Ihr seid Götter

Aus AnthroWiki

Ihr seid Götter“ ist ein im Johannes-Evangelium 10,34 LUT überlieferter Ausspruch des Christus, den dieser mit Bezug auf Psalm 82,6 LUT den Juden entgegenhält, als diese ihn der Gotteslästerung bezichtigen, nachdem er nach der Heilung eines Blindgeborenen (Joh 9,1-41 LUT) das Gleichnis vom guten Hirten (Joh 10,1-30 LUT) erzählt und sich darin als Sohn Gottes zu erkennen gegeben hatte:

„31 Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen. 32 Jesus sprach zu ihnen: Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen? 33 Die Juden antworteten ihm und sprachen: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott. 34 Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz (Psalm 82,6): »Ich habe gesagt: Ihr seid Götter«? 35 Wenn er "die" Götter nennt, zu denen das Wort Gottes geschah - und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden -, 36 wie sagt ihr dann zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott -, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn? 37 Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt mir nicht; 38 tue ich sie aber, so glaubt doch den Werken, wenn ihr mir nicht glauben wollt, damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir ist und ich in ihm. 39 Da suchten sie abermals, ihn zu ergreifen. Aber er entging ihren Händen.“

Johannes-Evangelium: 10,32-39 LUT

Die Stelle in den Psalmen, auf die der Christus verweist, lautet:

אֲ‍ֽנִי־אָ֭מַרְתִּי אֱלֹהִ֣ים אַתֶּ֑ם וּבְנֵ֖י עֶלְיֹ֣ון כֻּלְּכֶֽם׃

„»Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten ...“

Rudolf Steiner erhellt den tieferen Sinn dieses Ausspruchs:

El Greco: Heilung des Blindgeborenen (bald nach 1570)

„Diese Heilung des Blindgeborenen, wie sie in dem Johannes-Evangelium steht, wird nun wiederum ganz besonders entstellt. Sie haben die Geschichte ja vielleicht öfters im Evangelium gelesen:

«Und Jesus ging vorüber und sah einen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er ist blind geboren? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündiget, noch seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm.» (9,1-3)

Und dann heilt er ihn. Man braucht nur zu fragen: Ist es etwa ein christliches Empfinden, daß man so interpretiert: Hier ist ein Blindgeborener. Gesündigt, so daß er blind geboren ist, haben nicht seine Eltern, gesündigt hat auch nicht er, aber er ist von Gott blind gemacht worden, damit der Christus kommen kann und zum Ruhme Gottes ein Wunder tun kann. Damit also eine Wirkung dem Gotte zugeschrieben werden könnte, mußte erst der Betreffende von dem Gotte blind gemacht werden! Es ist aber nur nicht richtig gelesen. Es heißt auch gar nicht, daß sich «die Werke Gottes bei diesem Blinden offenbaren sollten».

Wenn wir dieses Zeichen verstehen wollen, so müssen wir zurückgehen auf den Sprachgebrauch, wie das Wort «Gott» gebraucht wurde. Das werden Sie am leichtesten finden, wenn Sie ein anderes Kapitel aufschlagen, wo der Christus geradezu angeklagt wird, daß er von sich behauptete, er wäre mit dem Gotte eins. Wie antwortet er?

«Jesus anwortete ihnen: Stehet nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter? » (10, 34)

Das heißt, der Christus antwortet: In dem Innersten der Menschenseele ist die Anlage zu einem Gotte. Es ist etwas Göttliches. Wie oft haben wir es ausgesprochen, daß das vierte Glied der menschlichen Wesenheit die Anlage zu dem Göttlichen im Menschen ist. «Ihr seid Götter!», das heißt: ein Göttliches wohnt in euch! Dieses Göttliche ist etwas anderes als der Mensch, als die Person des Menschen, wie er hier zwischen Geburt und Tod lebt; das ist auch etwas anderes als das, was ein Mensch von seinen Eltern ererbt hat. Woher kommt dieses Göttliche, diese Individualität des Menschen? Sie geht von Verkörperung zu Verkörperung, durch wiederholte Erdenleben. Aus einem früheren Erdenleben herüber, aus einer früheren Inkarnation kommt diese Individualität. Also: nicht seine Eltern haben gesündigt, auch nicht seine Persönlichkeit, zu der man gewöhnlich «Ich» sagt. Aber in einem früheren Leben hat dieser Mensch die Ursache dazu gelegt, daß er blind geboren ist in diesem Leben. Blind ist er dadurch geworden, daß sich die Werke des Gottes in ihm von einem früheren Leben her in seiner Blindheit zeigen. Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung, wird hier klar und deutlich von dem Christus Jesus angedeutet. Auf was also muß jetzt gewirkt werden, wenn diese Krankheit geheilt werden sollte? Es muß auf das gewirkt werden, was nicht als ein vergängliches Ich zwischen Geburt und Tod lebt, sondern tiefer müssen sich die Kräfte hineinbohren, in das Ich, das von Leben zu Leben geht. Die Christus-Kraft hat sich abermals gesteigert. Bis jetzt haben wir gesehen, daß sie nur auf das gewirkt hat, was ihr gegenübersteht. Jetzt wirkt sie auf das, was das Menschenleben zwischen Geburt und Tod überlebt, was von Leben zu Leben geht. Der Christus fühlt sich selbst als der Repräsentant des Ich-bin. Indem er seine Kraft hineingießt in das Ich-bin, indem so der hohe Gott des Christus sich mitteilt dem Gotte im Menschen, bekommt der Mensch die Kraft, sich von innen heraus zu heilen. Jetzt ist der Christus hineingedrungen bis in das innerste Wesen der Seele. Seine Kraft hat hineingewirkt in die ewige Individualität des Kranken und hat diese dadurch stark gemacht, daß die eigene Kraft des Christus auftritt in der Individualität des Kranken und dadurch auch hineinwirkt bis in die Folgen der früheren Inkarnationen.“ (Lit.:GA 112, S. 175f)

Ein ähnliches Wort wie der Christus hat einstmals auch Luzifer gesprochen, als er Adam und Eva versuchte, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen:

„1 Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? 2 Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; 3 aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! 4 Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, 5 sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 6 Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. 7 Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“

Genesis: 3,1-7 LUT

„Die Welt hat heute noch ein ganz besonderes Vorurteil. Man redet davon, wie wenn es in der Welt durchaus so zugehen müßte wie in einer Schule: dass es bloß auf die Weltenlehrer ankäme. Beim Christus handelt es sich nicht um einen Weltenlehrer, sondern um einen Weltentäter, der das Mysterium von Golgatha vollbracht hat und dessen Wesenheit man zu erkennen hat. Darauf kommt es an. Wie wenig es auf das bloße Wort ankommt, auf den bloßen Lehrgehalt, das kann uns gerade dieses lehren, das ein schönes Wort aus dem Mund des Christus ist: «Ihr seid Götter!» (Johannes-Ev. 10, 34), und daß er immer und immer hingewiesen hat darauf, daß der Mensch sein Höchstes erreicht, wenn er zum Bewußtsein des Gotteswesens in seiner Natur kommt. Und man könnte sagen, es tönt in die Welt das Christus-Wort hinaus: Ihr sollt euch bewußt sein, daß ihr göttergleich seid! — Man könnte sagen: Eine große Lehre!

Von anderswo her tönt dieselbe Lehre. Da wo die Bibel erzählt von dem Ausgang der Erdenentwickelung, da ist es Luzifer, der herantritt und sagt: Ihr sollt werden wie die Götter! Derselbe Lehrgehalt, von Luzifer hertönend, derselbe Lehrgehalt, von Christus herrührend: Ihr sollt sein wie die Götter! Und beides bedeutet für die Menschen das Entgegengesetzte. Es sind wahrhaft erschütternde Posaunenklänge, die in diesen Worten klingen: das eine Mal hertönend von dem Versucher, das andre Mal von dem Erlöser und Befreier und dem Wiederhersteller der menschlichen Natur.“ (Lit.:GA 140, S. 102f)

„Zweimal ist in der Menschheitsentwickelung dasselbe Wort gebraucht worden: Einmal bei der Paradieses Versuchung, als Luzifer zu dem Menschen sagte: «Ihr werdet sein wie die Götter, eure Augen werden geöffnet werden.» Das ist der bildliche Ausdruck für den luziferischen Impuls. Luzifer hat damit die Geistigkeit in die niedere Natur des Menschen gegossen und dafür den Menschen die Möglichkeit gegeben, zur inneren Freiheit durch sittliche Motive zu kommen. Und ein zweites Mal wurde gesagt, jetzt von dem Christus: Seid ihr nicht Götter? - Dasselbe Wort! Daraus sieht man, daß es nicht nur ankommt auf den Inhalt eines Wortes, sondern auf das Wesen, das ein Wort ausspricht, auf die Art und Weise, wie ein Wort gesprochen wird. Da sieht man den notwendigen Zusammenhang zwischen der Luzifertat und der Tat des Christus auch in bildlicher Weise ausgedrückt, wie die religiösen Urkunden das zu tun pflegen.

Luzifer ist der Bringer der persönlichen Freiheit des einzelnen Menschen, Christus ist der Träger der Freiheit des ganzen Menschengeschlechtes, des ganzen Menschentums auf Erden. Das ist das Bedeutsame der Anthroposophie, daß sie uns lehrt, daß die Anerkennung des Christus-Wesens in solcher Weise geschehen wird, daß es dem Menschen freisteht, den Christus anzuerkennen oder nicht, wie es dem Menschen freisteht, nicht moralisch zu sein.“ (Lit.:GA 150, S. 99)

Dass wir auf Erden das Wort des Christus von dem des Luzifer unterscheiden lernen, ist von besonderer Bedeutung im Leben nach dem Tod, wenn wir zur Sonnensphäre hinauf und darüber hinaussteigen:

„Vor dem Mysterium von Golgatha, in der ersten Kulturepoche der nachatlantischen Zeit, war die Sonne so, daß auf dem Sonnenkörper gleichsam zu erblicken war der Thron des Christus. Diejenigen, die gut waren im Leben, trafen auf dem Sonnenplan die Wesenheit des Christus an. Während der Zarathustra-Zeit war der Christus schon auf dem Wege zur Erde, und der Mensch konnte ihn auf der Sonne nicht finden. Seit dem Mysterium von Golgatha ist der Christus mit der Erde vereinigt. Wenn die Menschen auf der Erde sich nicht den Christus-Impuls angeeignet haben, können sie zwischen dem Tode und einer neuen Geburt den Christus nicht finden. Wenn man dann Sonnenbewohner geworden ist und sich den Christus-Impuls einverwoben hat, so steht man vor einer Menge von Tatsachen, die wir als die Akasha-Chronik der Sonne bezeichnen. Hat man auf der Erde den Christus nicht gefunden, so kann man auch auf der Sonne die Akasha-Chronik nicht lesen. Wir können diese Schrift lesen lernen, wenn wir auf der Erde mit warmem Herzen das Mysterium von Golgatha aufgenommen haben, dann lernen wir auf der Sonne lesen, was der Christus seit Millionen von Jahren auf der Sonne getan hat. Unseren heutigen Verhältnissen nach sind wir stark genug, um Sonnenbewohner werden zu können. Später gelangen wir zum Mars, dann zum Jupiter und Saturn, dann in die Fixsternwelt. Bei der Rückkehr hierher wird unser Ätherleib kleiner und kleiner, bis wir so klein geworden sind, daß wir uns wieder in einem neuen Menschenkeim verkörpern können.

Bis zur Sonnenzeit stehen wir unter der Führerschaft des Christus. Von da ab brauchen wir einen Führer, der uns von der Sonne weiter hinaus in den Kosmos zu führen hat. Es tritt uns nun Luzifer zur Seite. Wenn wir ihm auf dem physischen Plan verfallen, so ist das schlimm, aber wenn wir auf der Erde das richtige Verständnis für den Christus-Impuls gehabt haben, so sind wir auf der Sonne stark genug, auch Luzifer ohne Gefahr zu folgen. Er sorgt von da an für das innere Weiterkommen der Seele, so wie der Christus auf dieser Seite der Sonne für unsern Aufstieg bis dahin gesorgt hat. Haben wir uns den Christus-Impuls auf der Erde angeeignet, so ist auf dem Wege zur Sonne Christus der Konservator der Seele. Außerhalb des Sonnenkreises ist Luzifer der Führer im kosmischen Weltenall; innerhalb desselben ist er der Versucher.

Sind wir zur Sonnenzeit ausgerüstet mit dem Christus-Impuls, so leiten uns Christus und Luzifer als Brüder. Wie verschieden sind doch die gleichen Worte Christi und Luzifers aufzufassen! Als ein wunderbarer Geleitspruch das Wort Christi: «In euch lebt der göttliche Funke, ihr seid Götter». Und Luzifers große Versuchung: «Ihr werdet sein wie Gott». Das sind zwei gleiche Aussprüche, aber die furchtbarsten Gegensätze! Alles hängt davon ab, wo der Mensch hier steht: an der Seite Christi oder an der Seite Luzifers.

Geisteswissenschaft gibt uns ein bedeutendes Verständnis für die Welt. Es muß im physischen Körper etwas wie Erkenntnis an uns herantreten. Wir müssen uns durch Geisteswissenschaft auf der Erde ein Verständnis für Christus und Luzifer aneignen, sonst kommen wir nicht bewußt in den Weltenraum hinaus.

Jetzt beginnt auf der Erde die Zeit, wo die Menschen sich bewußt darüber werden müssen, ob es Christus oder Luzifer ist, die uns nach dem Tode ihre Worte in die Seele raunen. Wir müssen in dem Leben zwischen Geburt und Tod Christus in der rechten Weise verstehen lernen, damit wir nicht im schlafenden Zustand von der Sonnenzeit an durch die Weltenräume wandern müssen.“ (Lit.:GA 130, S. 339f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.