkeit gebracht werden, das Physische mit dem Geistigen zu erfassen, es zu begreifen. Denn es hat ja der Materialismus nicht nur das gebracht, daß man zum Geistigen nicht recht hin kann, sondern er hat auch das gebracht, daß man das Physische nicht mehr verstehen kann. Denn in allem Physischen lebt der Geist, und wenn man vom Geist nichts weiß, kann man das Physische nicht verstehen. Denken Sie, diejenigen, die vorn Geist nichts wissen, was wissen die davon, daß die ganzen Sinnesbezirke sich so verwandeln können, daß sie Lebensbezirke werden, daß die Lebensprozesse so sich verwandeln können, daß sie als seelische Prozesse auftreten? Was wissen die heutigen Physiologen von diesen feineren Vorgängen im Menschen? Der Materialismus hat allmählich dazu geführt, daß man von allem Konkreten abgekommen ist und zu Abstraktionen gekommen ist, und diese Abstraktionen, die läßt man nach und nach auch fallen. Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts sprach man noch von Vital- oder Lebenskraft. Natürlich kann man mit einem solchen Abstraktum nichts anfangen, denn erst dann begreift man die Sache, wenn man ins Konkrete hineingeht. Wenn man die sieben Lebensprozesse voll erfaßt, dann hat man die Wirklichkeit, und darum handelt es sich, daß man wieder das Wirkliche bekommt. Mit der Erneuerung von allerlei Abstraktionen wie «Elan vital» oder ähnlichen greulichen Abstraktionen, die nichts besagen, sondern nur Eingeständnisse des Unvermögens, zu erkennen, sind, wird man die Menschheit, trotzdem man vielleicht das Gegenteil will, nur immer mehr in den plumpesten Materialismus, weil sogar in einen mystischen Materialismus, hineinführen. Um das wirkliche Erkennen handelt es sich bei der nächsten Zukunftsentwickelung der Menschheit, um das Erkennen der Tatsachen, die sich nur aus der geistigen Welt heraus ergeben. Und vorrücken müssen wir wirklich in bezug auf die geistige Erfassung der Welt.

Da muß man zunächst auch wiederum zurückdenken an den guten Aristoteles, der der alten Anschauung noch nähergestanden hat als die heutigen Menschen. Nur an eines will ich Sie erinnern bei diesem alten Aristoteles, an eine eigentümliche Tatsache. Es ist eine ganze Bibliothek geschrieben worden über die Katharsis, durch die er darstellen wollte, was der Tragödie zugrunde liegt. Aristoteles sagt: Die Tragödie ist eine zusammenhängende Darstellung von Vorgängen des menschlichen Lebens, durch deren Verlauf die Affekte Furcht und Mitleid erregt werden; aber indem sie erregt werden, wird die Seele zu gleicher Zeit durch die Art des Ablaufes von Furcht und Mitleid zur Läuterung, zur Katharsis von diesen Affekten geführt. - Es ist viel darüber im Zeitalter des Materialismus geschrieben worden, weil man gar nicht das Organ hatte, Aristoteles zu verstehen. Erst diejenigen haben recht, die eingesehen haben, daß Aristoteles eigentlich in seiner Art - nicht im Sinne der heutigen Materialisten - einen medizinischen, halb medizinischen Ausdruck mit der Katharsis meint. Weil die Lebensprozesse seelische Prozesse werden, bedeuten für das ästhetische Empfangen der Eindrücke von der Tragödie die Vorgänge der Tragödie wirklich eine bis ins Leibliche hineingehende Erregung der Prozesse, die sonst als Lebensvorgänge Furcht und Mitleid begleiten. Und geläutert, das heißt zu gleicher Zeit durchseelt werden diese Lebensaffekte durch die Tragödie. Das ganze Seelische des Lebensprozesses liegt in dieser Definition des Aristoteles darinnen. Und wenn Sie mehr lesen in der «Poetik» des Aristoteles, dann werden Sie sehen, daß da - jetzt nicht aus unserer modernen Erkenntnisart heraus, sondern aus der alten Mysterientradition heraus - etwas wie ein Hauch von diesem tiefergehenden Verständnis des ästhetischen Menschen lebt. Beim Lesen der «Poetik» des Aristoteles wird man noch viel mehr ergriffen vom unmittelbaren Leben, als man heute ergriffen werden kann, wenn man irgendeine ästhetische Abhandlung der gewöhnlichen Ästhetiker liest, die nur so an den Dingen herumschnüffeln und herumdialektisieren, aber nicht an die Dinge herankommen.

Dann ist wiederum ein bedeutender Höhepunkt in der Erfassung des ästhetischen Menschen bei Schiller in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen». Es war damals eine mehr abstrakte Zeit. Das Geistig-Konkrete, das Spirituelle haben wir erst jetzt zu dem Idealistischen hinzuzufügen. Aber wenn wir auf dieses mehr Abstrakte der Goethe-Schiller-Zeit sehen, so sehen wir doch in den Abstraktionen, die sich in Schillers ästhetischen Briefen finden, etwas von dem, was hier gesagt worden ist, nur daß hier der Prozeß scheinbar mehr ins Materielle hinuntergetragen wird; aber nur, weil dieses Materielle noch mehr durch die Kraft des intensiv erfaßten Geistigen durchdrungen werden soll. Was sagt Schiller? Er sagt: Der Mensch, wie er hier lebt auf der Erde, hat zwei Grundtriebe, den Vernunfttrieb und den Naturtrieb. Der Vernunfttrieb wirkt durch Naturnotwendigkeit logisch. Man ist gezwungen, in einer gewissen Weise zu denken, man hat keine Freiheit zu denken; denn was hilft es einem, auf diesem Gebiete der Vernunftnotwendigkeit von Freiheit zu sprechen, wenn man doch gezwungen ist, nicht zu denken, daß drei mal drei zehn, sondern neun ist. Die Logik bedeutet eine strenge Vernunftnotwendigkeit. So daß Schiller sagt: Wenn der Mensch sich der reinen Vernunftnotwendigkeit fügt, dann steht er unter einem geistigen Zwang.

Der Vernunftnotwendigkeit stellt Schiller die sinnliche Notdurft entgegen, die in alledem, was in den Trieben, in den Emotionen ist, lebt. Da folgt der Mensch auch nicht seiner Freiheit, sondern der Naturnotwendigkeit. Nun sucht Schiller den mittleren Zustand zwischen der Vernunftnotwendigkeit und der Naturnotwendigkeit. Und diesen mittleren Zustand findet er darin, daß die Vernunftnotwendigkeit sich gewissermaßen herabneigt zu dem, was man liebt und nicht liebt, daß man nicht mehr einer starren logischen Notwendigkeit folgt, wenn man denkt, sondern dem inneren Triebe, die Vorstellungen zu fügen oder nicht zu fügen, wie es beim ästhetischen Gestalten der Fall ist. Aber dann geht auch die Naturnotwendigkeit herauf. Dann ist es nicht mehr die sinnliche Notdurft, der man wie unter einem Zwang folgt, sondern es wird die Notdurft verseeligt, vergeistigt. Der Mensch will nicht mehr bloß dasjenige, was sein Leib will, sondern es wird der sinnliche Genuß vergeistigt. Und so nähern sich Vernunftnotwendigkeit und Naturnotwendigkeit.

Sie müssen das natürlich in Schillers ästhetischen Briefen, die zu den bedeutendsten philosophischen Erzeugnissen in der Weltentwickelung gehören, selber nachlesen. In dem, was da Schiller auseinandersetzt, lebt schon das, was wir hier eben gehört haben, nur in metaphysischer Abstraktion. Was Schiller das Befreien der Vernunftnotwendigkeit von der Starrheit nennt, das lebt in dem Lebendigwerden der Sinnesbezirke, die wiederum bis zum Lebensvorgang zurückgeführt werden. Und das, was Schiller die Vergeistigung - besser sollte er sagen «Verseeligung» - der Naturnotdurft nennt, das lebt hier, indem die Lebensprozesse wie Seelenprozesse wirken. Die Lebensprozesse werden seelischer, die Sinnesprozesse werden lebendiger. Das ist der wahre Vorgang, der - nur mehr in abstrakte Begriffe, in Begriffsgespinste gebracht - sich in Schillers ästhetischen Briefen findet, wie es eben in der damaligen Zeit noch sein mußte, wo man noch nicht spirituell stark genug war mit den Gedanken, um bis in das Gebiet hinunterzukommen, wo der Geist so lebt, wie es der Seher will: daß nicht gegenübergestellt wird Geist und Stoff, sondern erkannt wird, wie der Geist überall den Stoff durchzieht, daß man gar nirgends auf geistlose Stoffe stoßen kann. Die bloße Gedankenbetrachtung ist nur deshalb bloße Gedankenbetrachtung, weil der Mensch nicht imstande ist, seine Gedanken so stark, das heißt so dicht spirituell, so geistig zu machen, daß der Gedanke den Stoff bewältigt, also hineindringt in den wirklichen Stoff. Schiller ist noch nicht imstande, einzusehen, daß die Lebensprozesse wirklich als Seelenprozesse wirken können. Er ist noch nicht imstande, so weit zu gehen, daß er sieht, wie das, was im Materiellen als Ernährung, Wärmung, Atmung wirkt, sich gestalten, wie das seelisch sprühen und leben kann, und aufhört, das Materielle zu sein; so daß die materiellen Teilchen zerstieben unter der Macht des Begriffes, mit dem man die materiellen Prozesse erfaßt. Und ebensowenig ist Schiller schon imstande, so zum Logischen hinaufzuschauen, daß er es wirklich nicht bloß in begrifflicher Dialektik in sich wirken läßt, sondern daß er in jener Entwickelung, welche erreicht werden kann durch Initiation, das Geistige als den eigenen Prozeß erlebt, so daß es wirklich lebend hineinkommt in das, was sonst bloß Erkenntnis ist. Was in Schillers ästhetischen Briefen lebt, ist deshalb ein «Ich trau mich nicht recht heran an das Konkrete». Aber es pulsiert schon darinnen, was man genauer erfaßt, wenn man das Lebendige durch das Geistige und das Stoffliche durch das Lebendige zu erfassen versucht.

So sehen wir in allen Gebieten, wie die ganze Entwickelung hindrängt zu dem, was Geisteswissenschaft will. Als an der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert eine mehr oder weniger begrifflich gestaltete Philosophie auftauchte, da lebten in dieser Philosophie die Sehnsuchten nach stärkerer Konkretheit, die aber noch nicht erreicht werden konnte. Und weil die Kraft zunächst ausging, verfiel man mit dem Streben, mit der Sehnsucht nach stärkerer Konkretheit, in den groben Materialismus in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, in der zweiten Hälfte bis heute. Aber erfaßt werden muß dieses, daß der Spiritualismus nicht bloß darin bestehen kann, zum Geistigen hinzulenken, sondern das Stoffliche zu überwinden und den Geist im Stoffe zu erkennen. Das geschieht durch solche Erkenntnisse. Sie sehen daraus ganz andere Folgen. Sie sehen daraus, der ästhetische Mensch steht so in der Erdenentwickelung drinnen, daß er sich über diese Erdenentwickelung in einer gewissen Weise erhebt in eine andere Welt hinein. Und das ist wichtig. Der ästhetisch gesinnte oder ästhetisch handelnde Mensch tut nicht, was der Erde völlig angepaßt ist, sondern er erhebt in einer gewissen Weise seine Sphäre aus der Erdensphäre heraus. Und damit dringen wir mit dem Ästhetischen an manches tiefe Geheimnis des Daseins.

Wenn man so etwas sagt, so wird es eigentlich etwas, was auf der einen Seite an die höchsten Wahrheiten rührt, nach der anderen Seite fast blödsinnig, verrückt, verdreht klingen kann. Aber man versteht das Leben nicht, wenn man sich feige zurückzieht vor den wirklichen Wahrheiten. Nehmen Sie irgendein Kunstwerk, die Sixtinische Madonna, die Venus von Milo - wenn es wirklich ein Kunstwerk ist, ganz von der Erde ist es nicht. Es ist herausgehoben aus den Geschehnissen der Erde; das ist ja ganz selbstverständlich. Ja, was lebt denn darinnen für eine Kraft? Was lebt in einer Sixtinischen Madonna, in einer Venus von Milo? Eine Kraft, die auch im Menschen ist, die nur nicht ganz der Erde angepaßt ist. Würde im Menschen alles nur der Erde angepaßt sein, so würde er auf keinem anderen Plane auch leben können. Er würde niemals zum Jupiter hinüberkommen, wenn im Menschen alles der Erde angepaßt wäre. Es ist nicht alles der Erde angepaßt, und für den okkult Blickenden stimmt im Menschen nicht alles zu dem, was Erdenmensch ist. Das sind geheimnisvolle Kräfte, die gerade einstmals dem Menschen den Schwung hinaus aus dem Erdendasein geben werden. Aber auch die Kunst als solche kann nur verstanden werden, wenn man sie in ihrer Aufgabe, über das bloß Irdische, über die bloße Erdenanpassung hinauszuweisen, erfaßt, wo das wirklich ist, was in der Venus von Milo ist.

Man kommt einer wirklichen Weltauffassung nicht nahe, wenn man nicht etwas ins Auge faßt, was ganz notwendig ins Auge gefaßt werden muß, je mehr der Mensch der Zukunft und ihren geistigen Anforderungen entgegengeht. Heute lebt man noch vielfach unter dem Vorurteile: Wenn irgend jemand etwas sagt, was logisch ist und logisch bewiesen werden kann, dann hat es auch die notwendige Bedeutung für das Leben. Aber Logizität, Logizismus allein genügen nicht. Und weil die Menschen immer zufrieden sind, wenn sie etwas irgendwie logisch beweisen können, so behaupten sie auch alle möglichen Weltanschauungen und philosophischen Systeme, die selbstverständlich logisch zu beweisen sind; kein Mensch, der mit Logik bekannt ist, zweifelt, daß sie logisch zu beweisen sind. Aber es ist nichts getan für das Leben mit den bloßen logischen Beweisen, sondern was gedacht wird, was innerlich ersonnen wird, muß nicht nur logisch erdacht, ersonnen sein, sondern wirklichkeitsgemäß. Was bloß logisch ist, gilt nicht; das Wirklichkeitsgemäße nur gilt. Ich werde es Ihnen nur an einem Beispiele klarmachen. Nehmen Sie an, ein Baumstamm liegt hier vor Ihnen, und Sie beschreiben den Baumstamm. Sie können etwas ganz ordentlich beschreiben und Sie können jedem beweisen, daß da ein Wirkliches liegt, weil Sie der äußeren Wirklichkeit gemäß beschrieben haben. Sie haben aber doch eigentlich nur eine Lüge beschrieben. Denn das, was Sie da beschreiben, hat kein Dasein, weil es so nicht wirklich sein kann als Baumstamm, der da liegt; sondern von dem Baumstamm hat man die Wurzeln abgeschnitten, hat man die Äste, die Zweige abgeschnitten, und das Stück, das da liegt, das tritt nur ins Dasein so, daß Äste und Blüten und Wurzeln mit ins Dasein treten, und es ist Unsinn, den Stamm als ein Wirkliches zu denken. So wie er sich zeigt, ist er kein Wirkliches. Man muß ihn mit seinen Trieben, mit dem, was er innerlich enthält, damit er entstehen kann, zusammennehmen. Man muß überzeugt sein davon, daß das, was da vor einem liegt als Stamm, eine Lüge ist, weil man nur, wenn man einen Baum ansieht, eine Wahrheit vor sich hat. Logisch ist es nicht gefordert, daß man einen Baumstamm für eine Lüge ansieht, aber wirklichkeitsgemäß ist es gefordert, daß man einen Baumstamm für eine Lüge ansieht und nur einen ganzen Baum für eine Wahrheit. Ein Kristall ist eine Wahrheit, der kann bestehen für sich in einer gewissen Beziehung, allerdings immer nur in einer gewissen Beziehung, denn relativ ist wieder das alles. Aber eine Rosenknospe ist keine Wahrheit. Ein Kristall ist eine Wahrheit; aber eine Rosenknospe ist eine Lüge, wenn man sie nur als eine Rosenknospe ansieht.

Sehen Sie, weil man diese Begriffe des Wirklichkeitsgemäßen nicht hat, entstehen allerlei solche Dinge, wie sie heute entstehen. Kristallographie, auch noch zur Not Mineralogie sind wirklichkeitsgemäße Wissenschaften; Geologie nicht mehr, denn das, was der Geologe beschreibt, ist ebenso eine Abstraktion, wie der Baumstamm eine Abstraktion ist. Wenn er auch daliegt, so ist er doch eine Abstraktion, keine Wirklichkeit. Was geologisch die Erdkruste enthält, das enthält mit dasjenige, was aus ihr herauswächst und ist ohne das nicht denkbar. Und darauf kommt es an, daß Philosophen auftreten, die sich nicht gestatten, Abstraktionen anders zu denken, als indem sie sich der abstrahierenden Kraft bewußt sind, das heißt, indem sie wissen, sie machen bloß Abstraktionen. Wirklichkeitsgemäß denken, nicht bloß logisch denken, das ist etwas, was immer mehr und mehr kommen muß. Unter diesem wirklichkeitsgemäßen Denken aber ändert sich unsere gesamte Weltentwickelung. Denn was ist denn vom Standpunkte eines wirklichkeitsgemäßen Denkens die Venus von Milo, die Sixtinische Madonna oder anderes? Vom Erdenstandpunkte aus aufgefaßt eine Lüge, keine Wahrheit. Nimmt man sie so, wie sie sind, steht man nicht in der Wahrheit. Man muß entrückt werden. Nur der betrachtet ein wirkliches Kunstwerk richtig, der aus der Erdensphäre entrückt wird, weggenommen wird, der wirklich vor der Venus von Milo so steht, daß er anders seelisch konstituiert ist, als er den irdischen Dingen gegenüber konstituiert ist; denn dadurch wird er gerade durch das, was nicht hier wirklich ist, hineingestoßen in das Gebiet, wo es wirklich ist, in das Gebiet der elementarischen Welt, wo das wirklich ist, was in der Venus von Milo ist. Gerade dadurch steht man wirklichkeitsgemäß der Venus von Milo gegenüber, daß sie die Kraft besitzt, einen herauszureißen aus dem bloßen sinnlichen Anschauen.

Ich will nicht Teleologie treiben in schlechtem Sinne, das sei weit entfernt. Daher soll auch nichts gesagt werden über den Zweck der Kunst, denn das wäre außerdem Pedanterie, Philistrosität. Nicht über den Zweck der Kunst soll gesprochen werden. Aber was aus der Kunst wird, wodurch sie dasteht im Leben, das kann man sich beantworten. Es ist heute nicht mehr Zeit, das ganz zu beantworten, ich will nur mit ein paar Worten vorläufig darauf hindeuten. Man kann manches beantworten, wenn man sich die Gegenfrage stellt: Was würde denn geschehen, wenn nun gar keine Kunst in der Welt wäre? — Da würden alle die Kräfte, die sonst in die Kunst und in den Kunstgenuß hineingehen, verwendet werden, um unwirklichkeitsgemäß zu leben. Streichen Sie die Kunst aus der Menschheitsentwickelung, so haben Sie in der Menschheitsentwickelung ebensoviel Lüge, wie sonst Kunstentwickelung da ist! Da haben Sie schon an der Kunst jenes eigentümliche gefährliche Verhältnis, das dort liegt, wo die Schwelle zur geistigen Welt vorhanden ist. Hinüberhören, wo immer die Dinge zwei Seiten haben! Wenn einer einen wirklichkeitsgemäßen Sinn hat, dann kommt er durch das Leben in ästhetischer Auffassung zu einer höheren Wahrheit. Wenn einer nicht wirklichkeitsgemäßen Sinn hat, so kann er gerade durch die ästhetische Auffassung der Welt in die Verlogenheit kommen. Die Dinge haben immer eine Gabelung; das ist sehr wichtig, diese Gabelung ins Auge zu fassen. Denn nicht nur dem Okkultismus gegenüber ist das der Fall, sondern schon sogar der Kunst gegenüber ist das der Fall. Wirklichkeitsgemäßes Auffassen der Welt, das wird als eine Begleiterscheinung eintreten des spirituellen Lebens, das die Geisteswissenschaft bringen soll. Denn der Materialismus hat gerade das unwirklichkeitsgemäße Auffassen gebracht.

So scheinbar widersprechend das auch erscheint, widerspruchsvoll ist es bloß für diejenigen, welche die Welt nach dem beurteilen, was sie sich eben einbilden, und nicht nach dem, was wirklich ist. Wir leben wirklich in einer Entwickelung drinnen, die sich gerade durch den Materialismus von der Fähigkeit immer mehr und mehr entfernt, auch nur das zu erfassen, was eine gewöhnliche sinnliche Tatsache ist, eine Tatsache der physischen Welt. In dieser Beziehung sind sogar interessante Experimente angestellt worden, die ganz aus der materialistischen Denkweise hervorgehen. Aber so wie vieles, was aus der materialistischen Denkweise hervorgeht, zugute kommt gerade den Fähigkeiten des Menschen, die man braucht für eine spirituelle Weltanschauung, so ist es auch auf diesem Gebiete. Folgendes Experiment hat man gemacht. Man hat eine ganz bestimmte Szene verabredet: Jemand sollte einen Vortrag halten — ich wähle ein Beispiel, es sind viele solche Experimente gemacht worden -, während des Vertrags sollte er etwas sagen, was jemanden, der im Auditorium sitzt, beleidigt, verletzt. Das ist verabredet gewesen. Jedes Wort des Vortrages wurde ganz wörtlich so gehalten, wie es verabredet war. Der, gegen den die Beleidigung gerichtet war, der im Auditorium saß, mußte aufspringen, ein Gebalge mußte sich entwickeln; während dessen sollte derjenige, der aufsprang, in die Tasche greifen, einen Revolver herausziehen, und so sollte sich die Sache entwickeln; es wurden verschiedene Einzelheiten genau besprochen, wie sie ablaufen sollten. Also denken Sie sich, eine vollständig programmatische Szene sollte sich abspielen mit vielen Einzelheiten. Dabei waren dreißig Zuhörer geladen, und nicht gewöhnliche Zuhörer, sondern Studenten der Jurisprudenz älteren Semesters, und Juristen, die schon über die Studentenzeit hinaus waren. Die Balgerei hatte sich abgespielt, und es sollte nun von den Dreißigen beschrieben werden, was geschehen ist. Ein Protokoll wurde in der entsprechenden Weise aufgenommen von solchen, die eingeweiht waren in den ganzen Prozeß, das bezeugt, daß die Sache wirklich genau programmatisch sich abgespielt hat; die dreißig wurden befragt, die alle dreißig das gesehen hatten und alle dreißig keine Esel waren, sondern studierte Leute, die später ins Leben hinausgehen sollten und untersuchen sollten draußen im Leben, wie sich eben Balgereien und manches andere tatsächlich abspielen. Von den dreißig haben sechsundzwanzig sämtlich falsch das erzählt, was sie gesehen haben, und nur vier notdürftig richtig - nur vier notdürftig richtig! Seit Jahren werden solche Versuche angestellt, um zu zeigen, was Zeugenaussagen in bezug auf die Wahrheit vor Gericht für ein Gewicht haben können. Die sechsundzwanzig haben ja alle dagesessen, sie konnten alle sagen: Ich hab es mit Augen gesehen. - Man bedenkt nicht, was notwendig ist, um eine Tatsache richtig darzustellen, die sich vor den Augen abspielt!

Die Kunst muß bedacht werden, über dasjenige, was sich vor den Augen abspielt, eine richtige Ansicht zu bekommen. Denn wer die Gewissenhaftigkeit nicht hat gegenüber dem, was eine sinnliche Tatsache ist, der kann niemals zu jener verantwortungsvollen Gewissenhaftigkeit kommen, die notwendig ist, um geistige Tatsachen ins Auge zu fassen. Nun, sehen Sie sich unter dem Eindrucke des Materialismus unsere heutige Welt an, ob viel Bewußtsein, viel Empfindung vorhanden ist dafür, daß von dreißig Menschen, die mit ihren Augen die sogenannte Tatsache gesehen haben, sechsundzwanzig etwas ganz Irrtümliches aussagen können, und nur vier die Sache notdürftig richtig wiedergeben können. Wenn Sie so etwas ins Auge fassen, dann werden Sie doch fühlen, wie unendlich bedeutsam das ist, was geleistet werden muß für das gewöhnliche Leben durch eine spirituelle Weltauffassung.

Sie können nun fragen: Waren denn die Dinge früher anders? - Man hatte früher nicht die Art des Denkens, die man heute hat. Der Grieche hatte noch nicht diese abstrakte Art des Denkens, die wir heute haben und haben müssen, damit wir uns nach der heutigen Art in der Welt zurechtfinden. Aber nicht auf die Art des Denkens kommt es an, sondern auf die Wahrheit kommt es an. Aristoteles hat versucht, in seiner Art, die ästhetische Gemütsverfassung, Lebensverfassung des Menschen noch in viel konkreteren Begriffen zu denken. Aber in einer noch viel konkreteren, in imaginativ hellseherischer Art war diese Konstitution erfaßt im uralten Griechentum in denjenigen Imaginationen, die noch aus den Mysterien heraus waren, als man an Stelle des Begriffes das Bild hatte, und als man sagte: Einst lebte Uranos. In dem sah man alles dasjenige, was der Mensch aufnimmt durch sein Haupt, durch die Kräfte, die als Sinnesgebiete auch jetzt hinauswirken in die äußere Welt. Uranos - alle zwölf Sinne - wurde verletzt, und die Blutstropfen fielen in Maja, in das Meer, und der Schaum spritzte auf. -Was hier die Sinne, indem sie lebendiger werden, hinuntersenden in das Meer der Lebensprozesse, und was da aufschäumt von dem, was als das Blut der Sinne hinunterpulsiert in die Lebensprozesse, welche Seelenprozesse geworden sind, das ist zu vergleichen mit dem, was die griechische Imagination aufschäumen ließ dadurch, daß die Blutstropfen des verletzten Uranos hinuntertropften in das Meer und aus dem Schaum sich bildete Aphrodite, Aphrogenea, die Schönheitsgöttin. In dem Aphrodite-Mythos älterer Art, wo Aphrodite eine Tochter des Uranos und des Meeres ist, indem sie aus dem Schaum des Meeres entsteht, der geboren wird durch die Blutstropfen des Uranos, haben Sie einen imaginativen Ausdruck für den ästhetischen Zustand des Menschen, ja sogar den bedeutsamsten imaginativen Ausdruck und einen der bedeutsamsten Gedanken der geistigen Menschheitsentwicke-lung überhaupt. Es mußte sich nur noch ein anderer Gedanke anschließen an den großen Gedanken von Aphrodite im älteren Mythos, wo Aphrodite nicht das Kind des Zeus und der Dione ist, sondern des Uranos, der Blutstropfen des Uranos und des Meeres - es mußte sich nur eine andere Imagination, die noch tiefer sich eingräbt in die Wirklichkeit, nicht bloß in die elementarische, sondern in die physische Wirklichkeit, eine Imagination, die zu gleicher Zeit physisch-sinnlich aufgefaßt wurde, in späteren Zeiten anschließen. Das ist: es mußte sich an die Seite stellen dem Mythos von der Aphrodite, von dem Ursprung der Schönheit in der Menschheit, die große Wahrheit über das Hereinwirken des Urguten in der Menschheit, indem der Geist herunterträufelte in Maja-Maria, so wie die Blutstropfen des Uranos herunterträufelten in das Meer, das ja auch Maja ist, wo dann zunächst im Schein, im schönen Schein geboren wird dasjenige, was die Morgenröte sein soll für die unendliche Herrschaft des Guten und für die Erkenntnis des Guten und des Gut-Wahren, des Geistigen. Dies ist eine Wahrheit, die Schiller meinte, als er die Worte hinschrieb:

Nur durch das Morgentor des Schönen
Drangst du in der Erkenntnis Land -

womit er hauptsächlich die moralische Erkenntnis meinte." (Lit.: GA 170, S. 149 ff)

Siehe auch

Literatur