Ralf Rothmann

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Ralf Rothmann (2006)

Ralf Rothmann (* 10. Mai 1953 in Schleswig) ist ein deutscher Schriftsteller. In seinen Romanen, Erzählungen und Gedichten wird ein Panorama des Lebens von der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland entworfen. Rothmann erhielt für sein Werk zahlreiche renommierte Literaturpreise.

Leben und Werk

Ralf Rothmann wurde im norddeutschen Schleswig geboren und lebte bis zu seinem fünften Lebensjahr auf dem Gut Fahrenstedt bei Böklund. Der Vater, Walter Rothmann, in Essen geboren, und die Mutter Elisabeth, gebürtige Isbahner, ursprünglich aus Konitz bei Danzig, arbeiteten dort als Melker. Nach der Geburt eines Bruders zog die Familie nach Oberhausen im Ruhrgebiet, wo Arbeitskräfte im Kohlebergbau gesucht wurden und die Verdienstmöglichkeiten besser waren.

Der Umzug aus der ländlichen Idylle Schleswig-Holsteins in die verrußte Industrielandschaft des Ruhrgebiets bedeutete einen Schock für den Fünfjährigen (was auch in einigen Werken Rothmanns thematisiert wird). Der Vater arbeitete als Kohlenhauer in der Zeche Haniel, die Mutter als Kellnerin in der Bahnhofsgaststätte. Nach der Volksschule und einem kurzen Besuch der Handelsschule machte Rothmann zunächst eine Lehre als Maurer. Er arbeitete einige Jahre auf dem Bau und anschließend in verschiedenen Berufen, z. B. als Koch und Fahrer in einer Großküche und als Krankenpfleger im Universitätsklinikum in Essen. In dieser Zeit begann er intensiv zu lesen und schrieb seine ersten Gedichte.

1976 zog er nach Berlin, zunächst nach Schöneberg, wo er in der Boheme- und Hausbesetzer-Szene um den Winterfeldtplatz herum die ersten Schriftsteller und Künstler kennen lernte. Während er die Signatur der ummauerten Stadt erkundete und sich mit Gelegenheitsjobs wie Drucker oder Koch in einer Kneipe finanzierte, entstand der erste Lyrikband, der 1984 in einem kleinen Westberliner Verlag erschien. Außerdem unternahm Rothmann ausgedehnte Reisen durch die USA und durch Südamerika (Mexiko, Peru, Ecuador). Als Prosaautor debütierte er 1986 mit der Erzählung Messers Schneide, ein erster Roman erschien 1991. Danach lebte er ein Jahr lang in Paris. Ein Großteil seines Werkes entstand während längerer Aufenthalte in Griechenland (Ithaka, Hydra, Thassos, Spetses), aber auch an der Ostsee (Glücksburg, Ahrenshoop, Travemünde). 1994 war Rothmann writer in residence in Oberlin (Ohio, USA), im Wintersemester 1999/2000 poet in residence an der Universität Essen. Immer aber blieb Berlin für ihn das Zentrum seines Arbeitens. Nach der Maueröffnung, die er in Kreuzberg erlebte, zog er in den ehemaligen Ostteil der Stadt, nach Friedrichshagen am Müggelsee, und heute lebt er mit seiner Frau, einer Literaturwissenschaftlerin, im äußersten Norden, in Berlin-Frohnau.

Von den ersten, noch im Ruhrgebiet angesiedelten Romanen Stier, Wäldernacht, Milch und Kohle und Junges Licht an sind Rothmanns Romane „autobiographisch getönt“, wie er sagt. Nicht intellektuelle Exkursionen also, sondern persönliche, auf den Reisen und in den verschiedenen Berufen gewonnene Erfahrungen sind ihm Anlass für seine Literatur. Auch das Leben in Berlin findet seinen Niederschlag in Erzählungsbänden und Romanen wie etwas Flieh mein Freund!, Hitze, Rehe am Meer oder Feuer brennt nicht. Außerdem setzt er sich in dem Roman Im Frühling sterben von 2015, in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt und von der Kritik in seiner Intensität mit „Im Westen nichts Neues“ von Remarque verglichen, und in dem darauf folgenden Roman Der Gott jenes Sommers (2018) mit der Generation seiner Eltern auseinander, mit ihrem Schweigen und Verschweigen in den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte.

„Die Biografien von Ralf Rothmanns Männern stimmen mit seiner eigenen in vielen Punkten überein. ‚Meine Sprache hat nur dann Schwerkraft, wenn ich aus meinen Erfahrungen spreche‘, sagt er und räumt damit alle Skepsis aus, dass man eine Ahnung von diesem Autor bekommt, indem man über seine Figuren spricht. Wie seine Helden ist Ralf Rothmann früh von zu Hause abgehauen. Wie Carl Karlsen aus Stier brach er die Maurerlehre ab, die Maloche, die Gespräche über ‚Normalformate‘ und ‚Mischverhältnisse‘, Benzinverbrauch und Sterbegeld.
Ralf Rothmann ist in einer Zeit aufgewachsen, in der Zweckoptimismus und Fortschrittsgläubigkeit viel galten, aber auch viel zerbrachen. Wie er stammen seine Figuren aus proletarischen, bestenfalls kleinbürgerlichen Elternhäusern.“

Susanne Messmer[1]

Und Hajo Steinert schrieb in der „Literarischen Welt“ (29. April 2012): „Kaum ein anderer Autor seiner Generation beherrscht die Erzählkunst eines poetischen Realismus so wie der vielfach preisgekrönte Ralf Rothmann. Auf seine Bücher warten manche Leser so inbrünstig wie früher Fans auf die neue Platte ihrer Lieblingsband.“

Werk

Ruhrgebietsromane

Die Ruhrgebietsromane (Stier, Wäldernacht, Milch und Kohle, Junges Licht) Ralf Rothmanns stehen in einem engen Zusammenhang, nicht nur bezogen auf Ort und Zeit des Geschehens. Es gibt Rückkehrerfiguren, die nach langer Abwesenheit noch einmal in die Region verschlagen werden, es gibt die Welt der Jugendbanden und ihrer Regelverstöße und es gibt die Kinder, die in den Arbeitersiedlungen groß werden. Dabei unterscheidet sich das Erzählen Rothmanns deutlich von den politischen Schreibkonzepten der Dortmunder Gruppe 61 oder dem späteren Werkkreis Literatur der Arbeitswelt.

„Ich hatte keinerlei Kontakt zu schreibenden Menschen, obwohl ich immer für die Schublade geschrieben habe und mich auch nach diesem Kontakt sehnte. Aber der einzige Kontakt, der möglich gewesen wäre, wäre der zu Literaten der Arbeitswelt gewesen. Aber ich wollte keine Literatur der Arbeitswelt machen, ich wollte mich auch nicht mit ihr beschäftigen. Ich wollte die Arbeitswelt ja überwinden, weil ich sie als eng, bedrückend und letztlich auch niederdrückend empfunden habe.“

Ralf Rothmann im Interview mit dem Freitag[2]

Rothmann schildert die Welt der kleinen Leute an der Ruhr aus der Außenseiterposition, aus der Sicht der Kinder, von Aussteigern, von Künstlern. Wenn er die Arbeitswelt der Bergleute durchaus kenntnisreich schildert, bekommt seine Darstellung schnell einen mythischen Zug. Die Wäldernacht, das Dunkel der in der Steinkohle konservierten Wälder, erscheint eher als geheimnisvolle Gegenwelt der Väter, wie sie sich deren Kinder vorgestellt haben mögen. Rothmanns Romane sind stark autobiographisch geprägt, von den Erfahrungen der Kindheit an der Ruhr ebenso wie in der Distanz des freien Autors, der prägende Ereignisse aus der Berliner Distanz erneut reflektiert.

„Die Romane ‚Stier‘, ‚Wäldernacht‘ und ‚Milch und Kohle‘ schildern mit autobiografischen Anklängen sehr genau die Situation der Menschen zwischen Zeche, Sportplatz und Pommesbude. Rothmanns Stil ist nah am Leben, immer wieder greift er die rüde bisweilen auch komische Sprache der einfachen Leute auf. Er zitiert gerne Kalauer mitten aus dem Leben. Beschreibt akribisch Alltagsszenen aus den Milieus, fängt die Stimmung der ‚Straße‘ ein.“

3sat: Kulturzeit vom 14. Mai 2003

Stier

Thema des Romans ist die Jugendkultur der 70er Jahre im Ruhrgebiet. Mit Rockmusik, Drogen, wilden Partys und ersten WGs sucht eine kleine Szene von Außenseitern neue Lebenswege. Erzählt wird die Geschichte des Berliners Kai Carlsen, seine Erinnerung ans Ruhrgebiet. In der Welt der Bergarbeitersiedlungen wird Kai Carlsen Maurer, aber sucht gleichzeitig nach der großen Liebe, nach alternativen Lebensentwürfen.

Mit der Figur Eckhart Eberwein setzt Rothmann denen ein Denkmal, die an der Ruhr erste Treffpunkte für die Subkultur ins Leben riefen, Konzerte veranstalteten und wilde Partys feierten. Der frühere Bauingenieur betreibt die Diskothek Blow up in Essen, Kai Carlsen beginnt bei ihm zu arbeiten, zieht schließlich sogar bei Eberwein ein.

Die wilde Szene gerät aber, vor allem durch Drogen, in immer heftigere Probleme, persönliche Katastrophen zeichnen sich ab. Kai Carlsen entkommt in einen Job als Pflegehelfer und qualifiziert sich dort weiter, indem er den Umgang mit einer komplexen Maschine zur „Blutwäsche“ erlernt. Ein kunstbegeisterter Kolumbianer und die Krankenschwester Marleen helfen ihm, in der Welt schwerer Krankheiten und des täglichen Todes zu überleben.

Trotz aller Katastrophen wird die Rock-Szene als Lebenswelt geschildert, die dem jungen Carlsen neue Perspektiven eröffnete, als Befreiung aus dem dumpfen Mief der Elterngeneration. Insofern ist Stier ein Bildungsroman. Die Zeit der wilden 70er repräsentiert für den Erzähler Kai Carlsen die Sehnsucht nach einem anderen Leben und erscheint trotz aller negativen Entwicklungen als Aufbruchszeit.

Wäldernacht

Der Roman Wäldernacht schildert das Ruhrgebiet aus der Perspektive des Außenseiters. Der Künstler Jan Marrée kehrt auf Einladung eines Kunstmäzens in seine Heimatstadt zwischen Bottrop und Oberhausen zurück. Er erinnert sich an seine Jugendzeit mit Rockern, Konzerten und ersten Liebesabenteuern. Er trifft dabei auf die gealterten Figuren seiner Jugend. Prägende Figur ist dabei „Racko“, der als Zuhälter und Dealer versucht, seinen Traum vom anderen Leben mit Gewalt weiterzuleben.

Der Titel verweist auf die versunkenen Wälder der Urzeit, die in den Tiefen des Ruhrgebiets als Steinkohle ruhen. Gleichzeitig spielt er auf literarische Quellen an, der Begriff erscheint unter anderem bereits im Torquato Tasso (6. Gesang)[3] und im Hyperion:

„Lieber! Es war eine Zeit, da auch meine Brust an großen Hoffnungen sich sonnte, da auch mir die Freude der Unsterblichkeit in allen Pulsen schlug, da ich wandelt unter herrlichen Entwürfen, wie in weiter Wäldernacht, da ich glücklich, wie die Fische des Ozeans, in meiner uferlosen Zukunft weiter, ewig weiter drang.“

Hölderlin: Hyperion am Bellarmin

Milch und Kohle

Der Roman Milch und Kohle wendet sich noch einmal dem Ruhrgebiet der 60er Jahre zu. Nach seiner Schilderung der Berliner Welt der 90er aus der Sicht eines Jugendlichen zieht es Rothmann noch einmal zurück ins Ruhrgebiet, in die spießige Welt der Arbeiter und ihrer Familien. Beobachtet und geschildert wird diese Welt aus der Sicht eines Arbeitersohns. Es ist die Beobachtung eines Scheiterns. Die Träume der Erwachsenen von heiler Welt zerbrechen an finanziellen Sorgen, an Staublunge, in Alkoholexzessen. Wie in Flieh, mein Freund! bricht die Mutter aus der Familienordnung aus. Es ist aber nicht die große Flucht der Berlinerin in Drogen und weite Reisen, sondern die kleine Flucht ins Tanzcafé, zu einem italienischen Liebhaber.

Thomas Wirtz interpretiert in der FAZ Rothmanns humorvolle Tanzanleitung zum Twist als Metapher für den rasenden Stillstand der Zeit: „Twist ist die bewegte Allegorie der frühen sechziger Jahre: ein Stillstand bei durchrüttelnder Körperunruhe, eine Standorttreue mit vergeblichen Ausbruchsversuchen im Hüftbereich.“[4]

Junges Licht

Junges Licht (Roman) - Artikel in der deutschen Wikipedia

Der Roman Junges Licht schildert die Sommerferien des zwölfjährigen Bergarbeitersohns Julian und in einer zweiten Erzählebene die Arbeit des Vaters unter Tage. Die Welt der Bergleute und ihrer Kinder um 1960 erscheint dabei wesentlich aus der Perspektive des Jungen. Rothmann erhielt für den Roman 2004 den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, der von Deutschlandradio und der Stadt Braunschweig verliehen wird.

Berliner Romane

Flieh, mein Freund!

Flieh, mein Freund! - Artikel in der deutschen Wikipedia

Der Roman Flieh, mein Freund! spielt in Berlin. Erzähler und Zentralfigur ist der 20-jährige Louis Blaul, genannt „Lolly“. Als Sohn der 1968er-Generation ist er bei den Großeltern aufgewachsen. Seine Mutter Mary hat seinen Vater Martin bei einer Anti-Atomkraft-Demonstration kennengelernt. Die Mutter ist aber alles andere als politisch, eher esoterisch und flippig. Als Drogenkurier geschnappt, verbrachte sie Lollys Kinderzeit in Gefängnis und Psychiatrie und interessiert sich auch nachher wenig für die Familie. Der Vater als Gegenfigur hat sich mit einer eigenen Werbeagentur etabliert, heißt deshalb in der Familie sarkastisch „Onkel Umsatz“. Kernthema des Romans ist Lollys erste große Liebe zu einer pummeligen Frau, die er sehr erotisch findet. Gleichzeitig schämt er sich aber für ihr Aussehen.

Der Roman kommt in der flapsigen Sprache des Berliner Jugendlichen daher, bemüht sich sehr um Bonmots und kleine, witzige Episoden aus dem Berliner Alltag.

Hitze

Inhalt im Wortlaut des Klappentextes: Seit dem Tod seiner Lebensgefährtin, der ihn völlig aus der Bahn geworfen hat, arbeitet der Kameramann Simon deLoo als Hilfskoch und Fahrer in einer Großküche in Berlin-Kreuzberg. Eines Tages glaubt er in einer jungen polnischen Stadtstreicherin die Silhouette seiner toten Frau wiederzuerkennen. Er versorgt sie mit deren Kleidung, überlässt ihr die leerstehende Wohnung – doch Lucilla entzieht sich ihm: Sie ist auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit und will sich zunächst nicht mit ihm einlassen...[5]

Ein zentrales Anliegen des Romans ist die Schilderung der Welt der kleinen Leute, der Kneipen, der Großküchen, der Straße. Der Wortwitz der Gescheiterten fasziniert Rothmann auch im Roman Hitze. Christoph Bartmann schreibt in seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung:

„Kaum ein anderer Autor besitzt seine Gabe, die räudige, komische und gemeine Sprache des subproletarischen Alltags zu notieren. Früher war das Ruhrgebiet der Schauplatz dieser Sondierungen, jetzt ist es Berlin (wo Rothmann schon lange lebt). Aber dieser neorealistische Chronist des Lebens am Boden der Städte ist kein Literat der Arbeitswelt oder dessen, was von ihr noch übrig ist. Eher scheint es, als bräuchte er den vulgären sprachlichen Mikrokosmos, den er schildern kann wie keiner, nur deshalb, um in ihm sein Schweigen einzunisten.“

Die Mystik der Großküche, Schweigend zerfließen: Ralf Rothmanns Roman „Hitze“. In: Süddeutsche Zeitung. 17. März 2003

Mit der Erzählerfigur des Fahrers gelingt es Rothmann, sehr unterschiedliche soziale Lebenswelten zu verbinden. Die Welt der Penner, denen sein Arbeitskollege heimlich Mahlzeiten zukommen lässt, den Schlachthof und seine Brutalität, die billigen und schmutzigen Berliner Bordelle ebenso wie die frustrierte Luxuswelt der Neureichen.

Mit seiner neuen Liebe Lucilla kehrt der Erzähler Berlin den Rücken und entdeckt mit ihr die Welt des ländlichen Polens, die romantischen Seen und die Natur. Aber auch diese Welt ist bereits angekränkelt, hinter der Fassade verbirgt sich knallharte Immobilienspekulation. Rothmann zeigt den Zusammenbruch dieses Traums in einem Bild, der grausam detailliert geschilderten Zerstörung eines Nests durch einen Habicht.

„Hitze, der neue Roman von Ralf Rothmann, spielt einen Winter, einen Sommer und einen Herbst lang in den neunziger Jahren, 20. Jahrhundert. Transzendentale Sehnsucht glüht selbst im tiefsten Schnee. Rothmann, Jahrgang 1953, ein gelernter Maurer, ist zusehends als Christologe in der fast gottverlassenen Landschaft der Gegenwartsliteratur unterwegs. Ein Sozialromantiker, der die Milieus archiviert, um sie zu mythologisieren.

Die letzten filmreifen Einstellungen dieses Entwicklungsromans eines zufriedenen Hiob zeigen den Helden im Endstadium seiner Glückseligkeit, als geheilt in den Tod entlassenen Penner, „gelassen im Schmerz und am Ende wohlauf“. Sein Hinscheiden wird von rätselhaften Geräuschen und plötzlicher Dunkelheit begleitet. Am Anfang des Romans fährt im Hintergrund ein Krankenwagen durchs Bild mit ausgeschalteter Innenbeleuchtung, „Lag da ’n Toter?“ Zum Schluss vermutet man, dass DeLoo in dieser Szene sich selbst begegnet ist, als der andere, der er werden wird.“

Markus Clauer: Rezension, In: DIE ZEIT. 13/2003

Das „grandiose Scheitern“, der beinahe mythologische Zug seiner scheiternden Helden, hat Rothmann den Ruf eines christlichen Schriftstellers eingebracht. Für Milch und Kohle hat Rothmann den Evangelischen Buchpreis bekommen. Obwohl Bekenntnisse vom Autor nicht zu haben sind, weist er den christlich-meditativen Zug seines Schreibens auch nicht zurück:

„‚Das erbärmliche Scheitern der Figuren ist für mich nur ein vordergründiges Scheitern’, sagt Ralf Rothmann dazu, und: ‚Gibt es jemanden, der grandioser gescheitert ist als Jesus?‘“

Susanne Messmer[1]

Auch der Roman Hitze reflektiert das Thema Bildungsroman auf typisch Rothmannsche Weise. Wie auch andere Helden der Moderne endet DeLoos Lebensbericht nicht mit erfolgreicher Integration in die Gesellschaft. Typisch für Rothmanns Helden ist dabei ein meditativer Zug der Verweigerung.

„Simon deLoo, der sprachlose Kameramann, weigert sich bis zum Ende Fuß zu fassen. Vordergründig verdingt er sich in Großküchen, weil er den Tod der Freundin nicht verkraftet. Eigentlich will er aber nur eins: nirgends mitmachen.“

Susanne Messmer[1]

Feuer brennt nicht

Berlin, fast zwanzig Jahre nach dem Mauerfall. Kreuzberg ist gesichtslos geworden. Auch Wolf ist in die Jahre gekommen und seine Liebe zu Alina verblasst. Einige Jahre zuvor schien die Beziehung des Autors in mittleren Jahren und der jungen Buchhändlerin noch für die Ewigkeit gemacht zu sein. Mittlerweile kreisen Wolfs Gedanken mehr um die Angst vor dem eigenen Altern. Der Umzug an den Müggelsee soll die Lösung sein. Doch als plötzlich Charlotte auftaucht, eine Geliebte aus der Vergangenheit, wird die Idylle am grünen Rand der Stadt schnell wieder brüchig. Die als Ausflüge mit seinem Labrador Webster getarnte erotische Affäre zur Professorin bleibt von Alina nicht lange unbemerkt. Doch zu Wolfs Überraschung akzeptiert sie das Verhältnis nicht nur, sie ermuntert ihn sogar dazu...

„Sein neuer Roman ist eine zärtlich-leidenschaftliche Liebesgeschichte, aber sie ist auch die atemberaubende Verbindung von Eros und Metaphysik, Sinnlichkeit und Übersinnlichem. "Feuer brennt nicht" ist ein Schriftstellerroman, aber er ist auch die Suche nach Momenten der Übereinstimmung von Literatur und Schönheit, Schreiben und Göttlichem. Letztlich geht es immer um die Suche nach Erlösung: über das kraft des Schreibens geschärfte Sehen, über die durch Poesie gesteigerte Wahrnehmung und Empfindung. So kann man Rothmanns Roman lesen. Muss man aber nicht. "Feuer brennt nicht" funktioniert auch ohne "Taschen-Metaphysik" und doppelten Boden. Zum einen durch Rothmanns immer selbstironischen Blick auf die Welt, wie sie ist und wie man sie sich gelegentlich wünschen würde. Zum anderen durch die faszinierende Bandbreite seine Sprache: die unglaublich vielfältigen Tonlagen von sinnlicher Zärtlichkeit bis zu derber Erotik, von feinsinniger Reflexion bis zu den kernigsten Sprüchen.“

Deutscher Liebeseros Ost-West. Michaela Schmitz in: Deutschlandfunk 19. April 2009[6]

Krieg und Nachkrieg

Im Frühling sterben

Im Frühling sterben - Artikel in der deutschen Wikipedia

Der Gott jenes Sommers

Auch in „Der Gott jenes Sommers“ (2018) werden, wie in „Im Frühling sterben“ (2015), die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges beschrieben. Wurden in dem vorigen Roman die Erlebnisse der beiden (zwangsrekrutierten) SS-Soldaten Walter Urban und Fiete Caroli während der letzten großen Wehrmachtsoffensive in Ungarn erzählt, so bildet jetzt die sogenannte Heimatfront den Hintergrund des Geschehens: Die zwölfjährige Luisa Norff lebt mit ihrer älteren Schwester Sibylle und der Mutter auf einem Gut des Schwagers Vinzent, eines hochrangigen SS-Offiziers, am Kaiser-Wilhelm-Kanal (dem heutigen Nord-Ostsee-Kanal). Der Vater, der ein Militärkasino in Kiel führt, besucht die Familie nur gelegentlich und bringt dann Lebensmittel mit, aber auch – und das ist für Luisa weitaus bedeutender – immer wieder Bücher. Durch den klugen Blick des Mädchens erfährt der Leser, wie die einzelnen Familienmitglieder mit der Bedrohung durch Tiefflieger, dem Flüchtlingselend, der Verblendung, dem Verschweigen und der allgegenwärtigen Denunziation umgehen: Es gibt Ironie und Sarkasmus auf Seiten des Vaters, stille Resignation und Abstumpfung auf Seiten der Mutter, und die neunzehnjährige Sibylle, die unter den Entbehrungen des Krieges am meisten zu leiden scheint, spricht offen aus, was allen klar ist. „Alle hier haben ein Radio und wissen, dass es vorbei ist, oder? Dass der Ami bald den Rhein überquert, der Russe vor Berlin steht und die Wunderwaffe nur Gequatsche ist. Jeder Soldat, der jetzt noch ins Feld muss, stirbt für nichts und wieder nichts, und je eher sie euren Hitler und sein Gesocks zum Teufel jagen, desto besser für uns!“ (Seite 74) Mit ihrem verzweifelten Hedonismus und ihrer an Prostitution grenzenden Offenheit für das männliche Geschlecht provoziert sie vor allem ihre Stiefschwester Gudrun, Tochter der Mutter aus erste Ehe und linientreue Führerin der NS-Frauenschaft, denn auch deren Mann Vinzent zählt zu ihren Geliebten – was Billie eines Tages zum Verhängnis werden soll.

Luisa sieht vieles, versteht aber nicht alles; so auch das Geschehen anlässlich des 40. Geburtstags von Vinzent: Es wird ein großes Fest gegeben, Lebensmittel werden aufgetischt, die im gesamten Reich nur noch schwer zu bekommen sind, und trotz Endzeitstimmung wird nahezu orgiastisch gefeiert: „Genießt diesen Krieg“, sagt einer der hochrangigen SS-Gäste, „der Frieden wird furchtbar werden.“ (Seite 155) Auf diesem Fest verschwindet die betrunkene, von geilen und machtgeilen Männern umschwärmte Sibylle plötzlich, und auch Luisa widerfährt genau das, wovor sie sich, wie die meisten Frauen der damaligen Zeit, am meisten gefürchtet hat: Sie wird vergewaltigt – aber nicht, wie stets befürchtet, von einem Russen, sondern von ihrem Schwager Vinzent. Kurz darauf erkrankt sie schwer an Typhus und muss für längere Zeit das Bett hüten, und als sie wieder gesund ist, lebt ihre Schwester Sybille nicht mehr auf dem Gut und keiner will eine nähere Auskunft über ihren Verbleib geben. Und doch ahnt der Leser bereits das Ungeheuerliche, als Luisa bei einer benachbarten Perückenmacherin einen Schopf Haare entdeckt, von dem ihr „das Gedächtnis der Hände“ (Seite 13) sagt, dass er ihrer Schwester gehört.

Kontrastiert wird das Geschehen von kurzen Auszügen einer fiktiven Chronik des Dreißigjährigen Krieges, aufgezeichnet von einem Schreiber namens Bredelin Merxheim. Die Schauplätze der furchtbarsten Gemetzel befinden sich an dem alten „Ochsenweg“, an dem ungefähr 300 Jahre später das Gut liegt. Die Worte Bredelin Merxheims bilden gewissermaßen einen historischen Hallraum, ein Echo aus ferner Zeit, in der der Chronist und sein Freund eine Kapelle zum Andenken an die Geschändeten und Getöteten vom jenseitigen Ufer des Sees in ihr Dorf ziehen wollen. Das gelingt nicht, sie geht unter, aber: „Mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen – kann er sich denn weiter entfernen, als der Gedanke, der ihm gilt? (…) Unser Bemühen war ein reines, also vollkommenes und konnte wahrhaftiger nicht sein, und somit ist alles gelungen (...): Das Kirchlein, es steht an seinem Orte!“ (Seite 240/241) – Als Zeugnis der Vergangenheit und als Resultat geologischer Veränderungen ist es gerade diese Kapelle, die den Nationalsozialisten als Teil einer Umzäunung eines Straflagers dient und die Luisa 1945, als sie ermattet konstatiert „Ich habe alles erlebt“ (Seite 254), wieder aufbauen hilft.

Die Bildlichkeit des Buches, deren Symbolik elegant hinter einer alltäglichen Betrachtungsweise verschwindet, und die Humanität jenseits religiöser Dogmatik machen diesen Roman so reich und interessant. Christoph Schröder gibt einen wichtigen Hinweis auf den Stil des Autors, wenn er schreibt: „Ralf Rothmann ist ein Schriftsteller, den nicht die Reflexion, sondern das bloße Erzählen und die Evokation starker, aussagekräftiger Bilder antreibt.“ (Deutschlandfunk vom 20. Mai 2018) Und Maik Brüggemeyer schreibt in Rolling Stone (Ausgabe Juni 2018): „Ein Stück Geschichte, in dem sich nicht nur der Dreißigjährige Krieg spiegelt, sondern auch die Schicksale der Familien, die heute vor Kriegen fliehen und ohne Heimat sind.“

Werke

Siehe auch

Literatur

  • Franz-Josef Deiters: Staub der einen Besuch abstattet. Zur Selbsterinnerung der Schrift in Ralf Rothmanns „Milch und Kohle“. In: Limbus. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft/Australian Yearbook of German literary and cultural studies. 1, 2008, ISBN 978-3-7930-9541-5, S. 67–84.
  • Andreas Erb: Ralf Rothmann. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur. (Loseblattsammlung) Edition Text und Kritik, München. (Aktualisierungsstand 2006)
  • Christian Goldammer: Initiation in den Romanen Ralf Rothmanns. (= Epistemata. 701). Königshausen & Neumann, Würzburg 2010, ISBN 978-3-8260-4336-9.
  • Dieter Heimböckel, Melanie Kuffer: Wir hatten ja auch gute Jahre. Heimat und Identität in Ralf Rothmanns Roman „Milch und Kohle“. In: Michael Szurawitzki, Christopher Schmidt (Hrsg.): Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. Festschrift für Dagmar Neuendorff zum 60. Geburtstag. Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, S. 361–369.
  • Anja Maria Richter: Das Studium der Stille. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Spannungsfeld von Gnostizismus, Philosophie und Mystik – Heinrich Böll, Botho Strauß, Peter Handke, Ralf Rothmann. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-631-60162-4.
  • Oliver Ruf: Milieu – Schwelle – Memorie. Zur Liminalität des Ruhrgebiets in Ralf Rothmanns Gegenwartsromanen. In: Jan-Pieter Barbian, Hanneliese Palm (Hrsg.): Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literatur. Klartext Verlag, Essen 2009, S. 261–279.
  • Hubert Winkels (Hrsg.): Ralf Rothmann trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis – das Ereignis und die Folgen. Wallstein Verlag, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-956-2.
  • Henning Ziebritzki: Ohrenglück, Lichterschrift. Zu Ralf Rothmanns Erzählwerk. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 4 (2014), S. 304–313.

Weblinks

Commons: Ralf Rothmann - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 Susanne Messmer: Heruntergekommene Heilige. Ein Porträt von Ralf Rothmann. In: taz. Nr. 7120, S. 13–14 (vom 2. August 2003)
  2. freitag.de
  3. Torquato Tasso. Befreites Jerusalem. auf: gutenberg.spiegel.de
  4. (FAZ, zitiert nach buecher.de)
  5. Homepage des Suhrkamp-Verlages, abgerufen am 30. Juni 2015.
  6. Rezension von Michaela Schmitz Feuer brennt nicht, Buch der Woche im Deutschlandfunk vom 19. April 2009.
  7. hr-info Büchercheck (Memento vom 6. Februar 2013 im Webarchiv archive.is) 26. April 2012 "Shakespeares Hühner", Rezension von Sylvia Schwab
  8. Neuer Roman von Ralf Rothmann : Hitlers letzte Brigade. Rezension von Im Frühling sterben von Thomas Andre auf Spiegel Online, 18. Juni 2015.


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