Atmosphäre (Ästhetik)

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Als Atmosphäre wird namentlich in der Phänomenologie und Ästhetik eine Art von objektiver Stimmung bezeichnet, die den Raum, z.B. ein Zimmer oder auch eine ganze Landschaft erfüllt und sich weniger durch die einzelnen Gegenstände und Personen selbst, sondern vor allem durch ihr Zusammenwirken zu einem fühlbaren, charakteristischen Gesamtbild erzeugt. Jede Landschaft, jede Stadt, jede Wohnung, jedes Zimmer, jede Menschenversammlung hat, objektiv betrachtet, eine charakteristische Stimmung, die dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen wird.

Wie klar und deutlich die Atmosphäre wahrgenommen wird, hängt aber zugleich auch stark von der subjektiven Empfindungsfähigkeit ab. Die subjektiven und objektiven Anteile der Stimmung voneinander zu klar zu trennen, erfordert einige Übung in seelischer Beobachtung, denn man man muss dabei ganz von der eigenen Befindlichkeit und von jeder persönlichen Sympathie und Antipathie, die sich oft sehr stark geltend machen, absehen können. Der deutsche Philosoph Gernot Böhme, der eine ausschließlich intellektualistische Interpretation der Kunst ablehnt und Ästhetik phänomenologisch als „Aisthetik“, d.h. als allgemeine Wahrnehmungslehre, versteht, schreibt dazu:

„Atmosphären haben also als gestimmte Räume etwas quasi Objektives. Ob es sehr geschickt ist, dieses Gefühle zu nennen, sei dahingestellt. Wenn man aber von quasi objektiven Gefühlen spricht, so ist deutlich, daß sie von dem unterschieden sind, was man empfindet. Die Melancholie mag atmosphärisch in der Luft liegen, aber wenn ich melancholisch bin, dann im Sinne meiner affektiven Betroffenheit durch Melancholie. Nenne ich letzteres meine Melancholie, dann ist sie eine subjektive Tatsache im Sinne von Hermann Schmitz[1], während die quasi objektive Melancholie, die atmosphärisch in der Luft liegt, etwas ist, das viele Menschen spüren können, und zwar sogar so, daß sie trotz der Subjektivität des Spürens sich über den Charakter dessen, was sie spüren, verständigen können.“

Gernot Böhme: Aisthetik, S. 49

Die Bedeutung der Atmosphäre für das Bühnenspiel

Der russisch-US-amerikanische Schauspieler, Regisseur, Autor Michail Tschechow, ein Neffe des Schriftstellers Anton Tschechow, der auf der Suche nach Inspirationsquellen auf die Anthroposophie stieß und Rudolf Steiner ertmals 1922 begegnete, hat die besondere Bedeutung der Atmosphäre für das Bühnenspiel betont.

„Ein Schauspieler, der sich das Gefühl für Atmosphäre bewahrt oder es wiedergewonnen hat, weiß wohl um das untrennbare Band, das ihn mit dem Zuschauer verknüpft, wenn beide von ein und derselben Atmosphäre ergriffen sind. Der Zuschauer fängt dabei von sich aus an, mit dem Schauspieler mitzuspielen. Er schickt ihm über die Rampe Wellen des Mitgefühls, des Vertrauens und der Liebe. Ohne eine von der Bühne ausgehende Atmosphäre könnte der Zuschauer das nicht leisten. Ohne sie käme er nicht weiter, als sein stets kalter, alles entfremdender Verstand es zuläßt, gleich wie scharfsinnig sein Urteil über Technik und Spielkunst eines Darstellers sonst sein mag. Denken Sie daran, wie oft ein Schauspieler zu allerlei «Tricks» greifen muß in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Ein Schauspiel entsteht aus der Wechselwirkung zwischen Schauspieler und Zuschauer. Wenn Regisseur, Schauspieler, Autor, Bühnenbildner - oft auch die Musiker - für den Zuschauer die Atmosphäre des Schauspiels geschaffen haben, dann kann er nicht anders als Anteil nehmen.“

Michail Tschechow: Die Kunst des Schauspielers, S. 26

Auch Tschechow betont die Objektivität der Atmosphäre:

„Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen dem individuellen Fühlen des Schauspielers auf der Bühne und der ihn umgebenden Atmosphäre. Während persönliche Gefühle subjektiv sind, ist Atmosphäre als objektive Erscheinung anzusehen. Bleiben wir bei unserem Beispiel. Beim Betreten des Schlosses brachten die Menschen nicht nur Heiterkeit als gemeinsame Atmosphäre mit, sondern auch eine ganze Reihe individueller Gefühle: Jeder kommt mit einer anderen Stimmung herein. Trotzdem merken aber alle, daß in dem Schloß eine Atmosphäre lebt, die vom individuellen Fühlen jedes einzelnen unabhängig ist. Sie war schon da, bevor er hereinkam und wird auch noch dasein, nachdem er das Schloß verlassen hat.“

Michail Tschechow: Die Kunst des Schauspielers, S. 29

Literatur

  1. Gernot Böhme: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik. Suhrkamp Verlag 2013, ISBN 978-3518126646
  2. Gernot Böhme: Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, Wilhelm Fink Verlag, München 2001, ISBN 978-3770536009
  3. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band 3, Teil 4, Bouvier Verlag, Bonn 1977
  4. Hermann Schmitz: Atmosphären, Verlag Karl Alber 2014, ISBN 978-3495486740
  5. Michail Tschechow: Werkgeheimnisse der Schaupspielkunst. Zürich und Stuttgart: Werner Classen Verlag 1979
  6. Michail Tschechow: Die Kunst des Schauspielers, Moskauer Ausgabe, Urachhaus Verlag, Stuttgart 1990
  1. »Eine Tatsache ist ein Sachverhalt, der in einem Satzausspruch angemessen beschrieben werden kann. Eine Tatsache ist subjektiv, wenn zu ihrer angemessenen Beschreibung strikt ichbezogene Ausdrücke ... erforderlich sind.« (Schmitz 1977, 372) Schmitz Standardbeispiel für letzteres ist der Satz Ich bin traurig.