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Friedrich Schiller

Kallias oder über die Schönheit

Briefe an Gottfried Körner

[394] Jena, den 25. Januar 1793

Die Untersuchungen über das Schöne, wovon beinahe kein Teil der Ästhetik zu trennen ist, führen mich in ein sehr weites Feld, wo für mich noch ganz fremde Länder liegen. Und doch muß ich mich schlechterdings des Ganzen bemächtigt haben, wenn ich etwas Befriedigendes leisten soll. Die Schwierigkeit, einen Begriff der Schönheit objektiv aufzustellen und ihn aus der Natur der Vernunft völlig a priori zu legitimieren, so daß die Erfahrung ihn zwar durchaus bestätigt, aber daß er diesen Ausspruch der Erfahrung zu seiner Gültigkeit gar nicht nötig hat, diese Schwierigkeit ist fast unübersehbar. Ich habe wirklich eine Deduktion meines Begriffs vom Schönen versucht, aber es ist ohne das Zeugnis der Erfahrung nicht auszukommen. Diese Schwürigkeit bleibt immer, daß man mir meine Erklärung bloß darum zugeben wird, weil man findet, daß sie mit den einzelnen Urteilen des Geschmackes zutrifft, und nicht (wie bei einer Erkenntnis aus objektiven Prinzipien doch sein sollte) sein Urteil über das einzelne Schöne in der Erfahrung deswegen richtig findet, weil es mit meiner Erklärung übereinstimmt. Du wirst sagen, daß dies etwas viel gefodert sei, aber solang man es nicht dahin bringt, so wird der Geschmack immer empirisch bleiben, so wie Kant es für unvermeidlich hält. Aber eben von dieser Unvermeidlichkeit des Empirischen, von dieser Unmöglichkeit eines objektiven Prinzips für den Geschmack kann ich mich noch nicht überzeugen.
Es ist interessant zu bemerken, daß meine Theorie eine vierte mögliche Form ist, das Schöne zu erklären. Entweder man erklärt es objektiv oder subjektiv; und zwar entweder sinnlich subjektiv (wie Burke u.a.), oder subjektiv rational (wie Kant), oder rational objektiv (wie Baumgarten, Mendelssohn und die ganze Schar der Volkommenheitsmänner), oder endlich sinnlich objektiv: ein Terminus, wobei Du Dir freilich jetzt noch nicht viel wirst denken können, außer wenn Du die drei andern Formen miteinander vergleichst. Jede dieser vorhergehenden Theorien hat einen Teil der Erfahrung für sich [395] und enthält offenbar einen Teil der Wahrheit, und der Fehler scheint bloß der zu sein, daß man diesen Teil der Schönheit, der damit übereinstimmt, für die Schönheit selbst genommen hat. Der Burkianer hat gegen den Wolfianer vollkommen recht, daß er die Unmittelbarkeit des Schönen, seine Unabhängigkeit von Begriffen behauptet; aber er hat unrecht gegen den Kantianer, daß er es in die bloße Affektibilität der Sinnlichkeit setzt. Der Umstand, daß bei weitem die meisten Schönheiten der Erfahrung, die ihnen in Gedanken schweben, keine völlig freie Schönheiten, sondern logische Wesen sind, die unter dem Begriff eines Zweckes stehen, wie alle Kunstwerke und die meisten Schönheiten der Natur, dieser Umstand scheint alle, welche die Schönheit in eine anschauliche Vollkommenheit setzen, irregeführt zu haben; denn nun wurde das logisch Gute mit dem Schönen verwechselt. Kant will diesen Knoten dadurch zerhauen, daß er eine pulchritudo vaga und fixa, eine freie und intellektuierte Schönheit annimmt, und er behauptet, etwas sonderbar, daß jede Schönheit, die unter dem Begriffe eines Zweckes stehe, keine reine Schönheit sei: daß also eine Arabeske und was ihr ähnlich ist, als Schönheit betrachtet, reiner sei als die höchste Schönheit des Menschen. Ich finde, daß seine Bemerkung den großen Nutzen haben kann, das Logische von dem Ästhetischen zu scheiden, aber eigentlich scheint sie mir doch den Begriff der Schönheit völlig zu verfehlen. Denn eben darin zeigt sich die Schönheit in ihrem höchsten Glanz, wenn sie die logische Natur ihres Objektes überwindet, und wie kann sie überwinden, wo kein Widerstand ist? Wie kann sie dem völlig formlosen Stoff ihre Form erteilen? Ich bin wenigstens überzeugt, daß die Schönheit nur die Form einer Form ist und daß das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein geformter Stoff sein muß. Die Vollkommenheit ist die Form eines Stoffes, die Schönheit hingegen ist die Form dieser Vollkommenheit; die sich also gegen die Schönheit wie der Stoff zu der Form verhält.

Jena, den 8. Februar 1793

Wir verhalten uns gegen die Natur (als Erscheinung) entweder leidend oder tätig, oder leidend und tätig zugleich. Leidend: wenn wir ihre Wirkungen bloß empfinden; tätig, wenn wir ihre Wirkungen bestimmen; beides zugleich, wenn wir sie uns vorstellen.
[396] Es gibt zweierlei Arten, sich die Erscheinungen vorzustellen. Entweder wir sind mit Absicht auf ihre Erkenntnis gerichtet: wir beobachten sie; oder wir lassen uns von den Dingen selbst zu ihrer Vorstellung einladen. Wir betrachten sie bloß.
Bei Betrachtung der Erscheinung verhalten wir uns leidend, indem wir ihre Eindrücke empfangen: tätig, indem wir diese Eindrücke unsern Vernunftformen unterwerfen (dieser Satz wird aus der Logik postuliert).
Die Erscheinungen nämlich müssen sich in unsrer Vorstellung nach den Formalbedingungen der Vorstellungskraft richten (denn eben das macht sie zu Erscheinungen), sie müssen die Form von unserem Subjekt erhalten.
Alle Vorstellungen sind ein Mannigfaltiges oder Stoff; die Verbindungsweise dieses Mannigfaltigen ist seine Form. Das Mannigfaltige gibt der Sinn; die Verbindung gibt die Vernunft (in allerweitester Bedeutung), denn Vernunft heißt das Vermögen der Verbindung.
Wird also dem Sinne ein Mannigfaltiges gegeben, so versucht die Vernunft demselben ihre Form zu erteilen, d.i. es nach ihren Gesetzen zu verbinden.
Form der Vernunft ist die Art und Weise, wie sie ihre Verbindungskraft äußert. Es gibt aber zwei verschiedene Hauptäußerungen der verbindenden Kraft, also auch ebenso viele Hauptformen der Vernunft. Die Vernunft verbindet entweder Vorstellung mit Vorstellung zur Erkenntnis (theoretische Vernunft) oder sie verbindet Vorstellungen mit dem Willen zur Handlung (praktische Vernunft).
So wie es zwei verschiedene Formen der Vernunft gibt, so gibt es auch zweierlei Materien für jede dieser Formen. Die theoretische Vernunft wendet ihre Form auf Vorstellungen an, und diese lassen sich in unmittelbare (Anschauung) und in mittelbare (Begriffe) einteilen. Jene sind durch den Sinn, diese durch die Vernunft selbst (obschon nicht ohne Zutun des Sinnes) gegeben. In den ersten, der Anschauung, ist es zufällig, ob sie mit der Form der Vernunft übereinstimmen; in den Begriffen ist es notwendig, wenn sie sich nicht selbst aufheben sollen. Hier findet also die Vernunft Übereinstimmung mit ihrer Form; dort wird sie überrascht, wenn sie sie findet.
[397] Ebenso ist es mit der praktischen (handelnden) Vernunft. Diese wendet ihre Form auf Handlungen an, und diese lassen sich entweder als freie oder als nicht freie Handlungen, Handlungen durch oder nicht durch Vernunft, betrachten. Die praktische Vernunft fodert von den ersten eben das, was die theoretische von den Begriffen. Übereinstimmung freier Handlungen mit der Form der praktischen Vernunft ist also notwendig; Übereinstimmung nicht-freier mit dieser Form ist zufällig.
Man drückt sich daher richtiger aus, wenn man diejenigen Vorstellungen, welche nicht durch theoretische Vernunft sind und doch mit ihrer Form übereinstimmen, Nachahmungen von Begriffen, diejenigen Handlungen, welche nicht durch praktische Vernunft sind und doch mit ihrer Form übereinstimmen, Nachahmungen freier Handlungen; kurz, wenn man beide Arten Nachahmungen (Analoga) der Vernunft nennt.
Ein Begriff kann keine Nachahmung der Vernunft sein, denn er ist durch Vernunft, und Vernunft kann sich nicht selbst nachahmen; er kann der Vernunft nicht bloß analog, er muß wirklich vernunftmäßig sein. Eine Willenshandlung kann der Freiheit nicht bloß analog, sie muß – oder soll wenigstens – wirklich frei sein. Hingegen kann eine mechanische Wirkung (jede Wirkung durchs Naturgesetz) nie als wirklich frei, sondern bloß der Freiheit analog beurteilt werden.
Hier will ich Dich einen Augenblick ausschnaufen lassen, besonders um Dich auf den letzten Absatz aufmerksam zu machen, weil ich ihn in der Folge wahrscheinlich nötig haben werde, um einen Einwurf, den ich von Dir gegen meine Theorie erwarte, zu beantworten. Ich fahre fort.
Die theoretische Vernunft geht auf Erkenntnis. Indem sie also ein gegebenes Objekt ihrer Form unterwirft, so prüft sie, ob Erkenntnis daraus zu machen sei, d.i. ob es mit einer schon vorhandenen Vorstellung verbunden werden könne. Nun ist die gegebene Vorstellung entweder ein Begriff oder eine Anschauung. Ist sie ein Begriff, so ist sie schon durch ihre Entstehung, durch sich selbst, notwendig auf Vernunft bezogen, und eine Verbindung, die schon ist, wird bloß ausgesagt. Eine Uhr z.B. ist eine solche Vorstellung. Man beurteilt sie bloß nach dem Begriff, durch den sie entstanden ist. Die Vernunft [398] braucht also bloß zu entdecken, daß die gegebene Vorstellung ein Begriff ist, so entscheidet sie eben dadurch, daß sie mit ihrer Form übereinstimme.
Ist aber die gegebene Vorstellung eine Anschauung, und soll die Vernunft dennoch eine Übereinstimmung derselben mit ihrer Form entdecken, so muß sie (regulativ, nicht, wie im ersten Falle, konstitutiv) und zu ihrem eigenen Behuf der gegebenen Vorstellung einen Ursprung durch theoretische Vernunft leihen, um sie nach Vernunft beurteilen zu können. Sie legt daher aus eigenem Mittel in den gegebenen Gegenstand einen Zweck hinein und entscheidet, ob er sich diesem Zwecke gemäß verhält. Dies geschieht bei jeder teleologischen, jenes bei jeder logischen Naturbeurteilung. Das Objekt der logischen ist Vernunftmäßigkeit, das Objekt der teleologischen Vernunftähnlichkeit.

Ich vermute, Du wirst aufgucken, daß Du die Schönheit unter der Rubrik der theoretischen Vernunft nicht findest und daß Dir ordentlich dafür bange wird. Aber ich kann Dir einmal nicht helfen, sie ist gewiß nicht bei der theoretischen Vernunft anzutreffen, weil sie von Begriffen schlechterdings unabhängig ist; und da sie doch zuverlässig in der Familie der Vernunft muß gesucht werden und es außer der theoretischen Vernunft keine andere als die praktische gibt, so werden wir sie wohl hier suchen müssen und auch finden. Auch, denke ich, sollst Du, wenigstens in der Folge, Dich überzeugen, daß ihr diese Verwandtschaft keine Schande macht.

Die praktische Vernunft abstrahiert von aller Erkenntnis und hat bloß mit Willensbestimmungen, innern Handlungen zu tun. Praktische Vernunft und Willensbestimmung aus bloßer Vernunft sind eins. Form der praktischen Vernunft ist unmittelbare Verbindung des Willens mit Vorstellungen der Vernunft, also Ausschließung jedes äußern Bestimmungsgrundes; denn ein Wille, der nicht durch die bloße Form der praktischen Vernunft bestimmt ist, ist von außen, materiell, heteronomisch bestimmt. Die Form der praktischen Vernunft annehmen oder nachahmen heißt also bloß: nicht von außen, sondern durch sich selbst bestimmt sein, autonomisch bestimmt sein oder so erscheinen.
[399] Nun kann die praktische Vernunft, ebenso wie die theoretische, ihre Form sowohl auf das, was durch sie selbst ist (freie Handlungen), als auf das, was nicht durch sie ist (Naturwirkungen), anwenden.
Ist es eine Willenshandlung, worauf sie ihre Form bezieht, so bestimmt sie bloß, was ist; sie sagt aus, ob die Handlung das ist, was sie sein will und soll. Jede moralische Handlung ist von dieser Art. Sie ist ein Produkt des reinen, d.i., des durch bloße Form und also autonomisch bestimmten Willens, und sobald die Vernunft sie dafür erkennt, sobald sie weiß, daß es eine Handlung des reinen Willens ist, so versteht es sich auch schon von selbst, daß sie der Form der praktischen Vernunft gemäß ist: denn das ist völlig identisch.
Ist der Gegenstand, auf den die praktische Vernunft ihre Form anwendet, nicht durch einen Willen, nicht durch praktische Vernunft da, so macht sie es ebenso mit ihm, wie die theoretische es mit Anschauungen machte, die Vernunftähnlichkeit zeigten. Sie leiht dem Gegenstande (regulativ und nicht, wie bei der moralischen Beurteilung, konstitutiv) ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen, einen Willen, und betrachtet ihn alsdann unter der Form dieses seines Willens (ja nicht ihres Willens, denn sonst würde das Urteil ein moralisches werden). Sie sagt nämlich von ihm aus, ob er das, was er ist, durch seinen reinen Willen, d.i. durch seine sich selbstbestimmende Kraft, ist; denn ein reiner Wille und Form der praktischen Vernunft ist eins.
Von einer Willenshandlung oder moralischen Handlung fodert sie imperativ, daß sie durch reine Form der Vernunft sei; von einer Naturwirkung kann sie (nicht fodern) aber wünschen, daß sie durch sich selbst sei, daß sie Autonomie zeige. (Aber hier muß noch einmal bemerkt werden, daß die praktische Vernunft von einem solchen Gegenstand durchaus nicht verlangen kann, daß er durch sie, nämlich durch praktische Vernunft, sei; denn da wäre er nicht durch sich selbst, nicht autonomisch, sondern durch etwas Äußres [weil sich jede Bestimmung durch Vernunft gegen ihn als etwas Äußres, als Heteronomie verhält], also durch einen fremden Willen bestimmt.) Reine Selbstbestimmung überhaupt ist Form der praktischen Vernunft. Handelt also ein Vernunftwesen, so muß es aus reiner Vernunft handeln, wenn es reine Selbstbestimmung zeigen soll. Handelt ein bloßes [400] Naturwesen, so muß es aus reiner Natur handeln, wenn es reine Selbstbestimmung zeigen soll; denn das Selbst des Vernunftwesens ist Vernunft, das Selbst des Naturwesens ist Natur. Entdeckt nun die praktische Vernunft bei Betrachtung eines Naturwesens, daß es durch sich selbst bestimmt ist, so schreibt sie demselben (wie die theoretische Vernunft in gleichem Fall einer Anschauung Vernunftähnlichkeit zugestand) Freiheitähnlichkeit oder kurzweg Freiheit zu. Weil aber diese Freiheit dem Objekt von der Vernunft bloß geliehen wird, da nichts frei sein kann als das Übersinnliche und Freiheit selbst nie als solche in die Sinne fallen kann – kurz – da es hier bloß darauf ankommt, daß ein Gegenstand frei erscheine, nicht wirklich ist: so ist diese Analogie eines Gegenstandes mit der Form der praktischen Vernunft nicht Freiheit in der Tat, sondern bloß Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung.
Hieraus ergibt sich also eine vierfache Beurteilungsart und eine ihr entsprechende vierfache Klassifikation der vorgestellten Erscheinung.
Beurteilung von Begriffen nach der Form der Erkenntnis ist logisch: Beurteilung von Anschauungen nach eben dieser Form ist teleologisch. Eine Beurteilung freier Wirkungen (moralischer Handlungen) nach der Form des reinen Willens ist moralisch; eine Beurteilung nichtfreier Wirkungen nach der Form des reinen Willens ist ästhetisch. Übereinstimmung eines Begriffs mit der Form der Erkenntnis ist Vernunftmäßigkeit (Wahrheit, Zweckmäßigkeit, Vollkommenheit sind bloß Beziehungen dieser letztern), Analogie einer Anschauung mit der Form der Erkenntnis ist Vernunftähnlichkeit (Teleophanie, Logophanie möchte ich sie nennen), Übereinstimmung einer Handlung mit der Form des reinen Willens ist Sittlichkeit. Analogie einer Erscheinung mit der Form des reinen Willens oder der Freiheit ist Schönheit (in weitester Bedeutung).
Schönheit also ist nichts anders als Freiheit in der Erscheinung.

Jena, den 18. Februar 1793

Es gibt also eine solche Ansicht der Natur oder der Erscheinungen, wo wir von ihnen nichts weiter als Freiheit verlangen, wo wir bloß darauf sehen, ob sie das, was sie sind, durch sich selbst sind. Eine [401] solche Art der Beurteilung ist bloß wichtig und möglich durch die praktische Vernunft, weil der Freiheitsbegriff sich in der theoretischen gar nicht findet und nur bei der praktischen Vernunft Autonomie über alles geht. Die praktische Vernunft, auf freie Handlungen angewendet, verlangt, daß die Handlung bloß um der Handlungsweise (Form) willen geschehe und daß weder Stoff noch Zweck (der immer auch Stoff ist) darauf Einfluß gehabt habe. Zeigt sich nun ein Objekt in der Sinnenwelt bloß durch sich selbst bestimmt, stellt es sich den Sinnen so dar, daß man an ihm keinen Einfluß des Stoffes oder eines Zweckes bemerkt, so wird es als ein Analogon der reinen Willensbestimmung (ja nicht als Produkt einer Willensbestimmung) beurteilt. Weil nun ein Wille, der sich nach bloßer Form bestimmen kann, frei heißt, so ist diejenige Form in der Sinnenwelt, die bloß durch sich selbst bestimmt erscheint, eine Darstellung der Freiheit; denn dargestellt heißt eine Idee, die mit einer Anschauung so verbunden wird, daß beide eine Erkenntnisregel miteinander teilen.
Die Freiheit in der Erscheinung ist also nichts anders als die Selbstbestimmung an einem Dinge, insofern sie sich in der Anschauung offenbart. Man setzt ihr jede Bestimmung von außen entgegen, ebenso wie man einer moralischen Handlungsart jede Bestimmung durch materielle Gründe entgegensetzt. Ein Objekt erscheint aber gleich wenig frei – es mag nun seine Form entweder von einer physischen Gewalt oder von einem verständigen Zwecke erhalten haben, sobald man den Bestimmungsgrund seiner Form in einem von diesen beiden entdeckt; denn alsdann liegt ja derselbe nicht in ihm, sondern außer ihm, und es ist ebensowenig schön, als eine Handlung aus Zwecken eine moralische ist.
Wenn das Geschmacksurteil völlig rein ist, so muß ganz und gar davon abstrahiert werden, was für einen (theoretischen oder praktischen) Wert das schöne Objekt für sich selbst habe, aus welchem Stoff es gebildet und zu welchem Zweck es vorhanden sei. Mag es sein, was es will! Sobald wir es ästhetisch beurteilen, so wollen wir bloß wissen, ob es das, was es ist, durch sich selbst sei. Wir fragen so wenig nach einer logischen Beschaffenheit desselben, daß wir ihm vielmehr »die Unabhängigkeit von Zwecken und Regeln zum höchsten Vorzug anrechnen«. – Nicht zwar, als ob Zweckmäßigkeit und [402] Regelmäßigkeit an sich mit der Schönheit unverträglich wären; jedes schöne Produkt muß sich vielmehr Regeln unterwerfen: sondern darum, weil der bemerkte Einfluß eines Zwecks und einer Regel sich als Zwang ankündigt und Heteronomie für das Objekt bei sich führt. Das schöne Produkt darf und muß sogar regelmäßig sein, aber es muß regelfrei erscheinen.
Nun ist aber kein Gegenstand in der Natur und noch viel weniger in der Kunst zweck- und regelfrei, keiner durch sich selbst bestimmt, sobald wir über ihn nachdenken. Jeder ist durch einen andern da, jeder um eines andern willen da, keiner hat Autonomie. Das einzige existierende Ding, das sich selbst bestimmt und um seiner selbst willen ist, muß man außerhalb der Erscheinung in der intelligibeln Welt aufsuchen. Schönheit aber wohnt nur im Feld der Erscheinungen, und es ist also gar keine Hoffnung da, vermittelst der bloßen theoretischen Vernunft und auf dem Wege des Nachdenkens auf eine Freiheit in der Sinnenwelt zu stoßen.
Aber alles wird anders, wenn man die theoretische Untersuchung hinwegläßt und die Objekte bloß nimmt, wie sie erscheinen. Eine Regel, ein Zweck kann nie erscheinen, denn es sind Begriffe und keine Anschauungen. Der Realgrund der Möglichkeit eines Objekts fällt also nie in die Sinne, und er ist so gut als gar nicht vorhanden, »sobald der Verstand nicht zu Aufsuchung desselben veranlaßt wird«. Es kommt also hier lediglich auf das völlige Abstrahieren von einem Bestimmungsgrunde an, um ein Objekt in der Erscheinung als frei zu beurteilen (denn das Nichtvonaußenbestimmtsein ist eine negative Vorstellung des Durchsichselbstbestimmtseins, und zwar die einzig mögliche Vorstellung desselben, weil man die Freiheit nur denken und nie erkennen kann, und selbst der Moralphilosoph muß sich mit dieser negativen Vorstellung der Freiheit behelfen). Eine Form erscheint also frei, sobald wir den Grund derselben weder außer ihr finden, noch außer ihr zu suchen veranlaßt werden. Denn würde der Verstand veranlaßt, nach dem Grund derselben zu fragen, so würde er diesen Grund notwendig außer dem Dinge finden müssen; weil es entweder durch einen Begriff oder durch einen Zufall bestimmt sein muß, beides aber sich gegen das Objekt als Heteronomie verhält. Man wird also folgendes als einen Grundsatz aufstellen können: daß ein Objekt sich in der [403] Anschauung als frei darstellt, wenn die Form desselben den reflektierenden Verstand nicht zu Aufsuchung eines Grundes nötigt. Schön also heißt eine Form, die sich selbst erklärt; sich selbst erklären heißt aber hier, sich ohne Hilfe eines Begriffs erklären. Ein Triangel erklärt sich selbst, aber nur vermittelst eines Begriffes. Eine Schlangenlinie erklärt sich selbst ohne das Medium eines Begriffs.
Schön, kann man also sagen, ist eine Form, die keine Erklärung fodert, oder auch eine solche, die sich ohne Begriff erklärt.

Ich denke, einige Deiner Zweifel sollen sich jetzt schon anfangen zu verlieren, wenigstens siehst Du, daß das subjektive Prinzip doch ins objektive hinübergeführt werden kann. Kommen wir aber erst in das Feld der Erfahrungen, so wird Dir ein ganz anderes Licht darüber aufgehen und Du wirst die Autonomie des Sinnlichen erst alsdann recht begreifen. Aber weiter:
Jede Form also, die wir nur unter Voraussetzung eines Begriffs möglich finden, zeigt Heteronomie in der Erscheinung. Denn jeder Begriff ist etwas Äußres gegen das Objekt. Eine solche Form ist jede strenge Regelmäßigkeit (worunter die mathematische obenan steht), weil sie uns den Begriff aufdringt, aus dem sie entstanden ist: eine solche Form ist jede strenge Zweckmäßigkeit (besonders die des Nützlichen, weil dies immer auf etwas anders bezogen wird), weil sie uns die Bestimmung und den Gebrauch des Objekts in Erinnerung bringt, wodurch notwendigerweise die Autonomie in der Erscheinung zerstört wird.
Gesetzt nun, wir führen mit einem Objekt eine moralische Absicht aus, so wird die Form dieses Objekts durch eine Idee der praktischen Vernunft, also nicht durch sich selbst bestimmt sein, also Heteronomie erleiden. Daher kommt es, daß die moralische Zweckmäßigkeit eines Kunstwerks, oder auch einer Handlungsart, zur Schönheit derselben so wenig beiträgt, daß jene vielmehr sehr verborgen werden und aus der Natur des Dinges völlig frei und zwanglos hervorzugehen den Anschein haben muß, wenn diese, die Schönheit, nicht darüber verlorengehen soll. Ein Dichter würde sich also vergebens mit der moralischen Absicht seines Werks entschuldigen, wenn sein Gedicht ohne Schönheit wäre. Das Schöne wird zwar jederzeit auf die praktische [404] Vernunft bezogen, weil Freiheit kein Begriff der theoretischen sein kann – aber bloß der Form, nicht der Materie nach. Ein moralischer Zweck gehört aber zur Materie oder zum Inhalt und nicht zur bloßen Form. Um diesen Unterschied – an dem Du gestrauchelt zu haben scheinst – noch mehr ins Licht zu setzen, füge ich noch folgendes hinzu. Praktische Vernunft verlangt Selbstbestimmung. Selbstbestimmung des Vernünftigen ist reine Vernunftbestimmung, Moralität; Selbstbestimmung des Sinnlichen ist reine Naturbestimmung, Schönheit. Wird die Form des Nichtvernünftigen durch Vernunft bestimmt (theoretische oder praktische, das gilt hier gleichviel), so erleidet seine reine Naturbestimmung Zwang, also kann Schönheit nicht statthaben. Es ist alsdann ein Produkt, kein Analogon, eine Wirkung, keine Nachahmung der Vernunft, denn zur Nachahmung eines Dinges gehört, daß das Nachahmende mit dem Nachgeahmten bloß die Form und nicht den Inhalt, nicht den Stoff gemein habe.
Deswegen wird sich ein moralisches Betragen, wenn es nicht zugleich mit Geschmack verbunden ist, in der Erscheinung immer als Heteronomie darstellen, gerade weil es ein Produkt der Autonomie des Willens ist. Denn eben darum, weil Vernunft und Sinnlichkeit einen verschiedenen Willen haben, so wird der Wille der Sinnlichkeit gebrochen, wenn die Vernunft den ihrigen durchsetzt. Nun ist unglücklicherweise der Wille der Sinnlichkeit gerade derjenige, der in die Sinne fällt; gerade also wenn die Vernunft ihre Autonomie ausübt (die nie in der Erscheinung vorkommen kann), so wird unser Auge durch eine Heteronomie in der Erscheinung beleidigt. Indessen wird der Begriff der Schönheit doch auch im uneigentlichen Sinn auf das Moralische angewendet, und diese Anwendung ist nichts weniger als leer. Obgleich Schönheit nur an der Erscheinung haftet, so ist moralische Schönheit doch ein Begriff, dem etwas in der Erfahrung korrespondiert. Ich kann Dir keinen bessern empirischen Beweis für die Wahrheit meiner Schönheitstheorie aufstellen, als wenn ich Dir zeige, daß selbst der uneigentliche Gebrauch dieses Worts nur in solchen Fällen stattfindet, wo sich Freiheit in der Erscheinung zeigt. Ich will deswegen, meinem ersten Plane zuwider, in den empirischen Teil meiner Theorie vorausspringen und Dir zur Erholung eine Geschichte erzählen.
[405] »Ein Mensch ist unter Räuber gefallen, die ihn nackend ausgezogen und bei einer strengen Kälte auf die Straße geworfen haben.
Ein Reisender kommt an ihm vorbei, dem klagt er seinen Zustand und fleht ihn um Hülfe. ›Ich leide mit dir‹, ruft dieser gerührt aus, ›und gerne will ich dir geben, was ich habe. Nur fodre keine andern Dienste, denn dein Anblick greift mich an. Dort kommen Menschen, gib ihnen diese Geldbörse, und sie werden dir Hülfe schaffen.‹ – ›Gut gemeint‹, sagte der Verwundete, ›aber man muß auch das Leiden sehen können, wenn die Menschenpflicht es fodert. Der Griff in deinen Beutel ist nicht halb soviel wert als eine kleine Gewalt über deine weichlichen Sinne.‹«
Was war diese Handlung? Weder nützlich, noch moralisch, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß passioniert, gutherzig aus Affekt.
»Ein zweiter Reisende erscheint, der Verwundete erneuert seine Bitte. Diesem zweiten ist sein Geld lieb, und doch möchte er gern seine Menschenpflicht erfüllen. ›Ich versäume den Gewinn eines Guldens‹, sagte er, ›wenn ich die Zeit mit dir verliere. Willst du mir soviel, als ich versäume, von deinem Gelde geben, so lade ich dich auf meine Schultern und bringe dich in einem Kloster unter, das nur eine Stunde von hier entfernt liegt.‹ – ›Eine kluge Auskunft‹, versetzt der andre. ›Aber man muß bekennen, daß deine Dienstfertigkeit dir nicht hoch zu stehen kommt. Ich sehe dort einen Reuter kommen, der mir die Hülfe umsonst leisten wird, die dir nur um einen Gulden feil ist.‹«
Was war nun diese Handlung: Weder gutherzig, noch pflichtmäßig, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß nützlich.
»Der dritte Reisende steht bei dem Verwundeten still und läßt sich die Erzählung seines Unglücks wiederholen. Nachdenkend und mit sich selbst kämpfend steht er da, nachdem der andre ausgeredet hat. ›Es wird mir schwer werden‹, sagt er endlich, ›mich von dem Mantel zu trennen, der meinem kranken Körper der einzige Schutz ist, und dir mein Pferd zu überlassen, da meine Kräfte erschöpft sind. Aber die Pflicht gebietet mir, dir zu dienen. Besteige also mein Pferd und hülle dich in meinen Mantel, so will ich dich hinführen, wo dir geholfen werden kann.‹ – ›Dank dir, braver Mann, für deine redliche Meinung‹, erwidert jener, ›aber du sollst, da du selbst bedürftig bist, um meinetwillen [406] kein Ungemach leiden. Dort sehe ich zwei starke Männer kommen, die mir den Dienst werden leisten können, der dir sauer wird.‹«
Diese Handlung war rein (aber auch nicht mehr als) moralisch, weil sie gegen das Interesse der Sinne, aus Achtung fürs Gesetz unternommen wurde.
»Jetzt nähern sich die zwei Männer dem Verwundeten und fangen an, ihn um sein Unglück zu befragen. Kaum eröffnet er den Mund, so rufen beide mit Erstaunen: ›Er ists! Es ist der nämliche, den wir suchen.‹ Jener erkennt sie und erschrickt. Es entdeckt sich, daß beide ihren abgesagten Feind und den Urheber ihres Unglücks in ihm erkennen und dem sie nachgereist sind, um eine blutige Rache an ihm zu nehmen. ›Befriedigt jetzt euren Haß und eure Rache‹, fängt jener an, ›der Tod und nicht Hülfe ist es, was ich von euch erwarten kann.‹ – ›Nein‹, erwidert einer von ihnen, ›damit du siehst, wer wir sind und wer du bist, so nimm diese Kleider und bedecke dich. Wir wollen dich zwischen uns in die Mitte nehmen und dich hinbringen, wo dir geholfen werden kann.‹ – ›Großmütiger Feind‹, ruft der Verwundete voll Rührung, ›du beschämst mich, du entwaffnest meinen Haß. Komm jetzt, umarme mich und mache deine Wohltat vollkommen durch eine herzliche Vergebung.‹ – ›Mäßige dich, Freund‹, erwidert der andere frostig. ›Nicht weil ich dir verzeihe, will ich dir helfen, sondern weil du elend bist.‹ – ›So nimm auch deine Kleidung zurück‹, ruft der Unglückliche, indem er sie von sich wirft. ›Werde aus mir, was da will. Eher will ich elendiglich umkommen, als einem stolzen Feind meine Rettung verdanken.‹
Indem er aufsteht und den Versuch macht, sich wegzubegeben, nähert sich ein fünfter Wanderer, der eine schwere Last auf dem Rücken trägt. ›Ich bin so oft getäuscht worden‹, denkt der Verwundete, ›und der sieht mir nicht aus wie einer, der mir helfen wollte. Ich will ihn vorübergehen lassen.‹- Sobald der Wandrer ihn ansichtig wird, legt er seine Bürde nieder. ›Ich sehe‹, fängt er aus eignem Antrieb an, ›daß du verwundet bist und deine Kräfte dich verlassen. Das nächste Dorf ist noch ferne, und du wirst dich verbluten, ehe du davor anlangst. Steige auf meinen Rücken, so will ich mich frisch aufmachen und dich hinbringen.‹ – ›Aber was wird aus deinem Bündel werden, das du hier auf freier Landstraße zurücklassen mußt?‹ – ›Das weiß [407] ich nicht, und das bekümmert mich nicht‹, sagt der Lastträger. ›Ich weiß aber, daß du Hülfe brauchst und daß ich schuldig bin, sie dir zu geben.‹«

den 19. Februar 1793

Die Schönheit der fünften Handlung muß in demjenigen Zuge liegen, den sie mit keiner der vorhergehenden gemein hat.
Nun haben: 1. Alle fünf helfen wollen. 2. Die meisten haben ein zweckmäßiges Mittel dazu erwählt. 3. Mehrere wollten es sich etwas kosten lassen. 4. Einige haben eine große Selbstüberwindung dabei bewiesen. Einer darunter hat aus dem reinsten moralischen Antrieb gehandelt. Aber nur der fünfte hat unaufgefordert und ohne mit sich zu Rat zu gehen geholfen, obgleich es auf seine Kosten ging. Nur der fünfte hat sich selbst ganz dabei vergessen und »seine Pflicht mit einer Leichtigkeit erfüllt, als wenn bloß der Instinkt aus ihm gehandelt hätte«. – Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Handlung, wenn sie aussieht wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur. Mit einem Worte: eine freie Handlung ist eine schöne Handlung, wenn die Autonomie des Gemüts und Autonomie in der Erscheinung koinzidieren.
Aus diesem Grunde ist das Maximum der Charaktervollkommenheit eines Menschen moralische Schönheit, denn sie tritt nur alsdann ein, wenn ihm die Pflicht zur Natur geworden ist.
Offenbar hat die Gewalt, welche die praktische Vernunft bei moralischen Willensbestimmungen gegen unsere Triebe ausübt, etwas Beleidigendes, etwas Peinliches in der Erscheinung. Wir wollen nun einmal nirgends Zwang sehen, auch nicht, wenn die Vernunft selbst ihn ausübt; auch die Freiheit der Natur wollen wir respektiert wissen, weil wir »jedes Wesen in der ästhetischen Beurteilung als einen Selbstzweck« betrachten und es uns, denen Freiheit das Höchste ist, ekelt (empört), daß etwas dem anderen aufgeopfert werden und zum Mittel dienen soll. Daher kann eine moralische Handlung niemals schön sein, wenn wir der Operation zusehen, wodurch sie der Sinnlichkeit abgeängstigt wird. Unsre sinnliche Natur muß also im Moralischen frei erscheinen, obgleich sie es nicht wirklich ist, und es muß das Ansehen haben, als wenn die Natur bloß den Auftrag unsrer Triebe [408] vollführte, indem sie sich, den Trieben gerade entgegen, unter die Herrschaft des reinen Willens beugt.

Jena, den 23. Februar 1793

Das Resultat meiner bisher geführten Beweise ist dieses: Es gibt eine solche Vorstellungsart der Dinge, wobei von allem übrigen abstrahiert und bloß darauf gesehen wird, ob sie frei, d.i. durch sich selbst bestimmt erscheinen. Diese Vorstellungsart ist notwendig, denn sie fließt aus dem Wesen der Vernunft, die in ihrem praktischen Gebrauche Autonomie der Bestimmungen unnachläßlich fordert.
Daß diejenige Eigenschaft der Dinge, die wir mit dem Namen Schönheit bezeichnen, mit dieser Freiheit in der Erscheinung eins und dasselbe sei, ist noch gar nicht bewiesen; und das soll von jetzt an mein Geschäft sein. Ich habe also zweierlei darzutun: erstlich, daß dasjenige Objektive an den Dingen, wodurch sie in den Stand gesetzt werden, frei zu erscheinen, gerade auch dasjenige sei, welches ihnen, wenn es da ist, Schönheit verleiht, und wenn es fehlt, ihre Schönheit vernichtet; selbst wenn sie im ersten Fall gar keinen und im letzten alle andern Vorzüge besäßen. Zweitens habe ich zu beweisen, daß Freiheit in der Erscheinung eine solche Wirkung auf das Gefühlsvermögen notwendig mit sich führe, die derjenigen völlig gleich ist, die wir mit der Vorstellung des Schönen verbunden finden. (Zwar dürfte es ein vergebliches Unterfangen sein, dieses letzte a priori zu beweisen, da nur Erfahrung lehren kann, ob wir bei einer Vorstellung etwas fühlen sollen, und was wir dabei fühlen sollen. Denn freilich läßt sich weder aus dem Begriff der Freiheit, noch aus dem der Erscheinung ein solches Gefühl analytisch herausziehen, und eine Synthesis a priori ist ebensowenig; man ist also hierin durchaus auf empirische Beweise eingeschränkt, und was nur immer durch diese geleistet werden kann, hoffe ich zu leisten: nämlich durch Induktion und auf psychologischem Wege zu erweisen, daß aus dem zusammengesetzten Begriff der Freiheit und der Erscheinung, der mit der Vernunft harmonierenden Sinnlichkeit, ein Gefühl der Lust fließen müsse, welches dem Wohlgefallen gleich ist, das die Vorstellung der Schönheit zu begleiten pflegt.) Übrigens werde ich zu diesem Teil der Untersuchung so bald noch nicht kommen, da die Ausführung des erstern mehrere Briefe ausfüllen dürfte.

[409] I

Freiheit in der Erscheinung ist eins mit der Schönheit

Ich habe neulich schon berührt, daß keinem Dinge in der Sinnenwelt Freiheit wirklich zukomme, sondern bloß scheinbar sei. Aber positiv frei kann es auch nicht einmal scheinen, weil dies bloß eine Idee der Vernunft ist, der keine Anschauung adäquat sein kann. Wenn aber die Dinge, insofern sie in der Erscheinung vorkommen, Freiheit weder besitzen noch zeigen, wie kann man einen objektiven Grund dieser Vorstellung in den Erscheinungen suchen? Dieser objektive Grund müßte eine solche Beschaffenheit derselben sein, deren Vorstellung uns schlechterdings nötigt, die Idee der Freiheit in uns hervorzubringen und auf das Objekt zu beziehen. Dies ist, was jetzt bewiesen werden muß.
Frei sein und durch sich selbst bestimmt sein, von innen heraus bestimmt sein, ist eins. Jede Bestimmung geschieht entweder von außen oder nicht von außen (von innen), was also nicht von außen bestimmt erscheint und doch als bestimmt erscheint, muß als von innen bestimmt vorgestellt werden. »Sobald also das Bestimmtsein gedacht wird, so ist das Nichtvonaußenbestimmtsein indirecte zugleich die Vorstellung des Voninnenbestimmtseins oder der Freiheit.«
Wie wird nun dieses Nichtvonaußenbestimmtsein selbst wieder vorgestellt? Hierauf beruht alles; denn wird dieses an einem Gegenstand nicht notwendig vorgestellt, so ist auch gar kein Grund da, das Voninnenbestimmtsein oder die Freiheit vorzustellen. Notwendig aber muß die Vorstellung des letztern sein, weil unser Urteil vom Schönen Notwendigkeit enthält und jedermanns Beistimmung fodert. Es darf also nicht dem Zufall überlassen sein, ob wir bei der Vorstellung eines Objekts auf seine Freiheit Rücksicht nehmen wollen, sondern die Vorstellung desselben muß auch die Vorstellung des Nichtvonaußenbestimmtseins schlechterdings und notwendig mit sich führen.
Dazu wird nun erfodert, daß uns der Gegenstand selbst durch seine objektive Beschaffenheit einladet, oder vielmehr nötigt, auf die Eigenschaft des Nichtvonaußenbestimmtseins an ihm zu merken; weil eine bloße Negation nur dann bemerkt werden kann, wenn ein Bedürfnis nach ihrem positiven Gegenteile vorausgesetzt wird.
[410] Ein Bedürfnis nach der Vorstellung des Voninnenbestimmtseins (Bestimmungsgrundes) kann nur durch Vorstellung des Bestimmtseins entstehen. Zwar ist alles, was uns vorgestellt werden kann, etwas Bestimmtes, aber nicht alles wird als ein solches vorgestellt, und was nicht vorgestellt wird, ist für uns so gut als gar nicht vorhanden. Etwas muß an dem Gegenstande sein, was ihn aus der unendlichen Reihe des Nichtssagenden und Leeren heraushebt und unsern Erkenntnistrieb reizt, denn das Nichtssagende ist dem Nichts beinahe gleich. Es muß sich als ein Bestimmtes darstellen, denn er soll uns auf das Bestimmende führen.
Nun ist aber der Verstand das Vermögen, welches den Grund zu der Folge sucht, folglich muß der Verstand ins Spiel gesetzt werden. Der Verstand muß veranlaßt werden, über die Form des Objekts zu reflektieren: über die Form, denn der Verstand hat es nur mit der Form zu tun.
Das Objekt muß also eine solche Form besitzen und zeigen, die eine Regel zuläßt: denn der Verstand kann sein Geschäft nur nach Regeln verwalten. Es ist aber nicht nötig, daß der Verstand diese Regel erkennt (denn Erkenntnis der Regel würde allen Schein der Freiheit zerstören, wie bei jeder strengen Regelmäßigkeit wirklich der Fall ist), es ist genug, daß der Verstand auf eine Regel – unbestimmt welche – geleitet wird. Man darf nur ein einzelnes Baumblatt betrachten, so dringt sich einem sogleich die Unmöglichkeit auf, daß sich das Mannigfaltige an demselben von ohngefähr und ohne alle Regel so habe ordnen können, wenn man auch gleich von der teleologischen Beurteilung abstrahiert. Die unmittelbare Reflexion über den Anblick desselben lehrt es, ohne daß man nötig hat, diese Regel einzusehen und sich einen Begriff von der Struktur desselben zu bilden.
Eine Form, welche auf eine Regel deutet (sich nach einer Regel behandeln läßt), heißt kunstmäßig oder technisch. Nur die technische Form eines Objektes veranlaßt den Verstand, den Grund zu der Folge zu suchen und das Bestimmende zu dem Bestimmten; und insofern also eine solche Form ein Bedürfnis erweckt, nach einem Grund der Bestimmung zu fragen, so führt hier die Negation des Vonaußenbestimmtseins ganz notwendig auf die Vorstellung des Voninnenbestimmtseins oder der Freiheit.
[411] Freiheit kann also nur mit Hülfe der Technik sinnlich dargestellt werden, so wie Freiheit des Willens nur mit Helfe der Kausalität und materiellen Willensbestimmungen gegenüber gedacht werden kann. Mit anderen Worten: der negative Begriff der Freiheit ist nur durch den positiven Begriff seines Gegenteils denkbar, und so wie die Vorstellung der Naturkausalität nötig ist, um uns auf die Vorstellung der Willensfreiheit zu leiten, so ist eine Vorstellung von Technik nötig, um uns im Reich der Erscheinungen auf Freiheit zu leiten.
Hieraus ergibt sich nun eine zweite Grundbedingung des Schönen, ohne welche die erste bloß ein leerer Begriff sein würde. Freiheit in der Erscheinung ist zwar der Grund der Schönheit, aber Technik ist die notwendige Bedingung unsrer Vorstellung von der Freiheit.
Man könnte dieses auch so ausdrücken:
Der Grund der Schönheit ist überall Freiheit in der Erscheinung. Der Grund unsrer Vorstellung von Schönheit ist Technik in der Freiheit.
Vereinigt man beide Grundbedingungen der Schönheit und der Vorstellung der Schönheit, so ergibt sich daraus folgende Erklärung:
Schönheit ist Natur in der Kunstmäßigkeit.
Ehe ich aber von dieser Erklärung einen sichern und philosophischen Gebrauch machen kann, muß ich erst den Begriff Natur bestimmen und vor jeder Mißdeutung sicherstellen. Der Ausdruck Natur ist mir darum lieber als Freiheit, weil er zugleich das Feld des Sinnlichen bezeichnet, worauf das Schöne sich einschränkt, und neben dem Begriffe der Freiheit auch sogleich ihre Sphäre in der Sinnenwelt andeutet. Der Technik gegenübergestellt, ist Natur, was durch sich selbst ist, Kunst ist, was durch eine Regel ist. Natur in der Kunstmäßigkeit, was sich selber die Regel gibt – was durch seine eigene Regel ist. (Freiheit in der Regel, Regel in der Freiheit.)
Wenn ich sage: die Natur des Dinges: das Ding folgt seiner Natur, es bestimmt sich durch seine Natur: so setze ich darin die Natur allem demjenigen entgegen, was von dem Objekt verschieden ist, was bloß als zufällig an demselben betrachtet wird und hinweggedacht werden kann, ohne zugleich sein Wesen aufzuheben. Es ist gleichsam die Person des Dings, wodurch es von allen andern Dingen, die nicht seiner Art sind, unterschieden wird. Daher werden diejenigen Eigenschaften, [412] welche ein Objekt mit allen anderen gemein hat, nicht eigentlich zu seiner Natur gerechnet, ob es gleich diese Eigenschaften nicht ablegen kann, ohne daß es aufhörte, zu existieren. Bloß dasjenige wird durch den Ausdruck Natur bezeichnet, wodurch es das bestimmte Ding wird, was es ist. Alle Körper z.B. sind schwer, aber zur Natur eines körperlichen Dings gehören nur diejenigen Wirkungen der Schwere, welche aus seiner speziellen Beschaffenheit resultieren. Sobald die Schwerkraft an einem Dinge, für sich selbst und unabhängig von seiner speziellen Beschaffenheit, bloß als allgemeine Naturkraft wirkt, so wird sie als eine fremde Gewalt angesehen, und ihre Wirkungen verhalten sich als Heteronomie gegen die Natur des Dinges. Ein Beispiel mag dies ins Licht setzen. Eine Vase ist, als Körper betrachtet, der Schwerkraft unterworfen, aber die Wirkungen der Schwerkraft müssen, wenn sie die Natur einer Vase nicht verleugnen soll, durch die Form der Vase modifiziert, d.i. besonders bestimmt und durch diese spezielle Form notwendig gemacht worden sein. Jede Wirkung der Schwerkraft an einer Vase aber ist zufällig, welche unbeschadet ihrer Form als Vase kann hinweggenommen werden. Alsdann wirkt die Schwerkraft gleichsam außerhalb der Ökonomie, außerhalb der Natur des Dinges und erscheint sogleich als eine fremde Gewalt. Dies geschieht, wenn die Vase in einen weiten und breiten Bauch sich endigt, weil es da aussieht, als ob die Schwere der Länge genommen hätte, was sie der Breite gegeben, kurz als ob die Schwerkraft über die Form, nicht die Form über die Schwerkraft geherrscht hätte.
Ebenso ist es mit Bewegungen. Eine Bewegung gehört zur Natur des Dinges, wenn sie aus der speziellen Beschaffenheit oder aus der Form des Dinges notwendig fließt. Eine Bewegung aber, welche dem Dinge unabhängig von seiner speziellen Form durch das allgemeine Gesetz der Schwere vorgeschrieben wird, liegt außerhalb der Natur desselben und zeigt Heteronomie. Man stelle ein schweres Wagenpferd neben einen leichten spanischen Zelter. Die Last, welche jenes zu ziehen gewöhnt worden ist, hat seinen Bewegungen die Natürlichkeit genommen, daß es, auch ohne einen Wagen hinter sich her zu schleppen, ebenso mühsam und schwerfällig einhertrabt, als wenn es einen zu ziehen hätte. Seine Bewegungen entspringen nicht mehr aus seiner [413] speziellen Natur, sondern verraten die geschleppte Last des Wagens. Der leichte Zelter hingegen ist nie gewöhnt worden, eine größere Kraft anzuwenden, als er auch in seiner größten Freiheit zu äußern sich angetrieben fühlt. Jede seiner Bewegungen ist also eine Wirkung seiner sich selbst überlassenen Natur. Daher bewegt er sich so leicht, als wenn er gar keine Last wäre, über dieselbe Fläche hinweg, die das Kutschpferd mit bleischweren Füßen tritt. »Man wird bei ihm gar nicht daran erinnert, daß er ein Körper ist, so sehr hat die spezielle Pferdeform die allgemeine Körpernatur, die der Schwere gehorchen muß, überwunden.« Hingegen macht die Schwerfälligkeit der Bewegung das Kutschpferd augenblicklich in unsrer Vorstellung zur Masse, und die eigentümliche Natur des Rosses wird in demselben von der allgemeinen Körpernatur unterdrückt.
Wenn man einen flüchtigen Blick durch das Tierreich wirft, so findet man, daß die Schönheit der Tiere in demselben Verhältnis abnimmt, als sie sich der Masse nähern und bloß der Schwerkraft zu dienen scheinen. Die Natur eines Tiers (in der ästhetischen Bedeutung dieses Worts) äußert sich entweder in seinen Bewegungen oder in seinen Formen, und beide werden eingeschränkt durch die Masse. Hat die Masse Einfluß gehabt auf die Form, so nennen wir diese plump; hat die Masse Einfluß gehabt auf die Bewegung, so heißt diese unbehülflich. Im Bau des Elefanten, des Bären, des Stiers usf. ist es die Masse, welche an der Form sowohl als an der Bewegung dieser Tiere einen sichtbaren Anteil hat. Die Masse aber muß jederzeit der Schwerkraft gehorchen, die sich gegen die eigen Natur des organischen Körpers als eine fremde Potenz verhält.
Dagegen nehmen wir überall Schönheit wahr, wo die Masse von der Form und (im Tier- und Pflanzenreich) von den lebendigen Kräften (in die ich die Autonomie des Organischen setze) völlig beherrscht wird.
Die Masse eines Pferdes ist bekanntlich von ungleich größerem Gewicht als die Masse einer Ente oder eines Krebses; nichtsdestoweniger ist die Ente schwer und das Pferd leicht; bloß weil sich die lebendigen Kräfte zur Masse bei beiden ganz verschieden verhalten. Dort ist es der Stoff, der die Kraft beherrscht; hier ist die Kraft Herr über den Stoff.
Unter den Tiergattungen ist das Vögelgeschlecht der beste Beleg meines Satzes. Ein Vogel im Flug ist die glücklichste Darstellung des [414] durch die Form bezwungenen Stoffs, der durch die Kraft überwundenen Schwere. Es ist nicht unwichtig zu bemerken, daß die Fähigkeit, über die Schwere zu siegen, oft zum Symbol der Freiheit gebraucht wird. Wir drücken die Freiheit der Phantasie aus, indem wir ihm Flügel geben; wir lassen Psyche mit Schmetterlingsflügeln sich über das Irdische erheben, wenn wir ihre Freiheit von den Fesseln des Stoffes bezeichnen wollen. Offenbar ist die Schwerkraft eine Fessel für jedes Organische, und ein Sieg über dieselbe gibt daher kein unschickliches Sinnbild der Freiheit ab. Nun gibt es aber keine treffendere Darstellung der besiegten Schwere als ein geflügeltes Tier, das sich aus innerem Leben (Autonomie des Organischen) der Schwerkraft directe entgegen bestimmt. Die Schwerkraft verhält sich ohngefähr ebenso gegen die lebendige Kraft des Vogels, wie sich – bei reinen Willensbestimmungen – die Neigung zu der gesetzgebenden Vernunft verhält.
Ich widerstehe der Versuchung, Dir an der menschlichen Schönheit die Wahrheit meiner Behauptungen noch anschaulicher zu machen; dieser Materie gebührt ein eigener Brief. Du ersiehst nun aus dem bisher Gesagten, was ich zum Begriff der Natur (in ästhetischer Bedeutung) rechne und davon ausgeschlossen wissen will.
Natur an einem technischen Dinge, inwiefern wir sie dem nichttechnischen entgegensetzen, ist seine technische Form selbst, gegen welche alles andre, was nicht zu dieser technischen Ökonomie gehört, als etwas Auswärtiges, und wenn es darauf Einfluß gehabt hat, als Heteronomie und als Gewalt betrachtet wird. Aber es ist damit noch nicht genug, daß ein Ding nur durch seine Technik bestimmt erscheine – rein technisch sei; denn das ist auch jede streng mathematische Figur, ohne deswegen schön zu sein. Die Technik selbst muß wieder durch die Natur des Dinges bestimmt erscheinen, welches man den freiwilligen Konsens des Dinges zu seiner Technik nennen könnte. Hier wird also die Natur des Dings von seiner Technik wieder unterschieden, da sie doch kurz vorher für identisch mit derselben erklärt wurde. Aber der Widerspruch ist nur scheinbar. Gegen äußre Bestimmungen verhält sich die technische Form des Dinges als Natur; aber gegen das innere Wesen des Dings kann sich die technische Form wieder als etwas Äußres und Fremdes verhalten; z.B. es ist die Natur eines Zirkels, daß er eine Linie sei, die in jedem Punkte ihrer Richtung [415] von einem gegebenen Punkte gleich weit absteht. Schneidet nun ein Gärtner einen Baum zu einer Zirkelfigur aus, so fodert die Natur des Zirkels, daß er vollkommen rund geschnitten sei. Sobald also eine Zirkelfigur an dem Baume angekündiget wird, so muß sie erfüllt werden, und es beleidigt unser Auge, wenn dagegen gesündigt wird. Aber was die Natur des Zirkels fodert, das widerstreitet der Natur des Baums, und weil wir nicht umhin können, dem Baume seine eigene Natur, seine Persönlichkeit zuzugestehen, so verdrüßt uns diese Gewalttätigkeit und es gefällt uns, wenn er die ihm aufgedrungene Technik aus innerer Freiheit vernichtet. Die Technik ist also überall etwas Fremdes, wo sie nicht aus dem Dinge selbst entsteht, nicht mit der ganzen Existenz desselben eins ist, nicht von innen heraus, sondern von außen hineinkommt, nicht dem Dinge notwendig und angeboren, sondern ihm gegeben und also zufällig ist.
Noch ein Beispiel wird uns vollkommen verständigen. Wenn der Mechanikus ein musikalisches Instrument verfertigt, so kann es noch so rein technisch sein, ohne auf Schönheit Anspruch zu machen. Es ist rein technisch, wenn alles an demselben Form ist, wenn überall nur der Begriff und nirgends der Stoff oder der Mangel von seiten des Künstlers seine Form bestimmt. Auch kann man von diesem Instrumente sagen, es habe Autonomie; sobald man nämlich das αυτον in den Gedanken setzt, der hier völlig und rein gesetzgebend war und den Stoff übermeisterte. Setzt man aber das αυτον des Instruments in dasjenige, was an ihm Natur ist und wodurch es existiert, so verändert sich das Urteil. Seine technische Form wird als etwas von ihm Verschiedenes, von seiner Existenz Unabhängiges und Zufälliges erkannt und als äußre Gewalt betrachtet. Es entdeckt sich, daß diese technische Form etwas Auswärtiges ist, daß sie ihm durch den Verstand des Künstlers gewalttätig aufgedrungen worden. Ob also gleich die technische Form des Instruments, wie wir angenommen haben, reine Autonomie enthält und äußert, so ist sie selbst doch Heteronomie gegen das Ding, an dem sie sich findet. Ob sie gleich keinen Zwang, weder von seiten des Stoffs noch des Künstlers erleidet, so übt sie ihn doch gegen die eigene Natur des Dinges aus – sobald wir dieses als ein Naturding betrachten, welches einem logischen Ding (einem Begriffe) zu dienen genötigt wird.
[416] Was wäre also Natur in dieser Bedeutung? Das innere Prinzip der Existenz an einem Dinge, zugleich als der Grund seiner Form betrachtet; die innere Notwendigkeit der Form. Die Form muß im eigentlichsten Sinne zugleich selbstbestimmend und selbstbestimmt sein; nicht bloße Autonomie, sondern Heautonomie muß da sein. Aber, wirst Du hier einwenden, wenn die Form mit der Existenz des Dinges zusammen eins ausmachen muß, um Schönheit hervorzubringen, wo bleiben die Schönheiten der Kunst, welche diese Heautonomie niemals haben können? Ich will Dir darauf antworten, wenn wir erst zu dem Schönen der Kunst gekommen sind, denn dieses erfodert ein ganz eigenes Kapitel. Nur so viel kann ich Dir im voraus sagen, daß diese Foderung von der Kunst nicht darf abgewiesen werden, und daß auch die Formen der Kunst mit der Existenz des Geformten eins ausmachen müssen, wenn sie auf die höchste Schönheit Anspruch machen sollen: und da sie dieses in der Wirklichkeit nicht können, weil die menschliche Form an einem Marmor immer zufällig bleibt, so müssen sie wenigstens so erscheinen.
Was ist also Natur in der Kunstmäßigkeit? Autonomie in der Technik? Sie ist die reine Zusammenstimmung des innern Wesens mit der Form, eine Regel, die von dem Dinge selbst zugleich befolgt und gegeben ist. (Aus diesem Grunde ist in der Sinnenwelt nur das Schöne ein Symbol des in sich Vollendeten oder des Vollkommenen, weil es nicht wie das Zweckmäßige auf etwas außer sich braucht bezogen zu werden, sondern sich selbst zugleich gebietet und gehorcht und sein eigenes Gesetz vollbringt.)
Ich hoffe, Dich nunmehr in den Stand gesetzt zu haben, mir ungehindert zu folgen, wenn ich von Natur, von Selbstbestimmung, von Autonomie und Heautonomie, von Freiheit und von Kunstmäßigkeit spreche. Du wirst auch mit mir darüber einig sein, daß diese Natur und diese Heautonomie objektive Beschaffenheiten der Gegenstände sind, denen ich sie zuschreibe, denn sie bleiben ihnen, auch wenn das vorstellende Subjekt ganz hinweggedacht wird. Der Unterschied zwischen zwei Naturwesen, worunter das eine ganz Form ist und eine vollkommene Herrschaft der lebendigen Kraft über die Masse zeigt, das andre aber von seiner Masse unterjocht worden ist, bleibt übrig, auch nach völliger Hinwegdenkung des beurteilenden [417] Subjekts. Ebenso ist der Unterschied zwischen einer Technik durch Verstand und einer Technik durch Natur (wie bei allem Organischen) gänzlich unabhängig von der Existenz des vernünftigen Subjekts. Er ist also objektiv, und also ist es auch der Begriff von einer Natur in der Technik, der sich darauf gründet.
Freilich ist die Vernunft nötig, um von dieser objektiven Eigenschaft der Dinge gerade einen solchen Gebrauch zu machen, wie bei dem Schönen der Fall ist. Aber dieser subjektive Gebrauch hebt die Objektivität des Grundes nicht auf, denn auch mit dem Vollkommenen, mit dem Guten, mit dem Nützlichen hat es dieselbe Bewandtnis, ohne daß darum die Objektivität dieser Prädikate weniger gegründet wäre. »Freilich wird der Begriff der Freiheit selbst, oder das Positive, von der Vernunft erst in das Objekt hineingelegt, indem sie dasselbe unter der Form des Willens betrachtet, aber das Negative dieses Begriffs gibt die Vernunft dem Objekte nicht, sondern sie findet es in demselben schon vor. Der Grund der dem Objekte zugesprochenen Freiheit liegt also doch in ihm selbst, obgleich die Freiheit nur in der Vernunft liegt.«
Kant stellt in seiner »Kritik der Urteilskraft«, pag. 177, einen Satz auf, der von ungemeiner Fruchtbarkeit ist und der, wie ich denke, erst aus meiner Theorie seine Erklärung erhalten kann. Natur, sagt er, ist schön, wenn sie aussieht wie Kunst; Kunst ist schön, wenn sie aussieht wie Natur. Dieser Satz macht also die Technik zu einem wesentlichen Requisit des Naturschönen und die Freiheit zur wesentlichen Bedingung des Kunstschönen. Da aber das Kunstschöne schon an sich selbst die Idee der Technik, das Naturschöne die Idee der Freiheit mit einschließt, so gesteht also Kant selbst ein, daß Schönheit nichts anders als Natur in der Technik, Freiheit in der Kunstmäßigkeit sei.
Wir müssen erstlich wissen, daß das schöne Ding ein Naturding ist, d.i. daß es durch sich selbst ist; zweitens muß es uns vorkommen, als ob es durch eine Regel wäre, denn er sagt ja, es muß aussehen wie Kunst. Beide Vorstellungen: es ist durch sich selbst, und es ist durch eine Regel, lassen sich aber nur auf eine einzige Art vereinigen, nämlich, wenn man sagt: es ist durch eine Regel, die es sich selbst gegeben hat. Autonomie in der Technik, Freiheit in der Kunstmäßigkeit.
Es könnte aus dem Bisherigen scheinen, als ob Freiheit und Kunstmäßigkeit [418] einen völlig gleichen Anspruch auf das Wohlgefallen hätten, das uns die Schönheit einflößt, als ob die Technik mit der Freiheit in gleicher Reihe stünde, und da hätte ich freilich sehr unrecht, daß ich in meiner Erklärung vom Schönen (Autonomie in der Erscheinung) bloß auf die Freiheit Rücksicht nahm und der Technik gar nicht erwähnte. Aber meine Definition ist sehr genau abgewogen worden. Technik und Freiheit haben nicht dasselbe Verhältnis zum Schönen. Freiheit allein ist der Grund des Schönen, Technik ist nur der Grund unserer Vorstellung von der Freiheit, jene also der unmittelbare Grund, diese nur mittelbar die Bedingung der Schönheit. Technik nämlich trägt nur insofern zur Schönheit bei, als sie dazu dient, die Vorstellung der Freiheit zu erregen.
Vielleicht kann ich diesen Satz – der übrigens aus dem Vorhergehenden schon ziemlich klar ist – noch auf folgendem Wege erläutern.
Bei dem Naturschönen sehen wir mit unsern Augen, daß es aus sich selbst ist; daß es durch eine Regel sei, sagt uns nicht der Sinn, sondern der Verstand. Nun verhält sich aber die Regel zur Natur wie Zwang zur Freiheit. Da wir uns nun die Regel bloß denken, die Natur aber sehen, so denken wir uns Zwang und sehen Freiheit. Der Verstand erwartet und fodert eine Regel, der Sinn lehrt, daß das Ding durch sich selbst und durch keine Regel ist. Läge uns nun an der Technik, so müßte uns die fehlgeschlagene Erwartung verdrießen, die uns doch vielmehr Vergnügen macht. Also muß uns an der Freiheit und nicht an der Technik liegen. Wir hätten Ursache, aus der Form des Dinges auf einen logischen Ursprung, also auf Heteronomie zu schließen, und wider Erwartung finden wir Autonomie. Da wir über diesen Fund froh sind und uns dadurch gleichsam von einer Sorge (die in unserm praktischen Vermögen ihren Sitz hat) erleichtert fühlen, so beweist dieses, daß wir bei der Regelmäßigkeit nicht soviel als bei der Freiheit gewinnen. Es ist bloß ein Bedürfnis unserer theoretischen Vernunft, uns die Form des Dings als abhängig von einer Regel zu denken; aber daß es durch keine Regel, sondern durch sich selbst ist, ist ein Faktum für unsern Sinn. Wie könnten wir aber einen ästhetischen Wert auf die Technik legen und doch mit Wohlgefallen wahrnehmen, daß ihr Gegenteil wirklich ist? Also dient die Vorstellung der Technik [419] bloß dazu, uns die Nichtabhängigkeit des Produkts von derselben ins Gemüt zu rufen und seine Freiheit desto anschaulicher zu machen.
Dieses leitet mich nun von selbst auf den Unterschied zwischen dem Schönen und dem Vollkommenen. Alles Vollkommene, das Absolutvollkommene ausgenommen, welches das Moralische ist, ist unter dem Begriff der Technik enthalten, weil es in der Übereinstimmung des Mannigfaltigen zu Einem besteht. Da nun die Technik bloß mittelbar zu der Schönheit beiträgt, insofern sie die Freiheit bemerkbar macht, das Vollkommene aber unter dem Begriff der Technik enthalten ist, so sieht man gleich, daß es nur die Freiheit in der Technik ist, was das Schöne von dem Vollkommenen unterscheidet. Das Vollkommene kann Autonomie haben, insofern seine Form durch seinen Begriff rein bestimmt worden ist; aber Heautonomie hat nur das Schöne, weil nur an diesem die Form durch das innere Wesen bestimmt ist.
Das Vollkommene, dargestellt mit Freiheit, wird sogleich in das Schöne verwandelt. Es wird aber mit Freiheit dargestellt, wenn die Natur des Dinges mit seiner Technik zusammenstimmend erscheint, wenn es aussieht, als wenn diese aus dem Dinge selbst freiwillig hervorgeflossen wäre. Man kann das Bisherige auch kurz so ausdrücken: Vollkommen ist ein Gegenstand, wenn alles Mannigfaltige an ihm zur Einheit seines Begriffs übereinstimmt; schön ist er, wenn seine Vollkommenheit als Natur erscheint. Die Schönheit wächst, wenn die Vollkommenheit zusammengesetzter wird und die Natur dabei nichts leidet; denn die Aufgabe der Freiheit wird mit der zunehmenden Menge des Verbundenen schwüriger und ihre glückliche Auflösung eben darum überraschender.
Zweckmäßigkeit, Ordnung, Proportion, Vollkommenheit – Eigenschaften, in denen man die Schönheit so lange gefunden zu haben glaubte – haben mit derselben ganz und gar nichts zu tun. Wo aber Ordnung, Proportion etc. zur Natur eines Dinges gehören, wie bei allem Organischen, da sind sie auch eo ipso unverletzbar, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie von der Natur des Dinges unzertrennlich sind. Eine grobe Verletzung der Proportion ist häßlich, aber nicht, weil Beobachtung der Proportion Schönheit ist. Ganz und gar nicht, sondern weil sie eine Verletzung der Natur ist, [420] also Heteronomie andeutet. Ich bemerke überhaupt, daß der ganze Irrtum derer, welche die Schönheit in der Proportion oder in der Vollkommenheit suchten, davon herrührt: sie fanden, daß die Verletzung derselben den Gegenstand häßlich machte, daraus zogen sie gegen alle Logik den Schluß, daß die Schönheit in der genauen Beobachtung dieser Eigenschaften enthalten sei. Aber alle diese Eigenschaften machen bloß die Materie des Schönen, welche sich bei jedem Gegenstand abändern kann; sie können zur Wahrheit gehören, welche auch nur die Materie der Schönheit ist. Die Form des Schönen ist nur ein freier Vortrag der Wahrheit, der Zweckmäßigkeit, der Vollkommenheit.
Wir nennen ein Gebäude vollkommen, wenn sich alle Teile desselben nach dem Begriff und dem Zwecke des Ganzen richten und seine Form durch seine Idee rein bestimmt worden ist. Schön aber nennen wir es, wenn wir diese Idee nicht zu Hülfe nehmen müssen, um die Form einzusehen, wenn sie freiwillig und absichtslos aus sich selbst hervorzuspringen und alle Teile sich durch sich selbst zu beschränken scheinen. Ein Gebäude kann deswegen (beiläufig zu sagen) nie ein ganz freies Kunstwerk sein und nie ein Ideal der Schönheit erreichen, weil es schlechterdings unmöglich ist, an einem Gebäude, das Treppen, Türen, Kamine, Fenster und Öfen braucht, ohne Hülfe eines Begriffs auszureichen und also Heteronomie zu verbergen. Völlig rein kann also nur diejenige Kunstschönheit sein, deren Original in der Natur selbst sich findet.
Schön ist ein Gefäß, wenn es, ohne seinem Begriff zu widersprechen, einem freien Spiel der Natur gleichsieht. Die Handhabe an einem Gefäß ist bloß des Gebrauchs wegen, also durch einen Begriff, da; soll aber das Gefäß schön sein, so muß diese Handhabe so ungezwungen und freiwillig daraus hervorspringen, daß man ihre Bestimmung vergißt. Ginge sie aber in einem rechten Winkel ab, verengte sich der weite Bauch plötzlich zu einem engen Halse und dergleichen, so würde diese abrupte Veränderung der Richtung allen Schein von Freiwilligkeit zerstören und die Autonomie der Erscheinung würde verschwinden.
Wann sagt man wohl, daß eine Person schön gekleidet sei? Wenn weder das Kleid durch den Körper, noch der Körper durch das Kleid [421] an seiner Freiheit etwas leidet; wenn dieses aussieht, als wenn es mit dem Körper nichts zu verkehren hätte und doch aufs vollkommenste seinen Zweck erfüllt. Die Schönheit oder vielmehr der Geschmack betrachtet alle Dinge als Selbstzwecke und duldet schlechterdings nicht, daß eins dem andern als Mittel dient oder das Joch trägt. In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden, sondern zu allem schlechterdings konsentieren muß. In dieser ästhetischen Welt, die eine ganz andere ist als die vollkommenste platonische Republik, fodert auch der Rock, den ich auf dem Leibe trage, Respekt von mir für seine Freiheit, und er verlangt von mir, gleich einem verschämten Bedienten, daß ich niemanden merken lasse, daß er mir dient. Dafür aber verspricht er mir auch reciproce, seine Freiheit so bescheiden zu gebrauchen, daß die meinige nichts dabei leidet; und wenn beide Wort halten, so wird die ganze Welt sagen, daß ich schön angezogen sei. Spannt hingegen der Rock, so verlieren wir beide, der Rock und ich, von unsrer Freiheit. Deswegen sind alle ganz enge und ganz weite Kleidungsarten gleich wenig schön, denn nicht zu rechnen, daß beide die Freiheit der Bewegungen einschränken, so zeigt bei der engen Kleidung der Körper seine Figur nur auf Kosten des Kleides, und bei der weiten Kleidung verbirgt der Rock die Figur des Körpers, indem er sich selbst mit der seinigen aufbläht und seinen Herrn zu seinem bloßen Träger herabsetzt.
Eine Birke, eine Fichte, eine Pappel ist schön, wenn sie schlank emporsteigt, eine Eiche, wenn sie sich krümmt; die Ursache ist, weil diese sich selbst überlassen die krumme, jene hingegen die gerade Richtung lieben. Zeigt sich also die Eiche schlank und die Birke verbogen, so sind sie beide nicht schön, weil ihre Richtungen fremden Einfluß, Heteronomie verraten. Wird hingegen die Pappel vom Winde gebogen, so finden wir dies wieder schön, weil sie durch ihre schwankende Bewegung ihre Freiheit äußert.
Welchen Baum wird sich der Maler am liebsten aufsuchen, um ihn in Landschaften zu benutzen? Denjenigen gewiß, der von der Freiheit Gebrauch macht, die ihm bei aller Technik seines Baues gelassen ist – der sich nicht nach seinem Nachbar sklavisch richtet, sondern sich, selbst mit einiger Kühnheit, etwas herausnimmt, aus seiner Ordnung [422] tritt, sich eigensinnig dahin oder dorthin wendet, wenn er auch gleich hier eine Lücke lassen, dort etwas durch seine ungestüme Dazwischenkunft verwirren müßte. An demjenigen hingegen, der immer in einerlei Richtung verharrt, auch wenn ihm seine Gattung weit mehr Freiheit vergönnt, dessen Äste ängstlich in Reih und Glied bleiben, als wenn sie nach der Schnur gezogen wären, wird er mit Gleichgültigkeit vorübergehen.
An jeder großen Komposition ist es nötig, daß sich das Einzelne einschränke, um das Ganze zum Effekt kommen zu lassen. Ist diese Einschränkung des Einzelnen zugleich eine Wirkung seiner Freiheit, d.i. setzt es sich diese Grenze selbst, so ist die Komposition schön. Schönheit ist durch sich selbst gebändigte Kraft; Beschränkung aus Kraft.
Eine Landschaft ist schön komponiert, wenn alle einzelne Partien, aus denen sie besteht, so ineinanderspielen, daß jene sich selbst ihre Grenze setzt und das Ganze also das Resultat von der Freiheit des Einzelnen ist. Alles in einer Landschaft soll auf das Ganze bezogen sein, und alles Einzelne soll doch nur unter seiner eigenen Regel zu stehen, seinem eigenen Willen zu folgen scheinen. Es ist aber unmöglich, daß die Zusammenstimmung zu einem Ganzen kein Opfer von seiten des Einzelnen koste, da die Kollision der Freiheit unvermeidlich ist. Der Berg wird also auf manches einen Schatten werfen wollen, was man beleuchtet haben will, Gebäude werden die Naturfreiheit einschränken, die Aussicht hemmen, die Zweige werden lästige Nachbarn sein, Menschen, Tiere, Wolken wollen sich bewegen, denn die Freiheit des Lebendigen äußert sich nur in Handlung. Der Fluß will in seiner Richtung kein Gesetz von dem Ufer annehmen, sondern seinem eigenen folgen; kurz: jedes Einzelne will seinen Willen haben. Wo bliebe aber nun die Harmonie des Ganzen, wenn jedes nur für sich selbst sorgt? Daraus eben geht sie hervor, daß jedes aus innerer Freiheit sich gerade die Einschränkung vorschreibt, die das andere braucht, um seine Freiheit zu äußern. Ein Baum im Vordergrund könnte eine schöne Partie im Hintergrund bedecken; ihn zu nötigen, daß er das nicht tut, würde seiner Freiheit zu nahe getreten sein und Stümperei verraten. Was tut also der verständige Künstler? Er läßt denjenigen Ast des Baumes, der den Hintergrund zu verhüllen [423] droht, aus eigener Schwere sich heruntersenken und dadurch dem hintern Prospekte freiwillig Platz machen; und so vollbringt der Baum den Willen des Künstlers, indem er bloß seinem eigenen folgt.
Eine Versifikation ist schön, wenn jeder einzelne Vers sich selbst seine Länge und Kürze, seine Bewegung und seinen Ruhepunkt gibt, jeder Reim sich aus innerer Notwendigkeit darbietet und doch wie gerufen kommt – kurz, wenn kein Wort von dem andern, kein Vers von dem andern Notiz zu nehmen, bloß seiner selbst wegen dazustehen scheint und doch alles so ausfällt, als wenn es verabredet wäre.
Warum ist das Naive schön? Weil die Natur darin über Künstelei und Verstellung ihre Rechte behauptet. Wenn uns Virgil einen Blick in das Herz der Dido will werfen lassen und uns zeigen will, wie weit es mit ihrer Liebe gekommen ist, so hätte er dies als Erzähler recht gut in seinem eigenen Namen sagen können; aber dann würde diese Darstellung auch nicht schön gewesen sein. Wenn er uns aber die nämliche Entdeckung durch die Dido selbst machen läßt, ohne daß sie die Absicht hat, so aufrichtig gegen uns zu sein (siehe das Gespräch zwischen Anna und Dido im Anfang des vierten Buchs), so nennen wir dies wahrhaft schön; denn es ist die Natur selbst, welche das Geheimnis ausplaudert.
Gut ist eine Lehrart, wo man vom Bekannten zum Unbekanten fortschreitet; schön ist sie, wenn sie sokratisch ist, d.i., wenn sie dieselbe Wahrheiten aus dem Kopf und Herzen des Zuhörers herausfragt. Bei der ersten werden dem Verstand seine Überzeugungen in forma abgefodert, bei der zweiten werden sie ihm abgelockt.
Warum wird die Schlangenlinie für die schönste gehalten? Ich habe an dieser einfachsten aller ästhetischen Aufgaben meine Theorie besonders geprüft, und ich halte diese Probe darum für entscheidend, weil bei dieser einfachen Aufgabe keine Täuschung durch Nebenursachen stattfinden kann.
Eine Schlangenlinie, kann der Baumgartenianer sagen, ist darum die schönste, weil sie sinnlich vollkommen ist. Es ist eine Linie, die ihre Richtung immer abändert (Mannigfaltigkeit) und immer wieder zu derselben Richtung zurückkehrt (Einheit). Wäre sie aber aus keinem bessern Grunde schön, so müßte es folgende Linie auch sein:


[424] welche gewiß nicht schön ist. Auch hier ist Veränderung der Richtung; ein Mannigfaltiges, nämlich a, b, c, d, e, f, g, h, i; und Einheit der Richtung ist auch da, welche der Verstand hineindenkt und die durch die Linie k l vorgestellt ist. Diese Linie ist nicht schön, ob sie gleich sinnlich vollkommen ist.
Folgende Linie aber ist eine schöne Linie, oder könnte es doch sein, wenn meine Feder besser wäre.


Nun ist der ganze Unterschied zwischen dieser zweiten und jener bloß der, daß jene ihre Richtung ex abrupto, diese aber unmerklich verändert; der Unterschied ihrer Wirkungen auf das ästhetische Gefühl muß also in diesem einzig bemerkbaren Unterschied ihrer Eigenschaften gegründet sein. Was ist aber eine plötzlich veränderte Richtung anders als eine gewaltsam veränderte? Die Natur liebt keinen Sprung. Sehen wir sie einen tun, so zeigt es, daß ihr Gewalt geschehen ist. Freiwillig hingegen erscheint nur diejenige Bewegung, an der man keinen bestimmten Punkt angeben kann, bei dem sie ihre Richtung abänderte. Und dies ist der Fall mit der Schlangenlinie, welche sich von der oben abgebildeten bloß durch ihre Freiheit unterscheidet.
Ich könnte noch Beispiele genug anhäufen, um zu zeigen, daß alles, was wir schön nennen, sich dieses Prädikat bloß durch die Freiheit in seiner Technik erwerbe. Aber an den angeführten Proben mag es vor jetzt genug sein. Weil also Schönheit an keiner Materie haftet, sondern bloß in der Behandlung besteht; alles aber, was [sich] den Sinnen vorstellt, technisch oder nicht technisch, frei oder nicht frei erscheinen kann, so folgt daraus, daß sich das Gebiet des Schönen sehr weit erstrecke, weil die Vernunft bei allem, was Sinnlichkeit und Verstand ihr unmittelbar vorstellen, nach der Freiheit fragen kann und muß. Darum ist das Reich des Geschmacks ein Reich der Freiheit[425] – die schöne Sinnenwelt das glückliche Symbol, wie die moralische sein soll, und jedes schöne Naturwesen außer mir ein glücklicher Bürge, der mir zuruft: Sei frei wie ich.
Darum stört uns jede sich aufdringende Spur der despotischen Menschenhand in einer freien Naturgegend, darum jeder Tanzmeisterzwang im Gange und in den Stellungen, darum jede Künstelei in den Sitten und Manieren, darum alles Eckige im Umgang, darum jede Beleidigung der Naturfreiheit in Verfassungen, Gewohnheiten und Gesetzen.
Es ist auffallend, wie sich der gute Ton (Schönheit des Umgangs) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln läßt. Das erste Gesetz des guten Tones ist: Schone fremde Freiheit. Das zweite: Zeige selbst Freiheit. Die pünktliche Erfüllung beider ist ein unendlich schweres Problem, aber der gute Ton fodert sie unerläßlich, und sie macht allein den vollendeten Weltmann. Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz. Ein Zuschauer aus der Galerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen und ihre Richtung lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen. Alles ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint und doch nie dem andern in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern.
Alles, was man gewöhnlich Härte nennt, ist nichts anders als das Gegenteil des Freien. Diese Härte ist es, was oft der Verstandesgröße, oft selbst der moralischen ihren ästhetischen Wert benimmt. Der gute Ton verzeiht auch dem glänzendsten Verdienst diese Brutalität nicht, und liebenswürdig wird die Tugend selbst nur durch Schönheit. Schön ist aber ein Charakter, eine Handlung nicht, wenn sie die Sinnlichkeit des Menschen, dem sie zukommen, unter dem Zwang des Gesetzes zeigen oder der Sinnlichkeit des Zuschauers Zwang antun. In diesem Falle werden sie bloß Achtung, aber nicht Gunst, nicht Neigung einflößen; bloße Achtung demütigt den, der sie empfindet. Daher gefällt uns Cäsar weit mehr als Cato, Cimon mehr als Phocion, [426] Thomas Jones weit mehr als Grandison. Daher rührt es, daß uns oft bloß affektionierte Handlungen mehr gefallen als rein moralische, weil sie Freiwilligkeit zeigen, weil sie durch die Natur (den Affekt), nicht durch die gebieterische Vernunft wider das Interesse der Natur vollbracht werden – daher mag es kommen, daß uns die milden Tugenden mehr als die heroischen, das Weibliche so oft mehr als das Männliche gefällt; denn der weibliche Charakter, auch der vollkommenste, kann nie anders als aus Neigung handeln.

Jena, den 28. Februar 1793

Das Schöne der Kunst

Es ist von zweierlei Art: a) Schönes der Wahl oder des Stoffes – Nachahmung des Naturschönen. b) Schönes der Darstellung oder Form – Nachahmung der Natur. Ohne das letzte gibt es keinen Künstler. Beides vereinigt, macht den großen Künstler.
Das Schöne der Form oder der Darstellung ist der Kunst allein eigen. »Das Schöne der Natur«, sagt Kant sehr richtig, »ist ein schönes Ding; das Schöne der Kunst ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge.« Das Idealschöne, könnte man hinzusetzen, ist eine schöne Vorstellung von einem schönen Ding.
Bei dem Schönen der Wahl wird darauf gesehen, was der Künstler darstellt. Bei dem Schönen der Form (der Kunstschönheit stricte sic dicta) wird bloß darauf gesehen, wie er darstellt. Das erste, kann man sagen, ist eine freie Darstellung der Schönheit, das zweite eine freie Darstellung der Wahrheit.
Da sich das erste mehr auf die Bedingungen des Naturschönen einschränkt, das letzte aber der Kunst eigentümlich zukommt, so handle ich von diesem zuerst; denn erst muß gezeigt werden, was den Künstler überhaupt macht, ehe man von dem großen Künstler spricht.
Schön ist ein Naturprodukt, wenn es in seiner Kunstmäßigkeit frei erscheint.
Schön ist ein Kunstprodukt, wenn es ein Naturprodukt frei darstellt.
Freiheit der Darstellung ist also der Begriff, mit dem wir es hier zu tun haben.
[427] Man beschreibt einen Gegenstand, wenn man die Merkmale, die ihn kenntlich machen, in Begriffe verwandelt und zur Einheit der Erkenntnis verbindet.
Man stellt ihn dar, wenn man die verbundenen Merkmale unmittelbar in der Anschauung vorlegt.
Das Vermögen der Anschauungen ist die Einbildungskraft. Ein Gegenstand heißt also dargestellt, wenn die Vorstellung desselben unmittelbar vor die Einbildungskraft gebracht wird.
Frei ist ein Ding, das durch sich selbst bestimmt ist oder so erscheint.
Frei dargestellt heißt also ein Gegenstand, wenn er der Einbildungskraft als durch sich selbst bestimmt vorgehalten wird.
Aber wie kann er ihr als durch sich selbst bestimmt vorgehalten werden, da er selbst nicht einmal da ist, sondern in einem andern bloß nachgeahmt wird, da er nicht in Person, sondern durch einen Repräsentanten sich vorstellt?
Das Kunstschöne nämlich ist nicht die Natur selbst, sondern nur eine Nachahmung derselben in einem Medium, das von dem Nachgeahmten materialiter ganz verschieden ist. Nachahmung ist die formale Ähnlichkeit des Materialverschiedenen.
NB. Architektur, schöne Mechanik, Gartenkunst, Tanzkunst und dergleichen dürfen für keine Einwendungen gelten, denn daß auch diese Künste sich demselben Prinzip unterordnen, ob sie gleich entweder kein Naturprodukt nachahmen oder kein Medium dazu brauchen, wird in der Folge sehr evident werden.
Die Natur des Gegenstandes wird also in der Kunst nicht selbst in ihrer Persönlichkeit und Individualität, sondern durch ein Medium vorgestellt, welches wieder
a) seine eigene Individualität und Natur hat,
b) von dem Künstler abhängt, der gleichfalls als eine eigne Natur zu betrachten ist.
Der Gegenstand wird also durch die dritte Hand vor die Einbildungskraft gestellt; und da sowohl der Stoff, worin er nachgeahmt wird, als der Künstler, der diesen Stoff bearbeitet, ihre eigne Natur besitzen und nach ihrer eignen Natur wirken – wie ist es möglich, daß die Natur des Gegenstandes dennoch rein und durch sich selbst bestimmt kann vorgestellt werden?
[428] Der darzustellende Gegenstand legt seine Lebendigkeit ab, er ist nicht selbst gegenwärtig, sondern seine Sache wird durch einen ihm ganz unähnlichen Stoff geführt, auf den es ankommt, wieviel jener von seiner Individualität retten oder einbüßen soll.
Nun kommt also die fremde Natur des Stoffes dazwischen, und nicht diese allein, sondern auch die ebenso fremde Natur des Künstlers, der diesem Stoffe seine Form zu geben hat. Alle Dinge aber wirken notwendig nach ihrer Natur.
Es sind hier also dreierlei Naturen, die miteinander ringen. Die Natur des Darzustellenden, die Natur des darstellenden Stoffes und die Natur des Künstlers, welche jene beiden in Übereinstimmung bringen soll.
Es ist bloß die Natur des Nachgeahmten, was wir an einem Kunstprodukt zu finden erwarten; und das will eigentlich der Ausdruck sagen, daß es durch sich selbst bestimmt der Einbildungskraft vorgestellt werde. Sobald aber entweder der Stoff oder der Künstler ihre Naturen mit einmischen, so erscheint der dargestellte Gegenstand nicht mehr als durch sich selbst bestimmt, sondern Heteronomie ist da. Die Natur des Repräsentierten erleidet von dem Repräsentierenden Gewalt, sobald dieses seine Natur dabei geltend macht. Ein Gegenstand kann also nur dann frei dargestellt heißen, wenn die Natur des Dargestellten von der Natur des Darstellenden nichts gelitten hat.
Die Natur des Mediums oder des Stoffs muß also von der Natur des Nachgeahmten völlig besiegt erscheinen. Nun ist es aber bloß die Form des Nachgeahmten, was auf das Nachahmende übertragen werden kann; also ist es die Form, welche in der Kunstdarstellung den Stoff besiegt haben muß.
Bei einem Kunstwerk also muß sich der Stoff (die Natur des Nachahmenden) in der Form (des Nachgeahmten), der Körper in der Idee, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren.
Der Körper in der Idee: Denn die Natur des Nachgeahmten ist an dem nachahmenden Stoffe nichts Körperliches; sie existiert bloß als Idee an demselben, und alles Körperliche an diesem gehört bloß ihm selbst und nicht dem Nachgeahmten an.
Die Wirklichkeit in der Erscheinung: Wirklichkeit heißt hier das Reale, welches an einem Kunstwerke immer nur die Materie ist und [429] dem Formalen oder der Idee, die der Künstler in dieser Materie ausführt, muß entgegengesetzt werden. Die Form ist an einem Kunstwerk bloße Erscheinung, d.i. der Marmor scheint ein Mensch, aber er bleibt, in der Wirklichkeit, Marmor.
Frei wäre also die Darstellung, wenn die Natur des Mediums durch die Natur des Nachgeahmten völlig vertilgt erscheint, wenn das Nachgeahmte seine reine Persönlichkeit auch in seinem Repräsentanten behauptet, wenn das Repräsentierende durch völlige Ablegung oder vielmehr Verleugnung seiner Natur sich mit dem Repräsentierten vollkommen ausgetauscht zu haben scheint – kurz – wenn nichts durch den Stoff, sondern alles durch die Form ist.
Ist an einer Bildsäule ein einziger Zug, der den Stein verrät, der also nicht in der Idee, sondern in der Natur des Stoffes gegründet ist, so leidet die Schönheit; denn Heteronomie ist da. Die Marmornatur, welche hart und spröd ist, muß in der Natur des Fleisches, welches biegsam und weich ist, völlig untergegangen sein, und weder das Gefühl noch das Auge darf daran erinnert werden.
Ist an einer Zeichnung ein einziger Zug, der die Feder oder den Griffel, das Papier oder die Kupferplatte, den Pinsel oder die Hand, die ihn führte, kenntlich macht, so ist sie hart oder schwer; ist an ihr der eigentümliche Geschmack des Künstlers, die Künstlernatur sichtbar, so ist sie manieriert. Leidet nämlich die Beweglichkeit eines Muskels (in einem Kupferstich) durch die Härte des Metalls oder durch die schwere Hand des Künstlers, so ist die Darstellung häßlich, weil sie nicht durch die Idee, sondern durch das Medium bestimmt worden ist. Leidet die Eigentümlichkeit des darzustellenden Objekts durch die Geisteseigentümlichkeit des Künstlers, so sagen wir, die Darstellung sei manieriert.
Das Gegenteil der Manier ist der Stil, der nichts anders ist als die höchste Unabhängigkeit der Darstellung von allen subjektiven und allen objektiv zufälligen Bestimmungen.
Reine Objektivität der Darstellung ist das Wesen des guten Stils: der höchste Grundsatz der Künste.
»Der Stil verhält sich zur Manier, wie sich die Handlungsart aus formalen Grundsätzen zu einer Handlungsart aus empirischen Maximen (subjektiven Grundsätzen) verhält. Der Stil ist eine völlige Erhebung [430] über das Zufällige zum Allgemeinen und Notwendigen.« (Aber unter dieser Erklärung des Stils ist auch schon das Schöne der Wahl mitbegriffen, wovon jetzt noch nicht die Rede sein soll.)
Der große Künstler, könnte man also sagen, zeigt uns den Gegenstand (seine Darstellung hat reine Objektivität), der mittelmäßige zeigt sich selbst (seine Darstellung hat Subjektivität), der schlechte seinen Stoff(die Darstellung wird durch die Natur des Mediums und durch die Schranken des Künstlers bestimmt).
Alle diese drei Fälle werden an einem Schauspieler sehr anschaulich.
1. Wenn Ekhof oder Schröder den Hamlet spielten, so verhielten sich ihre Personen zu ihrer Rolle wie der Stoff zur Form, wie der Körper zur Idee, wie die Wirklichkeit zur Erscheinung. Ekhof war gleichsam der Marmor, aus dem sein Genie einen Hamlet formte, und weil seine (des Schauspielers) Person in der künstlichen Person Hamlets völlig unterging, weil bloß die Form (der Charakter Hamlets) und nirgends der Stoff (nirgends die wirkliche Person des Schauspielers) zu bemerken war – weil alles an ihm bloß Form (bloß Hamlet) war, so sagt man, er spielte schön. Seine Darstellung war im großen Stil, weil sie erstlich völlig objektiv war und nichts Subjektives sich mit einmischte; zweitens, weil sie objektiv notwendig, nicht zufällig war (wovon die Erläuterung bei einer andern Gelegenheit).
2. Wenn Madame Albrecht eine Ophelia spielte, so erblickte man zwar die Natur des Stoffes (die Person der Schauspielerin) nicht, aber auch nicht die reine Natur des Darzustellenden (die Person der Ophelia), sondern – eine willkürliche Idee der Schauspielerin. Sie hatte sich nämlich einen subjektiven Grundsatz – eine Maxime – gemacht, den Schmerz, den Wahnsinn, den edlen Anstand gerade so vorzustellen, ohne sich darum zu kümmern, ob dieser Vorstellung Objektivität zukommt oder nicht. Sie hat also nur Manier, keinen Stil gezeigt.
3. Wenn Herr Brückl einen König spielt, so sieht man die Natur des Mediums über die Form (die Rolle des Königs) herrschen, denn aus jeder Bewegung blickt der Schauspieler (der Stoff) ekelhaft und stümperhaft hervor. Man sieht sogleich die niedrige Wirkung des Mangels, weil es dem Künstler (hier dem Verstand des Schauspielers) an Einsicht fehlt, den Stoff (den Körper des Schauspielers) einer Idee[431] gemäß zu formen. Die Darstellung ist also elend, weil sie zugleich die Natur des Stoffs und die subjektiven Schranken des Künstlers offenbart.
Bei zeichnenden und bildenden Künsten fällt es leicht genug in die Augen, wieviel die Natur des Darzustellenden leidet, wenn die Natur des Mediums nicht völlig bezwungen ist. Aber schwerer dürfte es sein, diesen Grundsatz nun auch auf die poetische Darstellung anzuwenden, welche doch schlechterdings daraus abgeleitet werden muß. Ich will versuchen, Dir einen Begriff davon zu geben.
Auch hier, versteht sich, ist noch gar nicht von dem Schönen der Wahl die Rede, sondern bloß von dem Schönen der Darstellung. Es wird also vorausgesetzt, der Dichter habe die ganze Objektivität seines Gegenstandes wahr, rein und vollständig in seiner Einbildungskraft aufgefaßt – das Objekt stehe schon idealisiert (d.i. in reine Form verwandelt) vor seiner Seele, und es komme bloß darauf an, es außer sich darzustellen. Dazu wird nun erfodert, daß dieses Objekt seines Gemüts von der Natur des Mediums, in welchem es dargestellt wird, keine Heteronomie erleide.
Das Medium des Dichters sind Worte; also abstrakte Zeichen für Arten und Gattungen, niemals für Individuen; und deren Verhältnisse durch Regeln bestimmt werden, davon die Grammatik das System enthält. Daß zwischen den Sachen und den Worten keine materiale Ähnlichkeit (Identität) stattfindet, macht gar keine Schwierigkeit; denn diese findet sich auch nicht zwischen der Bildsäule und dem Menschen, dessen Darstellung sie ist. Aber auch die bloß formale Ähnlichkeit (Nachahmung) ist zwischen Worten und Sachen so leicht nicht. Die Sache und ihr Wortausdruck sind bloß zufällig und willkürlich (wenige Fälle abgerechnet), bloß durch Übereinkunft miteinander verbunden. Indessen würde auch dies nicht viel zu bedeuten haben, weil es nicht darauf ankommt, was das Wort an sich selbst ist, sondern welche Vorstellung es erweckt. Gäbe es also überhaupt nur Worte oder Wortsätze, welche uns den individuellsten Charakter der Dinge, ihre individuellsten Verhältnisse, und kurz, die ganze objektive Eigentümlichkeit des Einzelnen vorstellten, so käme es gar nicht darauf an, ob dies durch Konvenienz oder aus innerer Notwendigkeit geschähe.
[432] Aber eben daran fehlt es. Sowohl die Worte, als ihre Biegungs- und Verbindungsgesetze sind ganz allgemeine Dinge, die nicht einem Individuum, sondern einer unendlichen Anzahl von Individuen zum Zeichen dienen. Noch weit mißlicher steht es um die Bezeichnung der Verhältnisse, welche nach Regeln bewerkstelligt wird, die auf unzählige und ganz heterogene Fälle zugleich anwendbar sind und nur durch eine besondere Operation des Verstandes einer individuellen Vorstellung angepaßt werden. Das darzustellende Objekt muß also, ehe es vor die Einbildungskraft gebracht und in Anschauung verwandelt wird, durch das abstrakte Gebiet der Begriffe einen sehr weiten Umweg nehmen, auf welchem es viel von seiner Lebendigkeit (sinnlicher Kraft) verliert. Der Dichter hat überall kein anderes Mittel, um das Besondere darzustellen, als die künstliche Zusammensetzung des Allgemeinen. »Der eben jetzt vor mir stehende Leuchter fällt um« ist ein solcher individueller Fall, durch Verbindung lauter allgemeiner Zeichen ausgedrückt.
Die Natur des Mediums, dessen der Dichter sich bedient, besteht also »in einer Tendenz zum Allgemeinen«, und liegt daher mit der Bezeichnung des Individuellen (welches die Aufgabe ist) im Streit. Die Sprache stellt alles vor den Verstand, und der Dichter soll alles vor die Einbildungskraft bringen (darstellen); die Dichtkunst will Anschauungen, die Sprache gibt nur Begriffe.
Die Sprache beraubt also den Gegenstand, dessen Darstellung ihr anvertraut wird, seiner Sinnlichkeit und Individualität und drückt ihm eine Eigenschaft von ihr selbst (Allgemeinheit) auf, die ihm fremd ist. Sie mischt – um mich meiner Terminologie zu bedienen – in die Natur des Darzustellenden, welche sinnlich ist, die Natur des Darstellenden, welche abstrakt ist, ein und bringt also Heteronomie in die Darstellung desselben. Der Gegenstand wird also der Einbildungskraft nicht als durch sich selbst bestimmt, also nicht frei, vorgestellt, sondern gemodelt durch den Genius der Sprache, oder er wird gar nur vor den Verstand gebracht; und so wird er entweder nicht frei dargestellt oder gar nicht dargestellt, sondern bloß beschrieben.
Soll also eine poetische Darstellung frei sein, so muß der Dichter »die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die Größe seiner Kunst überwinden und den Stoff (Worte und ihre Flexions- und Konstruktionsgesetze) [433] durch die Form (nämlich die Anwendung derselben) besiegen«. Die Natur der Sprache (eben diese ist ihre Tendenz zum Allgemeinen) muß in der ihr gegebenen Form völlig untergehen, der Körper muß sich in der Idee, das Zeichen in dem Bezeichneten, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren. Frei und siegend muß das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorscheinen und trotz allen Fesseln der Sprache in seiner ganzen Wahrheit, Lebendigkeit und Persönlichkeit vor der Einbildungskraft dastehen. Mit einem Wort: Die Schönheit der poetischen Darstellung ist »freie Selbsthandlung der Natur in den Fesseln der Sprache«.

Literatur

  •  Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, Hanser, München 1962, S. 394-434