Spiel

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Freies Spiel mit Spielkarten: Ein Kartenhaus ("Das Kartenhaus" von Jean Siméon Chardin, (1699–1779))

Spiel (von althochdeutsch: spil für „Tanzbewegung“) ist eine Tätigkeitsform, Spielen eine Tätigkeit, die zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung, aber auch als Beruf ausgeführt werden kann (Theaterspiel, Sportspiel, Violinspiel). Es ist eine Beschäftigung, die oft in Gemeinschaft mit anderen vorgenommen wird. Ein Gutteil der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung von motorischen Fähigkeiten findet durch Spielen statt, beim Menschen ebenso wie bei zahlreichen Tierarten. Einem Spiel liegen oft ganz bestimmte Handlungsabläufe zugrunde, aus denen, besonders in Gemeinschaft, verbindliche Regeln hervorgehen können. Die konkreten Handlungsabläufe können sich sowohl aus der Art des Spiels selbst, den Spielregeln (Völkerball, Mensch ärgere Dich nicht) oder aber aus dem Wunsch verschiedener Individuen ergeben, gemeinschaftlich zu handeln (Bau einer Sandburg z.B.).

Definitionen und Merkmale

Eine ältere, aber inzwischen veraltete Definition des Begriffs "Spiel" stammt von dem niederländischen Kulturanthropologen Johan Huizinga. In seinem Hauptwerk Homo ludens schreibt er:

„Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“

Huizinga: 1938/1991, S. 37

Eine modernere Definition des Begriffs "Spiel", die die Widersprüche der Definition von Huizinga vermeidet, denn es gibt auch nicht-selbstzweckliche Spiele wie Lernspiele oder das Basteln von Geschenken, stammt von Joachim Stiller:

Definition: Spiel ist jede Handlung oder Tätigkeit, die die bloß existentiellen Seins- und Handlungsvollzüge in redundanter Weise transzendeirt.[1]

Die Spielwissenschaft unterscheidet heute zwischen zweckfreien und zweckgerichteten Spielen.[2] Als zweckfrei gelten etwa die Funktionsspiele, als zweckgerichtet die Lernspiele. Das zweckgerichtete Spiel gab es bereits bei den Philanthropen, etwa bei Guts Muths.[3] Das Lernspiel soll dem Zweck des Lernens dienen, aber dennoch spielerisch sein.[4] Neben dem Lernspiel hat sich seit etwa 1995 eine Spielbewegung etabliert, die als Bildungsspiel[5] bezeichnet werden kann: Playing Arts[6]

Das Sportspiel nimmt eine Sonderstellung ein: Es ist sowohl als Arbeit und Einnahmequelle (Berufsfußball) zu verstehen, als auch mit Spielfreude verbunden. Es gibt auch einen heiligen Ernst des Spieles: Das Spiel enthält dann kultische und religiöse Züge.

Für Roger Caillois werden sämtliche Spiele stets von mindestens einem der folgenden vier Prinzipien geprägt:

Diese Prinzipien können sich vielfältig mischen. Allerdings sieht Caillois eine wesentliche Trennungslinie zwischen Wettkampf und Zufall einerseits und Maske und Rausch andererseits. Hier stellte er einen Zusammenhang zwischen der Spielkultur und der allgemeinen Verfassung einer Gesellschaft her. Archaische oder sogenannte primitive Gesellschaften fänden sich eher von Maske und Rausch, sogenannte zivilisierte Gesellschaften von Wettkampf und Zufall beherrscht.[7] Das Schlagwort von der „Leistungsgesellschaft“ ist bekannt – es ist aber auch offenkundig, dass in dieser durch den Zufall der Geburt, Erbschaft, Beziehung, Chance viel gewürfelt wird.

Friedrich Georg Jünger sieht im Wettkampfgedanken keinen Entstehungsgrund von Spielen. Er führt sämtliche Spiele auf nur drei Prinzipien zurück, nämlich Geschicklichkeit, Zufall und Ahmung [sic!]. Das letzte Prinzip – das Darstellung und Beschwörung zugleich meint – deckt sich nur streckenweise mit Caillois’ Prinzip Maske und Rausch. Jünger schreibt:[8]

„Ein Geschicklichkeitsspiel stützt sich nie auf den Agon, sondern auf die Geschicklichkeit. Wettbewerb, Konkurrenz, Agon sind etwas zum Spiel Hinzukommendes. Sichtbar wird das dort, wo das gleiche Spiel bald von Spielern gespielt wird, die ihre Geschicklichkeit messen, bald von einem einzelnen Spieler, dessen Lust das Spiel selbst ist und der nicht daran denkt, in einen Wettbewerb einzutreten.“

Spielen gewinnt eine besondere Qualität, wenn kreative Aspekte überwiegen, das heißt weiterreichende Entwicklungen der teilnehmenden Persönlichkeiten und ihrer gesellschaftlichen Beziehungen ins Auge gefasst werden. Obwohl solche Spiele nach ökonomischen Kriterien keinesfalls Arbeit sind, tragen sie aus sozialwissenschaftlicher Sicht doch ganz wesentliche Arbeitsmerkmale. Es kommt auf die Rolle und Funktion des Beteiligten im Spiel oder Nicht-Spiel und auf die Sichtweise des Beobachters an.

Ludwig Wittgenstein vertrat die Auffassung, dass die Gesamtheit aller Spiele lediglich durch Familienähnlichkeit miteinander verbunden ist, dass es also keine Eigenschaft gibt, die allen Spielen gemeinsam ist.

Spielen, so Natias Neutert als ehemaliger Dozent für Polyästhetik, schärfe gegenüber der kruden Wirklichkeit den Möglichkeitssinn. In Spielen ist ein ernster Fall[9] schreibt er:

„Spielen erzeugt eine eigene Wirklichkeit: die der Möglichkeiten.“

Natias Neutert: 1971

Der geistige Hintergrund der Brett- und Kartenspiele

In seinen Vorträgen über die Tempellegende hat Rudolf Steiner auf die geistige Bedeutung der klassischen Brett- und Kartenspiele hingewiesen:

„Immer mehr ist der Menschheit verlorengegangen das Wissen, daß der Mensch sich hineinbauen soll in den großen Weltentempel. Menschen können heutzutage geboren werden und sterben, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß sich in uns Gesetze ausleben, daß alles was wir tun, von den Gesetzen der Welt beherrscht wird. Unsere ganze gegenwärtige Zeit ist eine verlorene Zeit, weil die Menschen nicht wissen, daß sie nach Gesetzen zu leben haben. Daher haben die Priesterweisen der alten Zeiten auf Mittel gesonnen, um von den großen Gesetzen der geistigen Welt etwas hinüberzuretten in die neue Kultur. Es war sozusagen ein Kniff der großen Weisen, daß sie die gesetzmäßige Ordnung in viele Zweige des Lebens hineingeheimnißt haben, ja sogar bis in das Spiel hinein, dessen sich die Menschen bedienen zu ihrer Erholung nach des Tages Last. In den Karten, in den Figuren des Schachspiels und in der Gesetzmäßigkeit, in der man spielt, finden wir einen Abklatsch, wenn auch nur einen schwachen, von dem, was ich die gesetzmäßige Ordnung genannt habe. Wenn Sie sich mit jemandem zum Kartenspiel hinsetzen wollen, so wird es nicht gehen, wenn Sie nicht die Gesetze, die Art und Weise wie man spielt, kennen. Und dieses ist wirklich ein Abklatsch großer Weltgesetze. Was man in der Kabbala die Sephirot nennt, was wir die sieben Prinzipien in ihrer verschiedenen Gestaltung nennen, das finden Sie auch in der Art und Weise, wie die Karten beim Spielen aufeinandergelegt werden müssen. Bis in die Reize des Spiels haben die Weisen die großen Gesetze hineinzulegen verstanden, damit die Menschen wenigstens spielend einen Abklatsch haben von der Weisheit. Für denjenigen, der wenigstens Karten spielen kann, gehen seine gegenwärtigen Inkarnationen nicht ganz verloren. Das sind so Geheimnisse, wie die großen Weisen in die Räder der Zeitläufe eingreifen. Sagt man den Menschen, daß sie sich nach den großen Gesetzen richten sollen, so tun sie es nicht. Wenn man aber die Gesetze in Dinge hineinlegt, wo sie es gar nicht merken, so kann man manchmal noch einen Tropfen dieser Gesinnung in sie hineingießen. Wenn Sie diese Gesinnung haben, dann bekommen Sie eine Vorstellung davon, was in der großen Allegorie vom verlorenen Tempel symbolisiert ist.“ (Lit.:GA 93, S. 136f)

Was in diesem Sinn in der Vergangenheit berechtigt war, gilt allerdings heute nicht mehr in gleichem Maß, „denn alle die Spiele, welche sich an den Verstand, an das kombinierende Denken richten, sind so, daß sie das Persönliche des Menschen, das am meisten an das Instrument des Gehirnes gebunden ist, in Angriff nehmen. Soviel Günstiges auch über das Schachspiel gesagt wird, so kann es deshalb doch nie ein Faktor der Selbsterziehung sein, weil es dabei auf das ankommt, was am meisten an das Instrument des Gehirnes gebunden ist, was Kombinationen machen muß.“ (Lit.:GA 61, S. 429f) So konnten diese Spiele früher dazu beitragen, die Entwicklung der an das physische Gehirn gebundenen und die Persönlichkeit festigenden Verstandesfähigkeit zu fördern. Heute müssen wir aber über das bloße gehirngebundene Verstandesdenken hinauskommen und zum leibfreien lebendigen Denken aufsteigen.

Das Spiel zwischen Freiheit und Determinismus

Im Hinblick auf die begriffliche Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit/Determinismus ist Spiel ein vermittelnder Begriff. Schon in einer ganz einfachen Fassung ist dies im Begriff des Spielraums bezeichnet. Im Spielraum hat die Freiheit, oder auch Willkürlichkeit, freies Spiel, in einem Rahmen. Dies sind bei kleinen, spielenden Kindern die Bretter der Sandkiste z.B. Im Kontrast zu solchem Spielraum kennt man die Spielzeit. Sie ist eine freie Zeit, die aber gleichwohl mit einem Schluß scharf begrenzt ist. Vgl. auch Moratorium. Im Vergleich kann man dem Spielraum zum Wesen des Spiels mehr Nähe zusprechen, als der Spielzeit, obwohl gerade die Terminierung auch wohl ein Licht werfen mag. Ein weiterer Aspekt ist, daß das Spiel Regeln unterliegt, Spielregeln (Dies ist auch beim Spiel von Tierkindern der Fall: Sie beißen sich z.B. gegenseitig nicht wirklich, sondern nur in Andeutung, sie zeigen ein "als ob"-Verhalten im Spiel. Ein wirkliches Zubeißen wäre eine Regelverletzung). In den Regeln ist wie mit der räumlichen oder zeitlichen Begrenzung dem Spiel entsprochen. Spiel ist insofern Freiheit in Grenzen. In den Grenzen bestimmten Raumes oder bestimmter Zeit, oder in den Grenzen von bestimmten Regeln. Der Regelbegriff ist dabei aber vom Begriff der Kausalität/Determinität zu unterscheiden. Der Spielbegriff in diesem Sinne findet auch in der Mechanik Anwendung. Wenn in einem Maschinensystem die 1zu1-Übersetzung nicht 100% funktioniert, z.B. bei einer Kupplung, spricht man von "zu viel Spiel". Ein Gelenk kann Spiel haben bis zu einer gewissen Grenze, und bis dahin kann dieses Spiel sogar funktional sein. Ein knarrendes Scharnier hat zu wenig Spiel, man gibt Öl in das Spiel, um seine Beweglichkeit zu verbessern. Diese Beweglichkeit, nicht zu verwechseln mit Bewegung, ist denn auch für den Begriff des Spiels konstitutiv. Die Differenzierung zwischen den Begriffen Spiel und Beweglichkeit expliziert den Begriff des Spiels unter diesem Gesichtspunkt näher.

Das Spiel der Tiere

Die Anwendung des Spielbegriffs auf mechanische Phänomene führte zur Verbindung des Spielbegriffs mit dem der Beweglichkeit und damit auch dem der Bewegung. Man kann zwar übertragend z.B. auch von einem Spiel der Wellen sprechen, um einen Felsen im Wasser herum, oder von dem Spiel des Mondlichtes auf der Wasseroberfläche u.ä., aber man hat erst in der Bewegung des Tieres die eigentliche Identität von Bewegung und Spiel faßbar. Es ist zwar natürlich keine völlige Identität, da sich Bewegung und Spiel in anderer Hinsicht unterscheiden. Jedoch zeigt das Verhältnis der Tiere zur Umwelt, daß sie in ihren Bewegungen frei sind, sie haben Spiel zur Umwelt, und zwar innerhalb der geschlossenen Kausalität ihres Verhaltens. Es ist dies etwas ganz Außerordentliches. Wesen mit Eigensinn verhalten sich, ohne aus der naturgesetzlichen Kausalität herauszutreten, zur Umwelt in der Weise des Spiels, mit einer jeglichen Bewegung ihres Körpers, und sind insofern frei.

Menschliches Spiel

Nach den vorgenannten Unterscheidungen ist das Spiel als etwas definiert, über das auch Tiere verfügen. Tiere sind jedoch keine freien Wesen wie der Mensch (abgesehen von der Frage, ob sog. höhere Tiere auch Freiheit kennen mögen, oder in Zukunft erfahren können). Das Spiel des Menschen ist daher vom Spiel der Tiere zu unterscheiden und darauf hin zu untersuchen, ob in dem Unterschied des Spielens (i.d.S. Menschen spielen anders als Tiere, oder das Spiel hat für Menschen einen anderen Sinn), etwas über den Begriff des Spiels auszumachen ist.

In der abstrakten Definition gibt es Spiel auch auf dem mechanischen Gebiet, aber es ist wohl kaum möglich, da von "eigenem" Spiel zu sprechen. Bei den Pflanzen kann man von Spiel genauso wenig sprechen. Sie sind jederzeit und immer in völliger Übereinstimmung mit der Umwelt. Anders bei Tieren und Menschen.

Der Begriff des menschlichen Spiels umfasst ganz allgemein alle freien menschlichen Tätigkeiten, die weder aus inneren oder äußeren Zwängen entspringen, noch auf irgend welche außerhalb dieser Tätigkeit selbst gelegenen spezifischen Ziele oder Zwecke gerichtet sind. Das freie menschliche Spiel überhöht nach und nach den bloßen Spieltrieb, über den auch die höheren Tiere verfügen, indem es unmittelbar aus der schöpferischen Tätigkeit des menschlichen Ich hervorgeht und dieses in seiner Entwicklung durch spielerische Selbsterziehung fördert.

Friedrich Schiller sagt über das Spiel:

"Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen." (Lit.: Schiller, 15. Brief)

Das Spiel des Kindes

Im Spiel kann das höhere Selbst des Kindes als Erzieher wirken

„Wenn wir also unser erweitertes Selbst kennen, durch das wir in fremde Eigenwesen eintreten, dann dürfen wir schon beim Kinde davon sprechen, daß außer demjenigen, woran wir uns als Erzieher halten können, was sich aus dem normalen Bewußtsein heraufentwickelt, etwas vorhanden ist als ein außer dem gewöhnlichen Selbst befindliches höheres Wesen, das an dem Kinde schon arbeitet. Wenn wir dies ins Auge fassen, finden wir vielleicht etwas am Kinde, wo schon eine Art Erziehung am Kinde stattfindet, während wir uns mit unserer gewöhnlichen Erziehung nur an das persönliche Selbst des Kindes wenden können. Wo finden wir das, was an dem Kinde als ein höheres Selbst, als eine höhere Wesenheit sich betätigt, die zu dem Kinde gehört, aber nicht ins Bewußtsein hereinkommt? Es mag sonderbar erscheinen, dennoch aber ist es richtig, daß dies sich im Kinde betätigt bei dem rationellen, bei dem gut geführten Spiel. Beim Spiel des Kindes können wir nur die Bedingungen der Erziehung herbeischaffen. Was aber durch das Spiel geleistet wird, das wird im Grunde genommen geleistet durch die Selbstbetätigung des Kindes, durch alles, was wir nicht in strenge Regeln bannen können. Ja, gerade darauf beruht das Wesentliche und das Erzieherische im Spiel, daß wir haltmachen mit unseren Regeln, mit unseren pädagogischen und erzieherischen Künsten, und das Kind seinen eigenen Kräften überlassen. Denn was tut das Kind dann, wenn wir es seinen eigenen Kräften überlassen? Dann probiert das Kind im Spiel an den äußeren Gegenständen, ob dieses oder jenes durch die eigene Tätigkeit wirkt. Es bringt seinen eigenen Willen zur Betätigung, in Bewegung. Und in der Art und Weise, wie sich die äußeren Dinge unter der Einwirkung des Willens verhalten, geschieht es, daß das Kind in einer ganz anderen Weise als durch Einwirkung einer Persönlichkeit oder ihres pädagogischen Prinzipes sich an dem Leben, wenn auch nur spielend, erzieht. Daher ist es von so großer Wichtigkeit, daß wir ins Spiel des Kindes so wenig wie möglich Verstandesmäßiges hineinmischen. Je mehr sich das Spiel betätigt in dem, was nicht begriffen wird, was angeschaut wird in seinem Lebendigen, desto besser ist das Spiel. Wenn wir dem Kinde daher ein Spielzeug geben, wo es durch Ziehen von Fäden oder sonstwie die Bewegung von Menschen oder Dingen vorgetäuscht erhält, sei es im Bilderbuche mit beweglichen Tieren oder Menschen, oder im sonstigen Spielzeug, so erziehen wir es durch das Spiel besser, als wenn wir ihm die schönsten Baukästen geben. Denn in diese mischt sich schon zuviel Verstandestätigkeit hinein, was einem persönlicheren Prinzip angehört als jenes Herumtappen an dem Lebendig-Beweglichen, das nicht verstandesmäßig begriffen, sondern in seiner vollen Tätigkeit angeschaut wird. Je weniger bestimmt und ausgedacht das ist, was im Spiel sich zeigt, desto besser ist es aus dem Grunde, weil ein Höheres, das nicht ins menschliche Bewußtsein hereingezwängt werden kann, dann eben hereinkommen kann, weil das Kind probierend und nicht verstandesmäßig sich zum Leben verhält. Da sehen wir, wie das Kind durch etwas, was über das Persönliche hinausgeht, schon erzogen wird.“ (Lit.:GA 61, S. 428f)

Richtige Gestaltung der Puppen

„Geben Sie dem Kinde ein Taschentuch oder einen Lappen, und knüpfen Sie diesen so, daß er oben einen Kopf hat, unten ein Paar Beine, dann haben Sie ihm einen Bajazzo oder eine Puppe gemacht. Sie können dann noch mit Tintenklecksen Augen und Nase und Mund daranmachen oder besser das Kind selber machen lassen, und Sie werden sehen: ein gesundes Kind hat mit dieser Puppe seine große Freude. Denn dann kann es das, was sonst an der Puppe dran sein soll, ergänzen durch bildhaft nachahmende Seelentätigkeit. Es ist viel besser, wenn Sie aus einem Leinwandfetzen einem Kind eine Puppe machen, als wenn Sie ihm eine schöne Puppe geben, die womöglich noch mit der unmöglichsten Farbe die Backen angestrichen hat, die schön angezogen ist, die sogar, wenn man sie niederlegt, die Augen zumachen kann und dergleichen. Was tun Sie denn, wenn Sie dem Kind eine solche Puppe geben? Sie verhindern es, seine Seelentätigkeit zu entfalten; denn es muß seine Seelentätigkeit, diese wunderbar zarte, erwachende Phantasie, überall absperren, um ganz Bestimmtes, Schön-Geformtes ins Auge zu fassen. Sie trennen das Kind ganz von dem Leben, weil Sie seine Eigentätigkeit zurückhalten. Das ist dasjenige, was insbesondere für das Kind bis zum Zahn Wechsel in Betracht kommt.“ (Lit.:GA 306, S. 78f)

„Unsere Mütter, bisweilen unsere Väter auch, finden es in einer außerordentlich starken Weise notwendig, zum Beispiel dem kleinen Mädchen eine sehr schöne Puppe zu schenken, damit das kleine Mädchen im Spielalter nun mit der schönen Puppe spielen kann. Diese «schöne Puppe» ist ja trotzdem immer scheußlich, weil sie unkünstlerisch ist; aber sie ist, wie man bisweilen meint, eine schöne Puppe, die «richtige» Haare hat, die auch richtig angemalt ist, die sogar bewegliche Augen hat - wenn man sie niederlegt, schließt sie die Augen, verdreht sie, wenn man sie aufhebt, schaut sie einen an —, bewegliche Puppen sind sogar entstanden; kurz, es sind Spielzeuge in die Spielweisen der Kinder eingezogen, die in einer merkwürdigen, unkünstlerischen, aber vermeintlich das Leben nachahmenden Weise nun an das Kind herangebracht werden sollen. Die Puppe ist bloß ein charakteristisches Beispiel; wir formen ja alle unsere Spielzeuge nach und nach aus unserer Zivilisation heraus in einer solchen Weise. Diese Spielzeuge sind die furchtbarste innere Prügelei der Kinder. Und wie sich Kinder innerhalb der Familie, der Gemeinschaft ja auch wacker artig zeigen, wenn man sie verprügelt, wie das also durch Konventionelles hervorgerufen werden kann, so drücken auch die Kinder dasjenige aus Artigkeit nicht aus, was eigentlich tief im Grunde ihrer Seele wurzelt: die Antipathie gegen diese schöne Puppe. Wir bringen mit aller Gewalt dem Kinde bei, daß ihm das sympathisch sein soll, aber die unbewußten, unterbewußten Kräfte im Kinde spielen stark, und denen ist eigentlich all das, was in dem Stil der «schönen Puppe» ist, tief unsympathisch; denn es ist, wie ich gleich zeigen werde, eine innerliche Prügelei des Kindes.

Geht man aber so vor, daß dasjenige in Betracht gezogen wird, was das Kind in seinem einfachen Denken bis zum vierten, fünften Jahre, ja noch bis zum sechsten, siebenten Jahre hin, schon innerlich erfahren hat beim Aufrichten, beim Vertikalrichten, beim Spüren des Gehens, dann bekommt man eine Puppe, die man aus einem Taschentuch formt, oben den Kopf, ein Paar Tintenkleckse für die Augen allenfalls,, und dann hat man in dieser Puppe all dasjenige, was das Kind verstehen kann, was das Kind auch lieben kann. Da sind in einer primitiven Weise die Eigenschaften der menschlichen Gestalt vorhanden, soweit sie das Kind einzig und allein in seinem Kindesalter überschauen kann.

Das Kind weiß nicht mehr vom Menschen, als daß der Mensch aufrecht ist, daß er ein Unten und ein Oben hat, daß da oben ein Kopf ist, und daß ein Paar Augen da sind; den Mund - das werden Sie bei kindlichen Zeichnungen finden -, den zeichnen sie manchmal auf die Stirne hinauf. Die Lage des Mundes ist noch nicht einmal klar. Dasjenige, was das Kind wirklich erlebt, ist aus der Puppe, die aus dem Taschentuch geformt und mit ein paar Tintenklecksen versehen ist, zu ersehen. Im Kinde arbeitet eine innerliche plastische Kraft. All dasjenige, was aus der Umgebung des Kindes an das Kind herankommt, geht über in ein inneres Bilden, auch in das Organbilden.

Wenn das Kind, sagen wir, einen Vater neben sich hat, der sich alle Augenblicke in Jähzorn äußert, wo also alle Augenblicke im unmittelbar äußerlichen Erlebnisse etwas vorkommt, was Schock bewirkt, ein Unmotiviertes ist, dann erlebt das Kind dies mit; das Kind erlebt dies so mit, daß es sich ausdrückt in seinem Atem und seiner Blutzirkulation. Indem es sich aber ausdrückt in der Atmung und Blutzirkulation, gestaltet es Lunge, gestaltet es Herz, gestaltet es das ganze Gefäßsystem; und das Kind trägt dasjenige plastisch gestaltet innerlich sein ganzes Leben hindurch mit, was es durch den Anblick der Taten eines jähzornigen Vaters in sich plastisch ausgebildet hat.

Damit will ich nur andeuten, wie das Kind eine innerlich wunderbar wirkende plastische Kraft hat, wie das Kind fortwährend innerlich als Bildhauer an sich arbeitet. Und wenn Sie dem Kinde die Puppe aus dem Taschentuch geben, dann gehen die Kräfte, die aus dem menschlichen Organismus plastisch bildend in das Gehirn heraufgehen, die namentlich aus dem rhythmischen System, aus Atmung und Blutzirkulation das Gehirn ausbilden, sanft in das Gehirn. Sie bilden das kindliche Gehirn so, wie ein Bildhauer arbeitet, der mit biegsamer, leicht beweglicher, durchgeistigter, beseelter Hand den bildhauerischen Stoff bearbeitet: da geht alles in Bildsamkeit und in organischer Entwicklung vor sich. Das Kind schaut sich dieses zur Puppe geformte Taschentuch an, und das wird im Menschen Bildekraft, richtige Bildekraft, die aus dem rhythmischen System heraus sich gestaltet in das Gehirnsystem.

Wenn Sie dem Kinde eine sogenannte schöne Puppe geben - die Puppe, die sich sogar bewegen kann, die Augen bewegen kann, die angestrichen ist, schöne Haare hat -, wenn Sie dem Kind dieses künstlerisch angeschaut, furchtbar scheußliche Gespenst übergeben, dann wirken die Kräfte aus dem rhythmischen System herauf, diese plastischen Kräfte, die vom Atmungs- und Blutsystem das Gehirnsystem gestalten, fortwährend wie Peitschenhiebe: das alles, was das Kind noch nicht verstehen kann, das peitscht herauf in das Gehirn. Das Gehirn wird gründlich durchgepeitscht, durchgeprügelt in einer furchtbaren Art. Das ist das Geheimnis der schönen Puppe. Das ist aber auch das Geheimnis des kindlichen Spiellebens in vieler Beziehung.“ (Lit.:GA 307, S. 113ff)

Spielerisches Lernen in der Schule fördert das Kind nicht

Der verbreiteten Ansicht, das Kind solle in der Schule „spielend lernen“, widerspricht Rudolf Steiner entschieden:

„Man sieht gewöhnlich dasjenige, was das Kind im Spiele vollbringt, so an, daß man dabei den Gesichtspunkt des Erwachsenen einnimmt. Ja, es ist so, man sieht das kindliche Spiel so an, daß man dabei den Gesichtspunkt des Erwachsenen einnimmt. Wenn das nicht der Fall wäre, würden wir niemals die dilettantische Redensart hören, die immer wiederholt, man solle es in der Schule dahin bringen, daß das Kind «spielend lernt». Man kann nichts Schlimmeres machen, als daß man es dahin bringt, daß das Kind spielend lernt. Wenn man es wirklich künstlich darauf anlegt, daß die Kinder spielend lernen, dann wird man nichts anderes erreichen, als daß die Kinder als erwachsene Menschen zuletzt aus dem Leben doch ein Spiel machen. Derjenige, der in so dilettantischer Weise spricht, das Lernen solle nur eine Freude sein, das Lernen solle spielend geschehen, der schaut das Spielen des Kindes vom Gesichtspunkte des Erwachsenen an. Er glaubt, das Kind spielt in derselben Seelenverfassung, wie der Erwachsene spielt. Für den Erwachsenen ist das Spiel Spaß, eine Lust, die hinzukommt zum Leben. Für das Kind ist das Spiel der ernste Inhalt des Lebens. Das Kind meint es durchaus ernst mit seinem Spiele, und das ist die Wesenheit des kindlichen Spieles, daß dieses kindliche Spiel vom Ernst getragen ist. Nur derjenige, der den Ernst des Spieles begreift, der versteht das Spiel in der richtigen Weise. Derjenige aber, der hinschaut auf das kindliche Spiel, wie sich in vollem Ernst die menschliche Natur hinausgießt in die Behandlung der äußeren Gegenstände, in die Behandlung der äußeren Welt, der ist imstande, wenn das Kind in die Schule hereinkommt, überzuführen die Kraft, die Begabung, die Fähigkeit zum Spielen, namentlich in die Fähigkeit, in jeder möglichen Weise zu künstlerischer Betätigung überzugehen, wo wir noch die Freiheit der inneren Betätigung haben, aber zu gleicher Zeit wie bei der Arbeit kämpfen müssen mit dem äußeren Stoff. Dann werden wir sehen, wie gerade in jenem Künstlerischen, das wir an das Kind heranbringen, es durchaus möglich ist, die Erziehung so zu leiten, daß der Frohsinn in der Ausbildung vom Künstlerischen mit Ernst verbunden sein kann, daß selbst dasjenige, was in der Schule dem Kinde Lust, Freude machen darf, daß das verbunden sein kann mit Charaktervollheit.“ (Lit.:GA 304a, S. 24f)

Wirkung des Spiels im späteren Leben

„Man ist durch die mannigfaltigste Betrachtungsweise dahin gebracht worden, das Menschenleben lediglich so aufzufassen, als wenn jedes folgende Zeitalter die Wirkung des vorangehenden wäre. Das ist nicht der Fall. Gibt man sich einer unbefangenen Beobachtung hin, so findet man, daß die eigentlichen Früchte derjenigen Lebensbetätigung, die im ersten Spiel auftritt, erst in den Zwanzigerjahren herauskommen. Was wir uns im Spiel von der Geburt bis zum Zahnwechsel erwerben, was da traumhaft vom Kinde dargelebt wird, das sind Kräfte der jetzt noch ungeborenen Geistigkeit des Menschen, der noch nicht in den Körper hinein absorbierten, oder resorbierten, wenn Sie besser wollen, Geistigkeit des Menschen. Das ist so: Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, wie dieselben Kräfte, die an dem Menschen bis zum Zahnwechsel hin organisch arbeiten, dann selbständig sind, wenn sie die Zähne geboren haben, als Vorstellungs-, als Denktätigkeit; da wird gewissermaßen aus dem Leiblichen etwas herausgezogen. Das, was das Kind betätigt im Spiel, was auch noch nicht zusammenhängt mit dem Leben, dem keine Nützlichkeit innewohnt, das ist dagegen etwas, was noch nicht mit dem Leib zusammengewachsen ist; so daß das Kind eine seelische Betätigung hat, die im Leibe arbeitet bis zum Zahnwechsel und dann zum Vorscheine kommt als Kraft zur Bildung von Begriffen, die dann erinnert werden können. Auf der anderen Seite hat es eine geistigseelische Betätigung, die gewissermaßen noch leicht ätherisch über das Kind hinschwebt, die sich im Spiel so betätigt, wie sich im ganzen Leben die Träume betätigen. Aber diese Tätigkeit wird beim Kinde eben nicht bloß im Traum, sie wird am Spiel, also doch an einer äußeren Realität, entwickelt. Was da an dieser äußeren Realität entwickelt wird, das tritt gewissermaßen zurück. Wie die keimbildende Kraft in der Pflanze im Blatt und im Blütenblatt zurücktritt und erst wiederum in der Frucht erscheint, so erscheint dasjenige, was da im Kinde angewendet und aufgewendet wird, erst wiederum etwa vom 21. oder 22. Jahre beim Menschen als der nun selbständig im Leben Erfahrungen sammelnde Verstand. Und da möchte ich Sie bitten: Versuchen Sie diesen Zusammenhang wirklich aufzusuchen, gehen Sie wirklich gewissenhaft Kinder durch, versuchen Sie das Individuelle ihres Spieles zu begreifen, überhaupt das Individuelle der freien spielerischen Betätigung der Kinder zu begreifen bis zum Zahnwechsel hin, und machen Sie sich Bilder von den Individualitäten der Kinder, und setzen Sie zunächst hypothetisch voraus: die individuelle Gestaltung, die im Spiel bis zum Zahnwechsel bemerkbar ist, die tritt in irgendeiner Weise im besonderen Charakter des selbständigen Urteilens des Menschen nach dem 20. Jahre wieder auf; das heißt, die Menschentypen nach dem 20. Jahre sind verschieden in bezug auf ihr selbständiges Urteilen, so wie die Kinder verschieden sind beim Spiel vor dem Zahnwechsel.

Denkt man so etwas aus der vollen Wirklichkeit heraus, dann bekommt man tatsächlich ein, ich möchte sagen, unbegrenztes Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber dem Erziehen und auch dem Unterrichten; denn man kommt dazu, sich zu sagen: Was du jetzt mit dem Kinde tust, das formt den Menschen noch über die Zwanzigerjahre hinaus. Man sieht aus dem, daß man das ganze Leben, nicht bloß das Kindesleben kennen muß, wenn man eine richtige Erziehungskunst aufbauen will.

Die weitere spielende Tätigkeit von dem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ist etwas anderes. Gewiß, die Dinge sind nicht streng voneinander geschieden, will man aber etwas Ordentliches erkennen gerade für das praktische Leben, so muß man die Dinge ordentlich scheiden. Wer beobachten kann, wird finden, daß die spielende Tätigkeit des Kindes bis zum 7. Jahre etwas von einem individuellen Charakter hat. Das Kind ist gewissermaßen als Spielender eine Art Einsiedler. Es spielt für sich. Gewiß, es will auch Hilfe haben, aber dann ist es ein furchtbarer Egoist, es will eben auch allein die Hilfe haben. Ein geselliges Leben für das Spiel tritt mit dem Zahnwechsel ein. Die Kinder wollen dann mehr untereinander spielen. Das tritt mit dem Zahnwechsel ein, wenigstens ist das der typische Fall, obwohl es gerade einzelne Ausnahmen gibt. Da hört das Kind auf, der Einsiedler im Spiel zu sein; es will mit andern Kindern seine Spiele machen und etwas im Spiel bedeuten. Dieses Im-Spiel-etwas-bedeuten-Wollen, das ist es, was insbesondere zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife auftritt. In militaristischen Ländern - ich weiß nicht, ob die Schweiz auch zu ihnen gehört, das will ich nicht entscheiden -, in militaristischen Ländern machen die Knaben insbesondere die Soldatenspiele, die ja gesellige Spiele sind, bei denen die Knaben »etwas sein« wollen. Die meisten wollen mindestens General sein bei diesen Spielen; ein geselliges Element tritt ein in die kindlichen Spiele. Dabei bleibt der Charakter des Spiels gewahrt, indem das, was da im kindlichen Spiel geübt wird, sich nicht nach dem Zweckmäßigkeitsprinzip in das soziale Leben hineinstellt. Aber das Eigentümliche ist, daß man das, was als Geselliges auftritt, im Spiel vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife eigentlich wie das vorbereitende Element für das nächste Lebensalter findet. Es ist sehr eigentümlich, wie im nächsten Lebensalter mit der Geschlechtsreife das selbständige Urteil auftritt, wo der Mensch sich der Autorität entreißt, sein eigenes Urteil bildet, als einzelner Mensch dem andern gegenübertritt. Vorbereitend tritt im kindlichen Spiel, eben nicht ins äußere soziale Leben eingegliedert, sondern eben nur in der Spieltätigkeit, dieses gleiche Element gerade in der vorhergehenden Lebensepoche auf. Das, was also in der vorhergehenden Lebensepoche auftritt im kindlichen, geselligen Spiel, ist das vorläufige Sichlosreißen von der Autorität. Wir müssen daher sagen: Das Spiel gibt dem Kinde bis zum 7. Jahre, bis zum Zahnwechsel, etwas, was verleiblicht erst im 21. oder 22. Jahre ins Menschenleben eintritt, womit erworben wird die selbständige Individualität des Verstandes- und Erfahrungsurteils und so weiter. Dasjenige aber, was vom 7. Jahre bis zur Geschlechtsreife im Spiele sich vorbereitet, das tritt früher in der Entwickelung im Lebenslaufe auf, das tritt dann von der Geschlechtsreife bis zum 21. Jahre auf. Das ist ein Übergreifen. Es ist sehr interessant, darauf aufmerksam zu werden, daß wir das, was wir für unseren Verstand, für unsere Lebenserfahrung, für unsere gesellige Zeit als Fähigkeiten haben, den ersten Kinderjahren verdanken, wenn das Spiel ordentlich geleitet wird. Das hingegen, was in unseren Lümmel- oder Flegeljahren in die Erscheinung tritt, verdanken wir der Zeit von dem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife. Da überschneiden sich also die Zusammenhänge in dem menschlichen Lebenslauf.“ (Lit.:GA 301, S. 207)

Spiel und Arbeit

„So ist Schiller verloren gegangen, so Wilhelm von Humboldt als Bildungspolitiker, so Heinrich Marianus Deinhard, ein bedeutender Pädagoge der Nach-Goethe-Zeit, der in Wien, aufbauend auf Schillers Briefen, eine Pädagogik, die sich zur Volkspädagogik erweiterte, aus dem Spiel als Kulturfähigkeit entwickelt hat. Seine Schüler, so sagte man, waren noch viele Jahre im Leben daran zu erkennen, dass sie besondere Leistungen hervorbrachten. Ihm ist die Erkenntnis zu verdanken über die Wesensverwandtschaft von Spiel und Arbeit. Spiel nennt er die freigewordene, künstlerisch gesteigerte Arbeitskraft und Arbeit das auf Produktion im Widerstand gegen Material gerichtete Spiel (als freiwillig geleistete Menschenkraft). Erst durch die einander induzierende Wirkung von Spiel und menschlicher, sinnvoller, rhythmischer und anschaulicher Arbeit ist Spiel als pädagogischer und Kulturfaktor überhaupt verständlich.“ (Lit.: Werner Kuhfuss, Früherziehung kontra Spiel, S. 25)

„Und der Unterschied zwischen dem Spiel des Kindes und der Arbeit des Lebens besteht lediglich darin, daß bei der Arbeit des Lebens zunächst das Einfügen in die äußere Zweckmäßigkeit der Welt in Betracht kommt, daß wir da hingegeben sein müssen an die äußere Zweckmäßigkeit der Welt. Und das Kind will dasjenige, was es in Betätigung umsetzt, aus seiner eigenen Natur heraus entwickeln, aus seinem Menschenleben heraus entwickeln. Das Spiel wirkt von innen nach außen; die Arbeit wirkt von außen nach innen. Darin besteht ja gerade die ungeheuer bedeutungsvolle Aufgabe der Volksschule, daß das Spiel allmählich in Arbeit übergeführt wird. Und kann man praktisch die große Frage beantworten: Wie wird das Spielen in Arbeiten umgewandelt?, dann beantwortet man eigentlich die Grundfrage der Volksschulerziehung.

Aber das Kind spielt im Nachahmen und will spielen im Nachahmen. Weil man sich nicht hineingefunden hat durch eine wirkliche, wahre Menschenerkenntnis in das kindliche Lebensalter, hat man aus den intellektualistischen Überlegungen der Erwachsenen heraus allerlei Spielartiges für die Kinder im Kindergarten ersonnen, das aber von den Erwachsenen eigentlich ausgedacht ist. Während die Kinder nachahmen wollen die Arbeit der Erwachsenen, erfindet man vielfach durch Stäbchenlegen, oder wie dergleichen Dinge heißen, besondere Dinge für die Kinder, die sie dann vollführen sollen und wodurch sie ganz abgebracht werden von demjenigen, was lebendig aus ihnen herausfließt und was die Arbeit der Erwachsenen eben nur nachahmen will. Sie werden daraus herausgeführt und werden durch allerlei mechanisch Ausgedachtes in Tätigkeitsfelder hineingebracht, die nicht für das kindliche Lebensalter sind. Besonders das 19. Jahrhundert war sehr erfindungsreich im Ausdenken von allen möglichen Kinderarbeiten für den Kindergarten, die man eigentlich nicht ausführen lassen sollte. Denn im Kindergarten kann es eigentlich nur darauf ankommen, daß das Kind sich anpaßt den paar Leuten, die den Kindergarten leiten, daß diese paar Leute naturgemäß sich benehmen und daß das Kind die Anregungen empfängt, das nachzuahmen, was diese paar Leute tun - daß man nicht extra von dem einen zum anderen Kinde geht und ihm vormacht: das oder jenes soll es tun. Denn das will es noch nicht befolgen, wovon man ihm sagt: Das sollst du tun. Es will nachahmen, was der Erwachsene tut. So ist es eben die Aufgabe für den Kindergarten, dasjenige, was die Arbeiten des Lebens sind, in solche Formen hineinzubringen, daß sie aus der Betätigung des Kindes ins Spiel fließen können. Man hat das Leben, die Arbeiten des Lebens hineinzuleiten in die Arbeiten des Kindergartens. Man hat nicht auszudenken Dinge, die eigentlich im Leben nur ausnahmsweise mal vorkommen und die eigentlich richtig nur angeeignet werden, wenn man sie dann im späteren Leben zu dem, was man in normaler Weise sich angeeignet hat, hinzulernen muß.“ (Lit.:GA 306, S. 76f)

Siehe auch

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Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Joachim Stiller: Was ist Spile? PDF
  2. Siegbert A. Warwitz, Anita Rudolf: Was Spielen bedeutet und welche Merkmale es kennzeichnen. In: Dies.: Vom Sinn des Spielens. Reflexionen und Spielideen. 3. Auflage. Baltmannsweiler 2014, S. 18–22.
  3. I.C.F. Guts Muths: Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und des Geistes. Schnepfental 1796
  4. Hans Scheuerl: Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen. 11. Auflage. Weinheim/ Basel 1990
  5. Benedikt Sturzenhecker, Christoph Riemer (Hrsg.): Playing Arts. Impulse ästhetischer Bildung. Weinheim/ München 2005.
  6. Christoph Riemer, Benedikt Sturzenhecker (Hrsg.): Playing Arts. Gelnhausen 2002
  7. Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Paris 1958, erste deutsche Ausgabe Stuttgart 1960, siehe darin v.a. Kapitel VII und VIII
  8. Friedrich Georg Jünger: Die Spiele. Frankfurt am Main 1953, S. 190. Obwohl fünf Jahre früher erschienen, wird Jüngers anregende Untersuchung von Caillois nicht erwähnt. Sie behandelt auch Sport, Dressuren, Jagd, Stierkampf, Krieg, Liebe und dergleichen.
  9. Natias Neutert: Spielen ist ein ernster Fall. In: Hamburger Morgenpost. Nr. 77, 1. April 1971, Magazin, S. 4.


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