Ich-Erlebnis

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Das Ich-Erlebnis, das Erleben des eigenen Ich, die unmittelbare Ich-Erfahrung, d.h. die wirkliche Selbstanschauung bzw. Selbstbesinnung, gibt uns ein Musterbeispiel dafür, wie wir überhaupt die geistige Welt erkennen können. Erkennen können wir das Ich-Erlebnis in der Ich-Vorstellung, die sich aber beträchtlich von allen anderen Vorstellungen, die wir uns bilden können, unterscheidet. Für alle anderen Erlebnisse, die von der Außenwelt kommen, auch wenn sie geistigster Natur sind, müssen wir für die Wahrnehmung ein Organ haben. Niemals stehen wir sozusagen geistig nackt den Dingen der Außenwelt, die an uns herantreten, gegenüber, sondern immer sind wir von dem abhängig, was wir geworden sind. Nur in einem einzigen Falle stehen wir unmittelbar jetzt und hier der Außenwelt gegenüber, nämlich wenn wir unsere Ich-Wahrnehmung gewinnen. Diese Ich-Wahrnehmung kann daher weder vorhergesehen noch erinnert werden, sondern muß Tag für Tag immer wieder neu gemacht werden und hat nichts mit der Befindlichkeit unseres Alltags-Ichs zu tun.

Die wirkliche Selbstanschauung ist keine Introspektion im üblichen Sinn. Letztere kann nur den ersten Einstieg zu den höheren Erkenntnisformen der Imagination, Inspiration und Intuition bilden. Ansätze dazu finden sich bereits in der Philosophie des Deutschen Idealismus, namentlich bei Fichte (→ Tathandlung) und Schelling.

„Das auf solche Art erlangte Weben in dem Seeleninhalte kann reale Selbstanschauung genannt werden. Es lernt sich dabei das menschliche Innere kennen, nicht bloß durch Reflexion auf sich selbst als den Träger der Sinneseindrücke und des gedanklichen Verarbeiters dieser Sinneseindrücke, sondern es lernt sich das Selbst kennen, wie es ist, ohne Beziehung auf einen sinnenfälligen Inhalt; es erlebt sich in sich selber als übersinnliche Realität. Es ist dieses Erleben nicht so, wie dasjenige des Ich, wenn in der gewöhnlichen Selbstbeobachtung die Aufmerksamkeit von dem Erkannten der Umwelt abgezogen und auf das erkennende Selbst reflektiert wird. In diesem Falle schrumpft gewissermaßen der Inhalt des Bewußtseins immer mehr zu dem Punkte des «Ich» zusammen. Dies ist bei der realen Selbstanschauung des Geistesforschers nicht der Fall. Bei ihr wird der Seeleninhalt im Verlaufe der Übungen immer reicher. Und er besteht in einem Leben in gesetzmäßigen Zusammenhängen, und das Selbst fühlt sich nicht wie bei den Naturgesetzen, welche aus den Erscheinungen der Umwelt abstrahiert werden, außerhalb des Gewebes von Gesetzen; sondern es empfindet sich innerhalb dieses Gewebes; es erlebt sich als Eins mit demselben.“ (Lit.:GA 35, S. 124)

„In dem Augenblick, wo wir unser Ich erleben, erleben wir wirklich etwas, was in einem unmittelbaren Verhältnis zur geistigen Welt steht. Aber es ist dieses Erleben des Ich zugleich etwas unendlich Armes. Es ist sozusagen ein einziger Punkt mitten unter den Welterscheinungen. Der einzige Punkt, den wir mit dem kleinen Wörtchen Ich aussprechen, bezeichnet zwar ein ursprünglich echtes Geistiges, aber es ist dieses Geistige sozusagen in dem Ich-Punkt zusammengeschrumpft auf einen Punkt. Was aber kann uns dennoch dieses Geistige lehren, das da auf einen Punkt zusammengeschrumpft ist? Mehr können wir durch das Erlebnis unseres eigenen Ich über die geistige Welt ja nicht wissen als das, was sozusagen in dem Ich-Punkt selbst enthalten ist, wenn wir nicht zum Deuten vorschreiten. Aber in diesem Punkt liegt doch schon sehr Wichtiges, nämlich daß uns durch ihn gesagt wird, wie wir erkennen müssen, wenn wir die geistige Welt erkennen wollen.

Was ist denn das Unterscheidende des Ich-Erlebnisses von allem andern Erleben? Daß wir im Ich-Erleben selber drinnen stehen. In allem andern Erleben stehen wir nicht selber drinnen, sondern das tritt von außen an uns heran. Es könnte vielleicht jemand sagen: Aber mein Denken, mein Wollen, mein Begehren, mein Empfinden, ist das nicht auch etwas, in dem ich selber drinnen lebe? - In bezug auf das Wollen kann sich der Mensch durch eine sehr leichte, sozusagen seelische Selbstbesinnung überzeugen, wie wenig er in diesem Wollen drinnen zu stehen braucht. Man bedenke nur einmal, daß das Wollen etwas ist, was sich so ausnimmt, als ob es uns treibt und als ob der Mensch oft gar nicht darinnen steht, sondern nur so wirkt, als wenn irgendein anderes oder irgendein Ereignis ihn stößt. Und so ist es auch mit dem Empfinden und mit dem größten Teile dessen, was im alltäglichen Leben gedacht wird. Man steht nicht darinnen. Wie wenig man zum Beispiel im gewöhnlichen Leben in seinen Gedanken darinnen steht, davon könnte man sich überzeugen, wenn man sorgfältig prüfen wollte, wie das gewöhnliche Denken abhängig ist von Erziehung und von dem, was man aufgenommen hat zu irgendeiner Zeit, was einem die Verhältnisse eben gebracht haben. Daher ist das menschliche Denken, Fühlen und Wollen als gewöhnlicher Inhalt nach Nationen und Zeiten so verschieden. Nur eines muß gleich sein. Wenn es überhaupt beim Menschen vorhanden ist, muß eines sich gleich finden bei allen Nationen, in allen Regionen und allen einzelnen Menschengemeinschaften: das ist das Erlebnis dieses einzelnen Ich- Punktes.

Nun aber fragen wir uns einmal: Wie steht es denn mit dem Erleben dieses Ich-Punktes? - So einfach liegt die Sache doch nicht. Man könnte zum Beispiel leicht glauben, daß man das Ich selbst erlebt. Das ist aber gar nicht der Fall. Das Ich selbst erlebt man eigentlich nicht. Was erlebt man? Man erlebt im Grunde genommen eine Vorstellung des Ich, eine Wahrnehmung des Ich. Würde nämlich das Ich-Erlebnis genau gefaßt werden, so wäre es eigentlich enthalten in einem nach der Unendlichkeit Ausstrahlenden, nach der Allseitigkeit Ausstrahlenden. Wenn das Ich sich nicht selbst würde gegenüberstehen können wie einem Bild im Spiegel von sich selber - wenn dieses Bild auch nur ein punktuelles Erlebnis ist -, so könnte der Mensch das Ich nicht erleben, könnte sich das Ich keine Vorstellung von sich selber machen. Und diese Vorstellung erlebt der Mensch zunächst von dem Ich. Aber diese Vorstellung genügt auch für ihn. Denn gerade diese Vorstellung unterscheidet sich von allen andern Vorstellungen, hat wirklich einen großen Unterschied von allen andern Vorstellungen, nämlich den, daß sie ihrem Original gleich sein muß, nicht anders sein kann als ihr Original. Denn das Ich hat es, wenn es sich vorstellt, nur mit sich selbst zu tun, und die Vorstellung ist nur das Zurücklaufen des Ich-Erlebens in sich selber; es ist gleichsam eine Stauung, wie wenn wir es aufhalten würden, um in sich selber zurückzukehren, und es in dieser Rückkehrung sich selber als ein Spiegelbild gegenüberträte, das gleich ist dem Original. So ist das Ich- Erlebnis.

Wir dürfen also sagen: Erkennen können wir das Ich-Erlebnis in der Ich-Vorstellung. Aber diese Ich-Vorstellung unterscheidet sich von allen andern Vorstellungen, von allen andern Erlebnissen, die wir haben können, wieder um ein Beträchtliches. Radikal unterscheidet sie sich von allen übrigen Vorstellungen. Zu allen andern Vorstellungen und allen übrigen Erlebnissen brauchen wir so etwas wie ein Organ. Bei einer äußeren Sinnesvorstellung kann es Ihnen von vornherein klar sein, daß wir ein Organ brauchen. Um die Vorstellung einer Farbe zu haben, brauchen wir ein Auge und so weiter. Das tritt klar zutage, daß wir bei einer gewöhnlichen Sinnesvorstellung ein Organ brauchen. Man könnte nun glauben, daß man kein Organ braucht zu dem, was intimer zu unserem eigenen Innern steht. Aber auch da können Sie sich auf einfache Weise davon überzeugen, daß wir Organe brauchen - und Genaueres darüber können Sie noch finden in meinen Vorträgen über Anthroposophie. Hier soll Ihnen nun die Möglichkeit geboten werden, auch noch in einer theosophischen Weise entgegenzunehmen, was dort mehr für die Allgemeinheit geltend gesagt ist.

Denken Sie, in irgendeiner Periode Ihres Lebens erfassen Sie einen Gedanken, eine Idee, einen Begriff. Sie verstehen etwas, was Ihnen als Begriff entgegentritt. Wodurch können Sie das nur verstehen? Nur durch diejenigen Begriffe, die Sie schon vorher aufgenommen haben. Das sehen Sie daraus, daß der eine Mensch einen neuen Begriff, der an ihn herantritt, in der einen Weise auffaßt, der andere in der andern Weise. Und das kommt daher, daß der eine mehr, der andere weniger in sich trägt an Summen von Begriffen, die er schon aufgenommen hat. Das alte Begriffsmaterial sitzt in uns und stellt sich dem Neuen gegenüber, wie sich das Auge dem Licht gegenüberstellt. Aus unsern eigenen alten Begriffen ist uns eine Art von Begriffsorgan gewoben, und was wir davon nicht in der jetzigen Verkörperung aus Begriffen zusammengewoben haben, das müssen wir suchen in früheren Verkörperungen. Da hat es sich zusammengewoben, und wir bringen entgegen den Begriffen, die neu an uns herantreten, ein Begriffsorgan. Für alle Erlebnisse, die von der Außenwelt kommen, auch wenn sie geistigster Natur sind, müssen wir ein Organ haben. Niemals stehen wir sozusagen geistig nackt den Dingen der Außenwelt, die an uns herantreten, gegenüber, sondern immer sind wir von dem abhängig, was wir geworden sind. Nur in einem einzigen Falle stehen wir unmittelbar der Außenwelt gegenüber, nämlich wenn wir unsere Ich-Wahrnehmung gewinnen. Diese Ich-Wahrnehmung muß daher auch - und das ist ein besonderer Beleg für das, was gesagt worden ist - immer wieder und wieder gemacht werden, muß immer neu gemacht werden. Jeden Morgen, wenn wir aufstehen, machen wir unsere Ich-Wahrnehmung im Grunde genommen neu. Das Ich ist da, ist auch da, wenn wir schlafen. Aber die Ich-Wahrnehmung muß jeden Morgen wieder neu gemacht werden, kann hier immer wieder gemacht werden. Und wenn wir in der Nacht eine Reise nach dem Mars machen würden, wo sich unsere Umgebung recht sehr anders ausnehmen würde als auf der Erde - alles würde dort anders sein: just die Ich-Wahrnehmung wäre dieselbe. Denn die läßt sich unter allen Verhältnissen in der gleichen Weise machen, weil wir kein äußeres Organ, nicht einmal ein Begriffsorgan dazu brauchen. Was uns da entgegentritt, ist eine unmittelbare Vorstellung des Ich, zwar als Vorstellung, als Wahrnehmung, aber eben in seiner wahren Gestalt. Alles andere liegt uns gleichsam so vor wie ein durch einen Spiegel und durch die Form des Spiegels bedingtes Bild. Die Ich-Wahrnehmung liegt uns vor in ihrer ganzen treuen Gestalt.“ (Lit.:GA 124, S. 37ff)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.