Heilpädagogik

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Graphische Übersichten zur Entwicklung des Kindes und Jugendlichen

Die Heilpädagogik für seelenpflegebedürftige Menschen auf anthroposophischer Basis wird heute weltweit sehr erfolgreich angewendet. Sie ist aus den Impulsen hervorgegangen, die Rudolf Steiner in seinem 1924 für Ärzte und Heilpädagogen gehaltenen heilpädagogischen Kurs gegeben hat zur Förderung von Kindern oder auch Erwachsenen, "die aus einer unvollständig gebliebenen Entwickelung heraus erzogen werden sollen, beziehungsweise, soweit es möglich ist, geheilt werden sollen." (Lit.: GA 317, S. 11)

Grundlagen

"Es ist ja natürlich, daß vorangehen soll bei jedem, der unvollständig entwickelte Kinder erziehen will, eine Erkenntnis, eine wirklich eindringliche Erkenntnis der Erziehungspraxis für gesunde Kinder. Das ist dasjenige, was sich jeder, der solche Kinder erziehen will, aneignen müßte. Denn man muß sich ganz klar darüber sein, daß all dasjenige, was eigentlich bei unvollständig entwickelten Kindern, bei krankhaften Kindern auftreten kann, in intimerer Art auch im sogenannten normalen Seelenleben bemerkbar ist, man muß nur entsprechend das normale Seelenleben beobachten können. Man möchte sagen, irgendwo in einer Ecke sitzt bei jedem Menschen im Seelenleben zunächst eine sogenannte Unnormalität." (Lit.: GA 317, S. 11)

"Wir haben ja im Grunde genommen gar kein weiteres Recht, über die Normalität oder Abnormalität des kindlichen Seelenlebens oder menschlichen Seelenlebens überhaupt zu reden, als indem wir hinschauen auf dasjenige, was durchschnittsmäßig «normal» ist. Es gibt kein anderes Kriterium als dasjenige, was allgemein üblich ist vor einer Gemeinschaft von Philistern. Und wenn diese Gemeinschaft irgend etwas für vernünftig oder gescheit ansieht, so ist alles dasjenige «abnormes» Seelenleben, was nach Ansicht dieser Philister nicht «normales» Seelenleben ist. Ein anderes Kriterium gibt es zunächst nicht. Daher sind die Urteile so außerordentlich konfus, wenn man anfängt, indem man eine Abnormität konstatieren kann, dann alles Mögliche zu treiben, und damit abzuhelfen glaubt - statt dessen treibt man ein Stück Genialität heraus." (Lit.: GA 317, S. 12f)

Erziehung durch Selbsterziehung

"Derjenige, der Erzieher werden will für abnorme Kinder, der ist nie fertig, für den ist jedes Kind wieder ein neues Problem, ein neues Rätsel. Aber er kommt nur darauf, wenn er nun geführt wird durch die Wesenheit im Kinde, wie er es im einzelnen Fall machen muß. Es ist eine unbequeme Arbeit, aber sie ist die einzig reale.

Daher handelt es sich im Sinne dieser Geisteswissenschaft so stark darum, daß wir gerade als Erzieher im allereminentesten Sinne Selbsterziehung pflegen.

Wir werden die beste Selbsterziehung üben, wenn wir mit Interesse die Krankheitssymptome verfolgen." (Lit.: GA 317, S. 74f)

Humor und Enthusiasmus

"Vor allen Dingen, was gehört zum Erziehen von solchen Kindern dazu? Nicht die bleierne Schwere, sondern Humor, wirklicher Humor, Lebenshumor. Man wird trotz allen möglichen gescheiten Kunstgriffen solche Kinder nicht erziehen können, wenn man nicht den nötigen Lebenshumor hat. Also es wird schon Platz greifen müssen in der anthroposophischen Bewegung, daß man Sinn hat für Beweglichkeit. Ich will nicht auf zu viel hinweisen. Aber es ist schon wirklich wahr, am wenigsten wird man verstanden mit dem, was ich, wenn ich gefragt werde, wenn es sich um die eine oder andere Kalamität handelt, was sollen wir tun, wenn ich da antworte: Enthusiasmus haben. Enthusiasmus haben, das ist dasjenige, auf was es ankommt. - Und auf Enthusiasmus kommt es gerade bei Kindern an, welche abnorm sind." (Lit.: GA 317, S. 102f)

Denkdefekte und Willensdefekte

In der Regel hat man es bei Entwicklungsstörungen mit organisch bedingten Willensdefekten und sehr viel seltener mit unmittelbaren Denkdefekten zu tun, die oft nur eine sekundäre Folge der Willenshemmung sind. So ist z.B. die Leber das wesentliche Organ, um Ideen in die Tat umzusetzen. Ist die Lebertätigkeit gestört, treten Willenshemmungen auf (Lit.: GA 317, S. 22).

"Im kindlichen Organismus hat man also, wenn es sich um einen Willensdefekt handelt, vor allem zu fragen: Mit welchem Organe, mit welcher Organentartung, mit welcher Organerkrankung steht ein solcher Willensdefekt in Zusammenhang? - Das ist die wichtigere Frage.

Von so ungeheurer Wichtigkeit ist nicht der Denkdefekt. Die meisten Defekte sind eigentlich Willensdefekte; denn auch wenn Sie im Denken einen Defekt haben, müssen Sie sorgfältig hinschauen, inwieferne der Denkdefekt ein Willensdefekt ist. Denn, wenn Sie zu schnell oder zu langsam denken, so können die Gedanken ganz richtig sein, es handelt sich nur darum, daß der Wille, der wirkt in der Ineinandersetzung, einen Defekt hat. Man muß hinschauen, bis zu welchem Grade der Wille darinnen steckt. Eigentlich einen Denkdefekt können Sie nur konstatieren, wenn unabhängig vom Willen Deformationen der Gedanken auftreten, Sinnestäuschungen. Bei der Einstellung zur äußeren Welt treten sie im ganz Unbewußten auf, da wird das Vorstellungsbild selber unregelmäßig. Oder aber wir haben etwas wie Zwangsvorstellungen, und daß sie Zwangsvorstellungen sind, hebt sie aus dem Willen heraus. Aber auf das muß man vor allem aufmerksam sein, ob man es mit einem Willensdefekt oder Denkdefekt zu tun hat. Die Denkdefekte fallen zumeist schon in das Gebiet des abgesonderten Heilens. Mit den Willensdefekten hat man es meistens zu tun in der Erziehung von unvollständig entwickelten Kindern." (Lit.: GA 317, S. 19f)

Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik

"Als im Jahre 1924 eine Gruppe junger Menschen, die in der Behinderten-Arbeit tätig war, an Rudolf Steiner herantrat mit der Frage nach einem erneuerten Menschenverständnis als Grundlage für ihre Arbeit, erfolgte die Gründung der heilpädagogischen Bewegung in den Instituten am Lauenstein bei Jena und unter der Leitung von Ita Wegman (1876-1943) am Sonnenhof in Arlesheim. Es ist dadurch ... ein neuer Einschlag in der Entwicklung der Heilpädagogik in Mitteleuropa erfolgt.

(...) Der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmende Verlust eines religiös-verankerten Menschenbildes, der bis in unser Jahrhundert hinein die Signatur der Behinderten-Arbeit ist, spiegelt den Bruch gegenüber dem Menschenbild der Goethezeit und machte für das breite, gesellschaftliche Bewußtsein den andersartigen Menschen zunehmend zu einem zu Versorgenden, zu einer Last in den progressiv naturwissenschaftlich ausgerichteten Sozialgebilden. Man muß ins Auge fassen, daß hier ein Vakuum sich auszubreiten begann, dem sich damals ein erweitertes denkendes Bewußtsein nicht entgegenstellen konnte. Gegenüber einem absterbenden Glauben war eine neue Erkenntnissicherheit über den Ursprung, das Wesen und die Entwicklung des Menschen nicht mehr gegenwärtig. Zweifellos gibt es genügend Beispiele hervorragender Persönlichkeiten und mutiger Einrichtungen in der Entwicklungsgeschichte der karitativ orientierten Organisationen, vor allem auch in den Jahren nach 1933, die den Versuch machten, das Ebenbild Gottes im Menschen wenigstens zu bewahren. Der Einbruch des materialistischen Weltbildes hat aber schon früh auch dort tiefe Spuren hinterlassen.

(...) Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich eine materialistisch-biologische Denkungsart gegenüber diesem Durchblick auf die seelisch-geistige Bestimmung des Menschen im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bewußtsein durchgesetzt hatte, die folgenreich im 20. Jahrhundert in die Arbeit mit behinderten Menschen hineinwirkt unter dem Primat der Vererbungsbestimmtheit der Entwicklung. Auf diesem Hintergrund gewinnen die Ausführungen Rudolf Steiners, als er 1924 die Richtkräfte der anthroposophischen Heilpädagogik formulierte ihr historisches Gewicht" (Lit.: Müller-Wiedenmann, S. 318 - 322).

In der Praxis der anthroposophischen Heilpädagogik kommt der Zusammenarbeit der Heilpädagogen mit anthroposophischen Ärzten und Heileurythmisten ein großer Stellenwert zu. Keine Behinderung darf als unabänderlich hingenommen werden, auch nicht im Erwachsenenalter:

"Ich glaube, es ist außerordentlich wichtig, daß man gegenüber der Situation behinderter Erwachsener immer offen bleibt. Wir fügen einem behinderten Erwachsenen das größte und wahrscheinlich unverzeihliche Unrecht zu, wenn wir seinen Fall als gegeben, endgültig und als nicht mehr zu ändern hinnehmen. Das ist gleichbedeutend mit Mord." (Lit.: Thomas J. Weihs, S. 186).

Literatur

  • Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs, GA 317 (1995), ISBN 3-7274-3171-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Wilhelm Uhlenhoff: Die Kinder des Heilpädagogischen Kurses. Krankheitsbilder und Lebenswege, Vlg. Freies Geistesleben, Stuttgart 3. Auflage 2007
  • Bernard Lievegoed: Heilpädagogische Betrachtungen. Edition Bingenheim, Wuppertal 1984
  • Bernard Lievegoed: Soziale Gestaltungen am Beispiel heilpädagogischer Einrichtungen. Info3-Verlag, Frankfurt am Main 1986
  • Thomas J. Weihs: Das entwicklungsgestörte Kind. Heilpädagogische Erfahrungen in Camphill-Gemeinschaften, Fischer TB, Frankfurt am Main 1983
  • Hans Müller-Wiedemann: Heilpädagogik und Sozialtherapie - Idee und Auftrag. In: Zivilisation der Zukunft. Arbeitsfelder der Anthroposophie, herausgegeben von Herbert Rieche und Wolfgang Schuchhardt, Urachhaus Vlg., Stuttgart 1981, S. 318 - 346
  • Nils Christie: Jenseits von Einsamkeit und Entfremdung. Gemeinschaften für aussergewöhnliche Menschen, Vlg. Freies Geistesleben, Stuttgart 1992
  • Georg von Arnim: Was bedeutet Seelenpflege?. Die Aufgaben der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie, Verein für ein erweitertes Heilwesen, Bad Liebenzell/Unterlengenhardt 1993
  • Grimm, Rüdiger: Bibliographie der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie, Verlag am Goetheanum, 1993, ISBN 9783723507001
  • Kurt Vierl: Psychologie als spirituelle Betätigung: Tragekraft im Schicksalswirken, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1994, ISBN 978-3772510694
  • Volker Frielingsdorf ; Rüdiger Grimm ; Brigitte Kaldenberg : Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. Entwicklungslinien und Aufgabenfelder 1920 bis 1980, Verlag am Goetheanum, 2013, ISBN 978-3-89896-506-4

Siehe auch: