Der zehngliedrige Mensch

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Der zehngliedrige Mensch, wie er von Rudolf Steiner in seinen Vorträgen über «Die Apokalypse des Johannes» (Lit.:GA 104, S. 174ff) behutsam angedeutet wurde, ist eines der möglichen Schemata, durch die das Wesensgliedergefüge des Menschen illustriert werden kann. Hier wird die überragende Stellung, die das freie schöpferische Ich des Menschen hat, besonders deutlich. Daneben hat Steiner hat auch andere viergliedrige, siebengliedrige und neungliedrige Darstellungsformen gegeben. Im zehngliedrigen Schema werden die Wesensglieder wie folgt angeordnet:

Ich
Astralleib Empfindungsseele Geistselbst (Manas)
Ätherleib Verstandes- oder Gemütsseele Lebensgeist (Buddhi)
Physischer Leib Bewusstseinsseele Geistesmensch (Atma)

Das Ich des Menschen nimmt dabei eine Sonderstellung ein. Es äußert sich als Ich-Empfindung erstmals in der Empfindungsseele, leuchtet aber erst in der Verstandesseele klar auf. Es ist aber weder mit diesen seelischen Wesensglieder identisch, auch nicht mit der Bewusstseinsseele, noch mit den höheren geistigen Wesensgliedern (Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch). Vielmehr bildet das wirkliche Ich als göttlicher Funke den ungeschaffenen, überzeitlichen und mithin ewigen und völlig unabhängigen, in voller Freiheit einzig auf sich selbst gegründeten, tätig beständig sich selbst schaffenden individuellen und zugleich universellen Wesenskern bzw. Seelengrund (Meister Eckhart) des Menschen. Als Bild dafür darf man sich eine im Prinzip unbegrenzte Zahl unendlich großer, einander vollständig deckender Kreise vorstellen, von denen dennoch jeder seinen eigenen einzigartigen Mittelpunkt hat.

Der Christus ist das makrokosmische Ich, der mit der Kraft, die er vom Vater-Gott empfangen hat, den Kosmos schöpferisch gestaltet hat. Eine Kernaussage der Apokalypse des Johannes ist, dass der Mensch dazu berufen ist, künftig die gleiche Vollmacht des Ich zu erlangen, die der Christus von seinem Vater empfangen hat. Das ist auch der eigentliche Inhalt der Apokalypse des Johannes, der schon aus den ersten Worten deutlich wird: Ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ Apokalypsis Jesou Christou - es geht um die Wesensenthüllung Jesu Christi, des göttlichen makrokosmischen Welten-Ichs, und das ihm gleichgeartete mikrokosmische Ich des Menschen. Im Sendschreiben an die Gemeinde von Thyatira, welche die Griechisch-Lateinische Kulturepoche repräsentiert, in der sich das Mysterium von Golgatha ereignete, wird das ganz klar ausgesprochen. In der Übersetzung von Emil Bock wird dies besonders deutlich:

„Die gleiche Vollmacht des Ich soll ihm eigen sein, die ich von meinem Vater empfangen habe.“

Die Monade, der schöpferische Wesenskern des Menschen, also sein Ich, entstammt dem Nirvanaplan. Dieser Wesenskern trat in der Lemurische Zeit in die irdischen Inkarnation herein - um sich damit aus dem «Nichts» heraus sein individuelles Karma zu schaffen:

„Der Mensch tritt in der Mitte der lemurischen Zeit auf der Erde auf und schafft zum ersten Male eigenes Karma; früher hatte er kein individuelles Karma geschaffen -, so müssen wir nun fragen: Woher kann dieses Karma nur kommen, da es als etwas Neues herein wirkte? - Es kann nur aus dem Nirvana kommen. Damals mußte etwas hereinwirken in die Welt, das aus dem Nirvana kam, aus dem, wo aus dem «Nichts» heraus geschaffen wird. Die Wesen, die damals die Erde befruchteten, mußten bis ins Nirvana hinaufreichen. Was die vierfüßigen Wesen befruchtete, so daß sie Menschen wurden, waren Wesen, die vom Nirvanaplan herunterkamen. Sie nennt man Monaden. Das ist der Grund, warum damals Wesen dieser Art vom Nirvanaplan herunterkommen mußten. Vom Nirvanaplan ist das Wesen, das in uns, im Menschen ist, die Monade.“ (Lit.:GA 93a, S. 125)

Was derart als wirkliches Ich im Menschen in vollständig individualisierter Weise lebt, das ist das Christus-Wesen selbst:

„Die Menschheit ist von einer Einheit ausgegangen; aber die bisherige Erdenentwickelung hat zur Sonderung geführt. In der Christus-Vorstellung ist zunächst ein Ideal gegeben, das aller Sonderung entgegenwirkt, denn in dem Menschen, der den Christusnamen trägt, leben auch die Kräfte des hohen Sonnenwesens, in denen jedes menschliche Ich seinen Urgrund findet.“ (Lit.:GA 13, S. 294)

„Kein äußerer Name kann «mich», dieses Wesen, benennen; ein ganz anderer Name nur kann das ausdrücken: «Ich bin der Ich-bin!» Es gibt keine Möglichkeit, woanders den Namen zu finden des Sonnengeistes als in dem Menschen. Das, was als Ich im Menschen lebt, das ist das Christus-Wesen.“ (Lit.:GA 109, S. 154)

„Was Christus für die Welt ist, das ist das Ich für den Menschen. Sein Ich ist ein Teil des Christus, aus seinem Ich gehen alle Kräfte hervor; aber damit sie wachsen und zunehmen können, müssen sie immer wieder in seinem Ich zusammenströmen. Dieses Zusammenströmen der menschlichen Kräfte im Ich geschieht in den Zwischenzeiten zwischen den Inkarnationen. Da sammeln sich die während eines Menschenlebens entfalteten Kräfte und festigen sich, um verstärkt hervorzugehen in einer neuen Inkarnation. Aber wenn der Mensch eine etwas höhere Stufe der Entwicklung erreicht, dann lernt er immer mehr, diesen Prozess auch während des Erdenlebens bewusst vorzunehmen. Er entfaltet seine Kräfte bewusst im Dienste der Welt, und die dadurch gemachten Erfahrungen leitet er bewusst über in sein Ich, in das Zentrum seines Wesens. Sie werden dann schon während des Erdenlebens dem Ich eingepflanzt; er nimmt dadurch die Arbeit vieler Jahre der Zwischenzeit zwischen seinen Inkarnationen voraus, wo dieses Sammeln der entfalteten Kräfte im Ich durch die Hilfe höherer Wesen geschieht.

Sobald der Mensch anfängt, selbst bewusst während des Lebens in dieser Weise Kräfte zu sammeln und neu zu entfalten, da wächst sein Geist in der Geisteswelt, und er verwandelt immer mehr sein ganzes Wesen in ein unsterbliches. Denn was er selbst seinem Wesen einverleibt, das bleibt ihm als dauernder Bestandteil seines Wesens.“ (Lit.:GA 91, S. 255f)

Steiner über den zehngliedrigen Menschen

Im neunten Vortrag aus GA 104, gehalten am 26. Juni 1908 in Nürnberg, sagt Steiner über den zehngliedrigen Menschen folgendes:

Graphik zum zehngliedrigen Menschen, enthalten in (Lit.:GA 104, S. 176)

„Wir werden am besten verstehen, was aus dem Menschen werden kann, wenn wir die Geduld haben, den Menschen nochmals zu betrachten, wie er geworden ist und welche Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft in ihm sind. Wenn wir den Menschen heute betrachten, so steht er vor uns als ein viergliedriges Wesen. Das erste, was wir am Menschen erkennen, ist der sogenannte physische Leib. Das ist dasjenige Glied, das der Mensch gemeinschaftlich hat mit allen heutigen Geschöpfen des Mineralreiches, das man am Menschen mit Augen sehen, mit Händen greifen kann. Es ist das niederste Glied der menschlichen Wesenheit, dasjenige, was allein zurückbleibt als Leichnam im Tode. Aber dieser physische Leib würde jeden Augenblick das Schicksal haben, das der Leichnam im Tode hat, er würde zerfallen, wenn er nicht durchdrungen wäre von dem, was wir nennen den Äther- oder Lebensleib. Diesen Ätherleib hat der Mensch nicht mehr gemeinschaftlich mit den Geschöpfen des mineralischen Reiches, er hat ihn gemeinschaftlich mit den Wesen des Pflanzenreiches auf der Erde. Der Ätherleib ist in jedem Menschen ein Kämpfer gegen den Tod, der zwischen Geburt und Tod die Teile des physischen Leibes, die sich fortwährend trennen wollen, zusammenhält. Was ist in Wahrheit des Menschen physischer Leib? Das, was er nach einiger Zeit wird, wenn der Tod die Gestalt zerstört hat: Asche, ein Häuflein Asche, das nur so künstlich in seinen Teilen hineingeordnet ist in den Lebensleib, daß das Ganze des Menschen den Eindruck macht, den es heute auf den Beschauer ausübt. Das zweite Glied also ist der Äther- oder Lebensleib. Das dritte, das der Mensch mit allen Tieren gemein hat, ist der sogenannte astralische Leib, der Träger von allen Instinkten, Leidenschaften, Begierden, von allen Gedanken und Vorstellungen und so weiter, das, was man gewöhnlich das Seelische nennt im Menschen. Dann haben wir als viertes jenes Glied der menschlichen Wesenheit, das den Menschen zur Krone der Erdenschöpfung macht, welches verursacht, daß er hinausragt über alle übrigen Wesenheiten der Erdenschöpfung und das den Menschen vorzugsweise dazu befähigt, sich als Ich, als individuelles, selbstbewußtes Wesen des Erdendaseins zu entwickeln.

In der Zukunft wird die Entwickelung des Menschen so verlaufen, daß der Mensch nach und nach von seinem Ich aus die niederen Teile, die unter dem Ich liegen, bearbeitet, durcharbeitet, daß er das Ich zum Herrn der anderen Teile macht. Wenn das Ich durchgearbeitet, zu seinem Eigentum gemacht hat den astralischen Leib, so daß nichts mehr von unbewußten und unbewachten Trieben, Instinkten und Leidenschaften in diesem Astralleib ist, dann hat es ausgebildet, was wir Geistselbst oder Manas nennen. Das ist nichts anderes, als was der astralische Leib auch ist, nur ist dieser eben vor seiner Umwandlung durch das Ich das dritte Glied. Wenn das Ich dann auch den Ätherleib umwandelt, so entsteht Buddhi oder Lebensgeist, und wenn das Ich einstmals in urferner Zukunft den physischen Leib umwandelt, so daß dieser durch das Ich selbst ganz vergeistigt ist – und das ist die schwierigste Arbeit, weil der physische Körper der dichteste ist –, dann hat sich der physische Leib zum höchsten Glied der menschlichen Wesenheit entwickelt, zu Atma oder Geistmensch.

So haben wir, wenn wir uns diesen Menschen vorstellen in seiner Siebengliedrigkeit, den physischen Leib, den Äther- oder Lebensleib, den astralischen Leib, das Ich, ferner dasjenige, was der Mensch in der Zukunft entwickelt, Geistselbst oder Manas, Lebensgeist oder Buddhi und Geistmensch oder Atma. Das ist der siebengliedrige Mensch. Doch wird der Mensch diese höheren Glieder erst in urferner Zukunft entwickeln. Auf unserer Erde ist es dem Menschen noch nicht beschieden, so weit auf sich zu wirken, daß er alle diese höheren geistigen Teile zur Ausbildung bringt.

Wenn wir so diesen siebengliedrigen Menschen betrachten, dann haben wir aber den Menschen, der heute vor uns steht, doch noch nicht ganz begriffen. Zwar ist es richtig, daß, wenn wir im großen und ganzen den Menschen überschauen, wir von diesen sieben Gliedern reden können. Aber wir müssen, wenn wir den heutigen Menschen verstehen wollen, noch genauer reden.

Sie werden sich erinnern, daß der physische Leib auf dem Saturn entwickelt worden ist, der Ätherleib auf der Sonne, der astralische Leib auf dem Monde, und daß das Ich auf der Erde sich ausbilden soll und sich bis zu einem bestimmten hohen Grad schon ausgebildet hat. Nun aber müssen wir diese Erdenentwicklung des Menschen noch etwas genauer ins Auge fassen. Dasjenige, was man Geistselbst, umgewandelten Astralleib nennt, daß der Mensch ganz vollkommen bewußt innerhalb dieses Geistselbstes, seines astralischen Leibes, wirkt und arbeitet, das wird für die große Zahl der Menschen erst am Ende der Erdenentwicklung erreicht sein. Dagegen mußte der Mensch während unserer Erdenentwicklung eine Art Vorbereitung durchmachen, die es schon im Laufe der Erdenentwicklung möglich machte, sozusagen halb bewußt und halb unbewußt an seinen drei niedrigen Gliedern zu arbeiten.

Dieses halb bewußte und halb unbewußte Arbeiten begann in der lemurischen Zeit, auf die wir ja schon hingewiesen haben. Damals fing das Ich im ganz dumpfen Bewußtsein an zu arbeiten, und zwar zunächst an dem astralischen Leib. Wenn Sie also die Erdenentwicklung verfolgen von der lemurischen Zeit aus in die erste atlantische herein, dann werden Sie finden, daß das Ich zuerst halb unbewußt, nur dämmerhaft bewußt, an seinem astralischen Leib arbeitete. Was damals zuerst auf der Erde als Umwandlungsprodukt des astralischen Leibes erschienen ist, nennen wir Empfindungsseele. Dann arbeitete während der atlantischen Zeit, währenddem die Luft durchzogen war von Nebelwassermassen, das Ich im dumpfen Bewußtsein am Ätherleib und arbeitete dasjenige aus, was man Verstandes- oder Gemütsseele nennt. Und von dem Zeitpunkte an, wo von der Gegend in der Nähe des heutigen Irlands aus der große Impuls gekommen ist, der die Völker vom Westen nach dem Osten getrieben und herübergeführt hat über die große atlantische Flut zu unserer neuen Kultur, von dem Beginn des letzten Drittels der atlantischen Zeit an arbeitete das Ich unbewußt am physischen Leib, und es arbeitete dasjenige hinein, was man die Bewußtseinsseele nennt, was dem Menschen die Anlage gab, ein mehr oder weniger selbstbewußtes Ich aus der Gruppenseelenhaftigkeit herauszuarbeiten, das erst mit der Erscheinung des Christus Jesus den großen Impuls der völligen Individualität erlangte. Da wurde der Mensch eigentlich erst fähig zu dem, was man Arbeiten im astralischen Leib mit mehr oder weniger Bewußtsein nennen kann. Wir haben eigentlich erst seit der Einprägung des Christentums auf der Erde damit begonnen, bewußt an unserem astralischen Leibe zu arbeiten. So daß, wenn wir heute vom Menschen sprechen, wir sagen müssen: Der Mensch hat entwickelt physischen Leib, Atherleib, Astralleib, dann Empfindungsseele, den einstmals im dämmerhaften Bewußtsein umgewandelten Astralleib, die Verstandesseele, den in der atlantischen Urzeit dämmerhaft umgewandelten Ätherleib, und die Bewußtseinsseele, den in der letzten atlantischen Zeit dämmerhaft umgewandelten physischen Leib, so daß er sich allmählich heranbildete, um nach und nach Manas so weit zu entwickeln, wie es heute im Menschen zu beobachten ist. “ (Lit.:GA 104, S. 174ff)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.
  1. Emil Bock: Das neue Testament. Übersetzung in der Originalfassung, Urachhaus, Stuttgart 1998, S. 636, ISBN 3-8251-7221-X