Diktatur

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Die Diktatur (von lat. dictatura) ist eine Herrschaftsform, die sich durch eine einzelne regierende Person, den Diktator, oder eine regierende Gruppe von Personen (z. B. Partei, Militärjunta, Familie) mit weitreichender bis unbeschränkter politischer Macht auszeichnet.

In ihrer klassischen Bedeutung wird die Diktatur als legitimes Verfassungsinstitut zum Schutz der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung verstanden. Heute wird der Begriff verbreitet pejorativ zur Beschreibung einer Gewaltherrschaft verwendet. Er umfasst dementsprechend viele unterschiedliche Phänomene von den zeitlich befristeten Notstandsregierungen der Römischen und der Weimarer Republik über Cäsarismus und Bonapartismus sowie Karl Marx’ Idee einer Diktatur des Proletariats bis zu den Entwicklungsdiktaturen aus der Zeit der Dekolonisation sowie den „totalitärenRegimen des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Die Abgrenzung zu anderen Formen monopolisierter Herrschaft wie dem Autoritarismus|autoritären Regime und dem Einparteisystem ist schwierig und erfolgt in der politikwissenschaftlichen Literatur uneinheitlich.[1]

Klassische Bedeutung

Der Begriff der Diktatur geht zurück auf den dictator, ein Verfassungselement der römischen Republik für den Ausnahmezustand: In Notzeiten wurde ihm vom Senat auf Vorschlag der Konsuln für maximal sechs Monate die unbeschränkte Gesamtleitung des Staates übertragen. Anders als die anderen Magistrate amtierte er ohne Kollegen, gegen seine Amtshandlungen bestand kein Recht auf Provokation oder Interzession durch die Wikipedia:Volkstribun:Volkstribunen. Da dieses Amt im Mittelalter und der Frühen Neuzeit keine Entsprechung hatte, kam es im staatsrechtlichen Diskurs nicht oder nur gelegentlich vor.[2] Im Heiligen Römischen Reich wurde der Begriff seit 1663 für die amtliche Weitergabe der Anträge und Eingaben an den Reichstag verwendet. Hierfür war der „Reichsdiktator“ zuständig, ein Amt, das der Kanzleisekretär des Erzbischof von Mainz wahrnahm.[3]

Der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli (1469–1527) beschrieb in seinen Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio die Diktatur als wichtiges Mittel zur Verteidigung der Freiheit, das der Republik Vorteil, nicht Schaden gebracht habe. Lucius Cornelius Sulla und Gaius Iulius Caesar, die dies Amt ohne zeitliche Beschränkung innehatten, seien Diktatoren nur dem Namen nach, in Wahrheit aber Tyrannen gewesen. Der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529–1596) ging bei seiner Entwicklung des Begriffs der Souveränität von der antiken Diktatur aus, als deren zentrales Kennzeichen er die zeitliche Befristung annahm. Diese entfernte er und gab dafür eine religiöse Verantwortung hinzu, weshalb der Historiker Ernst Nolte formuliert, „dass für Bodin der absolute Monarch der von Gott beauftragte Diktator ist“. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) verwendete den Begriff dictator perpetuus („Diktator auf Lebenszeit“) synonym zu absoluter Monarch.[4] Dies Verständnis der Diktatur als antikes Notstandsregierung mit zeitlicher Befristung zum legitimen Zweck der Bewahrung von Freiheit und staatlicher Ordnung lässt sich in den großen Nachschlagewerken des 18. und 19. Jahrhunderts nachweisen, von Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon 1734 über die von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert herausgegebene Encyclopédie 1779 bis zu Meyers Konversations-Lexikon 1875.[5] Als politischer Begriff zur Kritik ungerechter Herrschaftsverhältnisse diente Diktatur zunächst nicht. In der Polemik der Aufklärungspublizisten gegen den Absolutismus wurden stattdessen Tyrannei und Despotie verwendet.[6]

In Italien hat sich im Begriff dittatore mindestens bis ins 19. Jahrhundert die ursprüngliche Bedeutung erhalten, nämlich ein zeitlich befristetes Amt mit unbegrenzten Vollmachten. Der Venezianer Attilo Bandiera, der 1840 den Geheimbund Esperia gegründet hatte, trug ihn 1842 dem Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini an, der aber die Vorstellung einer „revolutionären Diktatur“ zurückwies.[7] Am 11. August 1848 erhielt Daniele Manin angesichts der Belagerung Venedigs durch österreichische Truppen vom demokratisch gewählten venezianischen Stadtparlament „unbegrenzte Vollmachten“ als Diktator. Giuseppe Garibaldi ernannte sich 1860 im Namen von König Viktor Emanuel II. zum Diktator von Sizilien. Die faschistische Diktatur Italiens im 20. Jahrhundert knüpfte auch in ihren Symbolen bewusst an das antike Rom an.

Begriffsverwendung in der Gegenwart

Der Begriff Diktatur wird im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs vor allem im Zusammenhang mit dem Diktaturvergleich verwendet, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der dem NS-Regime und der DDR herausarbeitet.[8] Für die Analyse gegenwärtiger Regime spielt er kaum noch eine Rolle.[9] Bereits 1966 fragte Carl Joachim Friedrich, ob er „nicht schlechthin fragwürdig geworden“ sei, da Diktatur ja nie als Selbstbezeichnung diene, sondern immer nur zur Kennzeichnung des „schlechthin Bösen“. Die aus der Rechts- und Verfassungsordnung nicht wegzudenkenden nomothetischen Leistungen von (im schmittschen Sinne: souveränen) Diktaturen gerieten aus dem Blick.[10] 1972 kritisierte Ernst Nolte die mangelnde Trennschärfe des Begriffs, der für alles herangezogen würde, was dem Muster einer parlamentarischen Demokratie nicht entspreche:

„Das Mißliche dieser Situation liegt vor allem darin, daß dasjenige, das weltgeschichtlich weit eher die Regel als die Ausnahme ist, mit einem Terminus bezeichnet wird, der seit seinen römischen Anfängen die Bedeutung des Ausnahmezustandes […] nie völlig hat ablegen können.“[11]

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel erklärte aus ähnlichen Gründen, der Begriff der Autokratie sei zwar umfassender, aber präziser definiert als der der Diktatur und diesem daher „in einer systematischen Herrschaftstypologie vorzuziehen“.[12]

Siehe auch

Literatur

  • Manuel Becker: Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR. Bouvier, Bonn 2009, ISBN 978-3-416-03272-8.
  • Jan C. Behrends: Politische Führung in der Diktatur. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2-3/2010, S. 40–46.
  • Carl Joachim Friedrich: Diktatur. In: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie. Bd. 1. Abbildtheorie bis Diktatur des Proletariats. Herder, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1966, Sp. 1240–1259.
  • Carl Joachim Friedrich: Totalitäre Diktatur. Unter Mitarbeit von Zbigniew Brzezinski, Stuttgart 1957.
  • George W. F. Hallgarten: Dämonen oder Retter? Eine kurze Geschichte der Diktatur seit 600 v. Chr. Dtv, München 1966.
  • Juan Linz: Totalitäre und autoritäre Regime. 2. Auflage. Berliner Debatte Wissenschaftsverlag Berlin 2003.
  • Ernst Nolte: Diktatur. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972, S. 900–924.
  • Armin Pfahl-Traughber: Staatsformen im 20. Jahrhundert I: Diktatorische Systeme. In: Alexander Gallus und Eckhard Jesse (Hrsg.): Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 223–280.

Weblinks

 Wiktionary: Diktatur – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wikiquote: Diktatur – Zitate

Einzelnachweise

  1. Rainer-Olaf Schultze: Diktatur. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik, Band 7: Politische Begriffe. Directmedia, Berlin 2004, S. 127.
  2. Ernst Nolte: Diktatur. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972, S. 906.
  3. Erich Bayer (Hrsg.): Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke, 3. Auflage. Alfred Kröner, Stuttgart 1974, S. 99.
  4. Ernst Nolte: Diktatur. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972, S. 906 f.
  5. Ernst Nolte: Diktatur. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972, S. 901 f.
  6. Ernst Nolte: Diktatur. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972, S. 907 f.; Juan Linz: Totalitäre und autoritäre Regime. 2. Auflage. Berliner Debatte Wissenschaftsverlag, Berlin 2003, S. 3.
  7. Cesare Vetter: Mazzini e la dittatura risorgimentale. In: Il Risorgimento 46 (1994), S. 8 ff.
  8. Günther Heydemann und [Heinrich Oberreuter: Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003; Detlef Schmiechen-Ackermann: Diktaturenvergleich (Version 1.0), in: Docupedia-Zeitgeschichte, 9. Mai 2014 (Zugriff am 9. August 2017); zur Kritik an diesem Forschungsdesign siehe Wolfgang Wippermann: Dämonisierung durch Vergleich. DDR und Drittes Reich, Rotbuch, Berlin 2009.
  9. Jan C. Behrends: Diktatur. Moderne Gewaltherrschaft zwischen Leviathan und Behemoth (Version 2.0). In: Docupedia-Zeitgeschichte, 20. Dezember 2016 (Zugriff am 4. August 2017).
  10. Carl Joachim Friedrich: Diktatur. In: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie. Bd. 1. Abbildtheorie bis Diktatur des Proletariats. Herder, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1966, Sp. 1257 f.
  11. Ernst Nolte: Diktatur. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972, S. 924.
  12. Wolfgang Merkel: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung. 2. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, S. 40.


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