Anomie

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Anomie (griech.: Kompositum aus α privativum zur Verneinung und der Endung -nomie für νόμος, „Ordnung, Gesetz“) bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Vor allem in England war der Begriff ursprünglich ein theologischer Ausdruck für das Brechen religiöser Gesetze. Zur Beschreibung einer Anomie wird umgangssprachlich und irreführend häufig auch das Wort Anarchie (Abwesenheit von Herrschaft) benutzt.

Übersicht

Die Staatslehre von Polybios in erweiterter Form:

Anzahl der Herrscher Gemeinwohl Eigennutz
Einer Monarchie Diktatur
Einige Demokratie, Aristokratie Oligarchie
Alle Direkte Demokratie Ochlokratie
Keiner Anarchie Anomie

„Anomie“ bei Durkheim

Der Begriff der Anomie wurde von Émile Durkheim (1858–1917), der ihn den Schriften des Philosophen Jean-Marie Guyau entlehnt hatte, in die Soziologie eingeführt.[1] Der Rückgang von religiösen Normen und Werten führt nach Durkheim unweigerlich zu Störungen und zur Verringerung sozialer Ordnung. Aufgrund von Gesetz- und Regellosigkeit sei dann die gesellschaftliche Integration nicht länger gewährleistet. Diesen Zustand nannte Durkheim anomie, die beim Individuum zu Angst und Unzufriedenheit führen müsse, ja sogar zur Selbsttötung führen könne („anomischer Suizid“). Durkheim benutzte den Begriff, um die pathologischen Auswirkungen der sich im Frühindustrialismus rasch entwickelnden Sozial- und Arbeitsteilung zu beschreiben. Die damit einhergehende Schwächung der Normen und Regeln für die Allokation von Waren führe zu einem verschärften Wettbewerb um die steigenden Prosperitätsgewinne.

„Anomie“ bei Merton

Robert K. Merton hat den Begriff verfeinert,[2] indem er die Regeln näher beschreibt, deren Fehlen zu Anomie führt:

  • kulturelle Ziele als Wünsche und Erwartungen der Menschen einer Gesellschaft
  • Normen, welche die Mittel vorschreiben, die die Menschen zur Realisierung ihrer Ziele anwenden dürfen
  • die Verteilung dieser Mittel

Kulturelle Struktur:

  • 1. Ziele: Bildung, Wohlstand, hohes Ansehen usw.
  • 2. Normen: Fleiß, Intelligenz, Lernfreude usw.

Soziale Struktur:

  • 3. gesellschaftliche Zustände: soziale Chancengleichheit usw.

Als Anomie wird nunmehr eine Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und dem Zugang bestimmter sozialer Schichten zu dazu notwendigen Mitteln beschrieben.[3] Dadurch schwächt sich die Bindung zwischen Mitteln und Zielen.

Merton nennt fünf mögliche Reaktionsmuster des Menschen auf diese Dissoziation:[4]

  • 1. Konformität: Konzentrierung auf die Ziele, die mit den zur Verfügung stehenden (gebilligten) Mitteln erreicht werden können[5]
  • 2. Innovation: Gebrauch kulturell missbilligter Mittel
  • 3. Ritualismus: strikte Nutzung der vorgeschriebenen Mittel, bis hin zur Ignoranz der negativen Konsequenzen dieser Mittel (Durchführung des Rituals um des Rituals willen) – Verzicht auf die Erreichung der kulturellen Ziele
  • 4. Rückzug (retreat): Verzicht sowohl auf vorgeschriebene Ziele als auch geforderte Mittel (Aussteiger, Drogenabhängige etc., vgl. auch Eskapismus)
  • 5. Rebellion: Zurückweisung von Zielen und Mitteln und Betonung eines neuen, sozial missbilligten Systems von Zielen und Mitteln

Gegenwärtig führe vor allem die Relativierung kultureller Mittel durch Pluralisierung und Individualisierung zu Problemen wie Orientierungslosigkeit, Verhaltensunsicherheit und gesellschaftlicher Desintegration.

Siehe auch

Literatur

  • Gabriele Faßauer, Frank Schirmer: Moderne Leistungssteuerung und Anomie. Eine konzeptionelle und indizienbasierte Analyse aktueller Entwicklungen in Organisationen. In: Soziale Welt. Jg. 57, Nr. 4, 2006, ISSN 0038-6073, S. 351–371, online (PDF; 471 KB).
  • Hans Joas (Hrsg.): Lehrbuch der Soziologie. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2007, ISBN 978-3-593-37920-3.
  • Siegfried Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens. Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Pädagogen, Juristen, Politologen, Kommunikationswissenschaftler und Sozialarbeiter (= UTB 740). 6. Auflage. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-1620-6.
  • Realino Marra: Geschichte und aktuelle Problematik des Anomiebegriffs. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie. Jg. 10, 1989, ISSN 0174-0202, S. 67–80.
  • Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 2., neu bearbeitete Auflage. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53861-4.
  • Ulrich Meier: Aggressionen und Gewalt in der Schule. Zur Dialektik von Schülerpersönlichkeiten, Lernumwelten und schulischem Sozialklima (= Jugendsoziologie. Bd. 6). Lit, Münster 2004, ISBN 3-8258-7013-8, S. 56 f. (zugleich: Bielefeld, Univ., Diss., 2003).
  • Wolfgang Melzer, Wilfried Schubarth, Frank Ehninger: Gewaltprävention und Schulentwicklung. Analysen und Handlungskonzepte. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2004, ISBN 3-7815-1322-X, S. 62 f.
  • Marco Orru: The Ethics of Anomie: Jean Marie Guyau and Émile Durkheim. In: The British Journal of Sociology. Jg. 34, Nr. 4, 1983, ISSN 0007-1315, S. 499–518.
  • Rüdiger Ortmann: Abweichendes Verhalten und Anomie. Entwicklung und Veränderung abweichenden Verhaltens im Kontext der Anomietheorien von Durkheim und Merton (= Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht Freiburg i. Br. Bd. 89). Edition iuscrim, Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, Freiburg (Breisgau) 2000, ISBN 3-86113-033-5.
  • Rüdiger Peuckert: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle. In: Hermann Korte, Bernhard Schäfers (Hrsg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie (= Einführungskurs Soziologie. Bd. 1). 7., grundlegend überarbeitete Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-15029-1, S. 108–123.
  • Jordi Riba: La morale anomique de Jean-Marie Guyau. L’Harmattan, Paris u. a. 1999, ISBN 2-7384-7772-0.

Einzelnachweise

  1. Émile Durkheim: Le suicide. Etude de sociologie. Alcan, Paris 1897.
  2. Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure. Toward the codification of theory and research. Free Press, Glencoe IL 1949.
  3. Vgl. dazu Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 2005, S. 57.
  4. Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 2005, S. 57 f.
  5. Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 2005, S. 57.
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