Vipassana

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Vipassanā (Pali) bzw. Vipaśyanā (skrt.; tib. Lhagthong) ist die zentrale Form des buddhistischen Trainings von Herz wie Geist.[1] "Vipassanā" steht heute auch für die verschiedenen Praxistraditionen des frühen Buddhismus Theravāda (Südostasien, Sri Lanka), in deren Zentrum die systematische Schulung von Achtsamkeit steht. Der Begriff "Vipassanā" kommt gegenwärtig auch zunehmend im später entstandenen Mahāyāna-Buddhismus vor, zu dem etwa der Zen und der tibetische Buddhismus gehören. Aber die Ursprungstradition einer systematischen Schulung von Achtsamkeit ist der frühe Buddhismus. So hat das mahāyānische "Vipaśyanā" eine andere Bedeutung als "Vipassanā".[2]

Das Vipassanā bildet neben dem Zen und dem tibetischen Buddhismus die dritte Hauptströmung des Buddhismus im Westen. Der Begriff ist zwar in der Öffentlichkeit weniger bekannt, was mit dem zurückhaltenden Selbstverständnis der frühbuddhistischen Muttertradition zu tun hat; nach Einfluss, Verbreitung und Wachstum ist das Vipassanā[3] aber von ähnlich großer Bedeutung. Seine Ansätze gelten als eine von kulturbedingten Formen besonders freie Praxis.

Die Traditionen des Vipassanā mit ihren unterschiedlichen methodischen Ansätzen[4] dienen alle der Entwicklung einer höheren, so genannten "Trefflichen Achtsamkeit" (sammā sati), die über die bloße Konzentrationsfunktion von Aufmerksamkeit hinausgeht. Bei der Praxis dieser "Trefflichen Achtsamkeit" geht es traditioneller Ausdrucksweise nach um das zunehmende Durchdringen oder "befreiende Sehen" der über die sinnliche Erfahrung zwar immer und überall gegebenen, aber gewöhnlich durch Verblendungen bzw. "Nichtsehen" (avijjā) verborgenen "Wahrheit", "Höchsten Realität" oder "Natur der Dinge".

Im Vipassanā ist der alleinige Schlüssel zu der "Höchsten Realität" eine schlichte, jederzeit entwickelbare Achtsamkeit, und nicht Konzepte oder Studien, die hier allenfalls eine vorbereitende Funktion haben. Im Vipassanā wird – gemäß einem dem Buddha zugeschriebenen Zitat aus den alten Quellen – generell der „Direkte Weg“ (ekāyana magga) zu den befreienden Einsichten betont. Er beruht auf einer methodisch entwickelten Achtsamkeit, die weder über systematische Studien noch über die primär bloß von Ordinierten zu verwirklichenden ausgeprägten Konzentrationszustände der „Vertiefungen“ Jhānas führt.

"Vipassanā" wird gewöhnlich mit "Achtsamkeitspraxis" oder "Einsichtsmeditation" wiedergegeben. Der Entwicklungsprozess des Einsicht verläuft meist in Stufen. Deshalb gibt es in manchen einflussreichen Richtungen des Vipassanā die Lehre von den aufeinander aufbauenden Ebenen des "Einsichtswissens", den so genannten "Vipassanā-Nyānas". Der Zweck des traditionellen Vipassanā in allen Formen ist eine ungetrübte, vorbehaltlose oder durchdringende "klare Sicht", ein über diskursives Denken hinausgegangenes, unmittelbares oder gedankenfreies Erfassen der vergänglichen, ungenügenden bzw. "Selbst"-losen Natur der äußeren und inneren Erscheinungen (im Äußeren der sinnlich wahrgenommenen Phänomene und im Inneren vor allem der Körperempfindungen, Gefühlsreaktionen, Emotionen oder Gedanken). Mit diesem unmittelbaren Erfassen soll das unbewusste Ergreifen bzw. Sichidentifizieren mit den vergänglichen Phänomenen als "Ich (bin das)" oder "mein" und damit alle Ängste und Leiden schwinden.

Die Praxis des Vipassanā gilt als die älteste buddhistische Meditationsform, die auf den historischen Buddha selbst zurückgeht. In der größten modernen Tradition, dem "Körperhineinkommen" oder "Body Sweeping" nach S.N. Goenka, wird das Vipassanā kurz resümiert mit "die Dinge sehen, wie sie wirklich sind".

Die Hauptquellen aller Richtungen des Vipassanā finden sich im Pali-Kanon, der Textgrundlage des frühen Buddhismus Theravāda, welche die ältesten vollständig überlieferten Redensammlungen des historischen Buddha enthält. Jene Hauptquellen sind (im Allgemeinen) die diversen im Pali-Kanon erscheinenden Lehren zum Thema Achtsamkeit und (im Besonderen) die beiden zentralen Achtsamkeitsreden des "Erwachten" (Buddha) - nämlich die „Rede von den Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit“ oder Satipatthāna-Sutta[5] (Mittlere Sammlung, Rede 10, und, etwas länger, Längere Sammlung, Rede 22) und die „Rede von bewussten Ein- und Ausatmen“ Ānāpānasati-Sutta (Mittlere Sammlung, Rede 118). Die Technikmethoden des Vipassanā beruhen stärker auf der „Rede von den Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit“ Satipatthāna-Sutta und die Naturansätze stärker auf der „Rede von bewussten Ein- und Ausatmen“ Ānāpānasati-Sutta.[6]

Etymologie

Vipassanā ist ein Pali-Wort, das sich aus dem Sanskrit-Präfix "vi-" und der Verbalwurzel √paś für "sehen" herleitet. Es wird häufig mit "Einsicht", "Klarblick" oder "Klarsicht" übersetzt, was etwas verkürzt ist. Denn das Präfix "vi-" bedeutet in erster Linie "zwei Teile" oder eine Bewegung "weg" von etwas anderem. Entsprechende Präfixe im Deutschen sind "auseinander-" oder "ent-". Wörtlich ist mit "Vipassanā" (im Unterschied zu der in esoterischen oder synkretistischen Kreisen verbreiteten Hochbewertung von "Einheit" oder einem Denken in der Kategorie "alles ist letztlich eins") eine bestimmte Art des "Auseinander-Sehens" gemeint, das heißt ein unterscheidendes, durchschauendes bzw. von Illusionen befreiendes "Sehen" im Sinne eines unmittelbaren Erfassens.

Dies entspricht auch der anderen Bedeutung von "vi-", die auf eine "intensive" Qualität des Unterscheidens hinweist. Vipassanā meint also eine besondere Art des Tief-Blickens, die unmittelbar, ungetrübt oder wahrheitsgemäß alle inneren und äußeren Vorgänge erfasst. Mit jenen "zwei Teilen" von "vi-" ist die Illusion oder Falschheit und die Realität oder Wahrheit gemeint. Demnach ist Vi-Passanā ein höheres Sehen, das mittels der intuitiven Unterscheidung der Achtsamkeit zunehmend jede Illusion, Manipulation oder Verblendung durchschaut und damit die jeweilige Wahrheit oder Realität direkt intuitiv erfasst. Wenn diese Unterscheidung fortwährend kultiviert werde, führe sie zu vollen Befreiung, dem Ziel der Vipassanā-Praxis in allen ihren Formen.

Zwei weitere Hauptbegriffe im Zusammenhang mit Vipassanā sind "Anu-Passanā" und "pati-sam-vedī", die in den oben erwähnten grundlegenden Achtsamkeitsreden des Buddha immer wieder vorkommen. Mit Anupassanā (das Präfix anu- bedeutet "entlang, eng anliegend, unmittelbar") ist ein konzeptfreies, unmittelbares bzw. achtsames Begleiten aller körperlichen oder geistigen Prozesse gemeint. "pati-sam-vedī" bedeutet "voll-er-spürend", also wieder ein direktes Empfinden im Einklang mit den realen Prozessen, wie sie sind, nicht wie wir sie in der Vorstellung gerne hätten.

Lehre

Das Vipassanā unterteilt sich, was die Praxis angeht, in diverse klar strukturierte "Techniken/Technikmethoden" und offen gehaltene "Naturansätze".[7] Wissenschaftlich betrachtet kann keine dieser Praxisformen den Anspruch erheben, "die Methode" des Buddha zu sein. Denn die relativ deutungsoffenen Achtsamkeitslehren des Buddha laut dem Pali-Kanon lassen sich zur Begründung aller Ansätze des Vipassanā heranziehen.

In den Praxistraditionen des Vipassanā wird nicht ähnlich stark unterschieden zwischen den konzentrativen "Ruhemeditation" Samatha und der kognitivem "Einsichtsmeditation" Vipassanā, die zur inneren Befreiung des Nirvāna führt, wie dies im Mahāyāna-Buddhismus der Fall ist. Generell wird von den Lehrenden des Vipassanā die Ansicht vertreten, dass ein bestimmtes "flexibles" Maß an Konzentration, das sich mit der fortwährenden Fokussierung auf die natürlichen Körper-Geist-Prozesse ergibt - die so genannte "Augenblickliche Konzentration" -, die beste Grundlage sei, um zu den befreienden Einsichten zu kommen.

Wenn die Konzentration durch die Fokussierung auf ein naturgemäß "statisches" Konzept bzw. geistiges Konstrukt (wie Visualisierungen, innere Laute, Vorstellungen, Reflexionen) zu stark werde, behindere sie die befreienden intuitiven Einsichten. Denn diese könnten sich lediglich aus einem immer tieferen Durchdringen der natürlichen, überall gegebenen Prozesse durch sehende Achtsamkeit ergeben.

Wenn der Weg zu den befreienden Einsichten über die statischen Konzentrationszustände der Vertiefungen "Jhānas" genommen werde, was prinzipiell möglich sei, müsse man erst aus den Vertiefungen herauskommen und die mit ihnen verbundenen Faktoren oder Erscheinungen als genauso vergänglich, ungenügend bzw. Nicht-Selbst wie alle anderen Phänomene erkennen. Die zentrale, von den Vertretern dieses Vipassanā-Weges über die Vertiefungen häufig zitierte Rede ist das Anupada-Sutta der Mittleren Sammlung (Rede 111) der Reden des Buddha im Pali-Kanon.

Aber in den anfangs zitierten grundlegenden Achtsamkeitsreden des Buddha werden die Vertiefungen "Jhānas" nicht erwähnt. Hier wird bloß eine flexible Konzentration vorausgesetzt, die sich mit der Fokussierung auf die natürlichen Gegebenheiten oder Prozesse einstellt, um auf dieser Basis die befreienden Einsichten zu realisieren. Laut der Rede von den "Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit" Satipatthāna-Sutta gibt es vier Vergegenwärtigungen:

  1. Vergegenwärtigung des Körperlichen (kāyānupassanā)
  2. Vergegenwärtigung der Empfindungen (vedanānupassanā)
  3. Vergegenwärtigung des Geistes und dessen wechselnder Zustände (cittānupassanā)
  4. Vergegenwärtigung der "Natürlichen Wahrheiten" (dhammānupassanā)

"Dhamma" in "Dhammānupassanā" wird von manchen Lehrenden mit "Geistobjekte" übersetzt. Der Begriff "Dhamma" ist im Pali sehr vielschichtig und kann je nach seinem Kontext differierende Bedeutung haben. Aus der Beschreibung der vierten Vergegenwärtigung im Satipatthāna-Sutta geht klar hervor, dass es hier um weit mehr als "Geistobjekte" geht. Bloß einer der Abschnitte zur vierten Vergenwärtigung behandelt die einzelnen Objekte und Bewusstseinsarten der sechs Sinnesebenen, von denen nur eine wiederum der Geist bzw. die Geistobjekte ist. Im Theravāda wird auch nicht, wie in vielen Richtungen des Mahāyāna, davon ausgegangen, dass alles letztlich "Nur Geist" (citta-mātra) sei. So ist "Geistobjekte" irreführend.

Unter der vierten Vergenwärtigung werden explizit die grundlegenden Lehren des Buddha zur Bindung an die und zur Befreiung von der Welt genannt, die auf Basis der anderen drei Vergegenwärtigungen so tief verstanden werden können, dass sie ihr befreiendes Potenzial voll entfalten. Diese grundlegenden Lehren behandeln "Natürliche Wahrheiten", die durch das achtsame Untersuchen und Vertrautwerden mit den Körper-Geist-Prozessen (auf der Ebene der ersten drei Vergegenwärtigungen) nun in ihrer Tiefendimension "aufscheinen". Sie sind direkt in der Erfahrung verifizierbar.

Die Voraussetzung für einen erfolgreichen Fortschritt in der Vipassanā-Meditation ist immer die Entwicklung der Herzqualitäten, das heißt von Ethik. Die drei Grundbereiche des allgemeinen buddhistischen Befreiungsweges, die sich gegenseitig ergänzen, sind Ethik, Sammlung und Weisheit. Unabdingbar für Ethik ist das Einhalten der "Fünf Verhaltensrichtlinien". Sie sind:

  1. Kein Lebewesen töten
  2. Nicht stehlen
  3. Keine sexuellen Verfehlungen begehen (von allem sexuellen Verhalten abstehen, das für irgendeinen der Beteilgten Schaden oder Verletzung bedeutet, etwa Fremdgehen oder auch Vergewaltigung).
  4. Nicht lügen
  5. Keine bewusstseinstrübende Mittel nehmen (z.B. Alkohol und andere Drogen)

Siehe auch: Silas.

Technik

Als vorbereitender Einstieg in die Achtsamkeits- oder – wie sie wegen ihrer Folgen auch genannt wird – Einsichtsmeditation wird auf die konzentrative Atemmeditation zur Erlangung von geistiger Ruhe (Samatha) zurückgegriffen. Hierbei richtet man die gewöhnliche Aufmerksamkeit auf das Ein- und Ausatmen in all seinen verschiedenen erlebbaren Aspekten und versucht sie willentlich darauf ausgerichtet zu halten. Sobald man feststellt, sich in Gedanken oder Phantasien verloren zu haben oder mit seiner Aufmerksamkeit auf etwas anderes abgewichen zu sein, lenkt man deswegen so oft wie nötig den Fokus seiner Aufmerksamkeit sanft und geduldig wieder auf die Wahrnehmung des Atmens zurück und lässt ihn weiter so achtsam wie möglich darauf ruhen.

Das hat zur Folge, dass sich nach und nach auch eine "innerne Ruhe" allgemeiner Art einstellen kann und größere Klarheit in der Wahrnehmung dessen entsteht, "was geschieht, wenn nichts geschieht", also wenn man selbst nicht weiter aktiv ist. Auf diese Weise übt und "lernt" man immer entspannter und achtsamer zu werden, so dass man eine Gelassenheit entwickelt, in der es zunehmend leichter wird, sich deutlich und detailliert all seiner Vorgänge im Geist gewahr zu bleiben: seiner Wahrnehmungen bei Erlebnissen, seiner emotionalen Reaktionen dabei sowie seiner spontan auftretenden Erinnerungen und sonstigen Gedanken - oder wie oft dazu gesagt wird: ganz entspannt im Hier und Jetzt zu verweilen.

Mit kontinuierlicher Übung wird man dann fähig, den Fokus der Aufmerksamkeit allmählich größer und immer weiter werden zu lassen, um schließlich jene offene und weite Wahrnehmungsfähigkeit zu entwickeln, die in der buddhistischen Tradition mit Achtsamkeit gemeint ist und offenbar allein hier auch gezielt angestrebt wird. Das Ziel ist dabei, eine breite, anteilnehmende und ausgewogene, unablässige Aufmerksamkeit, oder eben Achtsamkeit, auch im täglichen Leben immer öfters und schließlich sein ganzes Wachleben über kontinuierlich aufrecht erhalten zu können.

Herkunft

Die zugrundeliegenden Meditationsformen oder geistigen Übungen entstammen hinduistischen und buddhistischen Traditionen. Im Theravada-Buddhismus werden die Meditationsübungen der Achtsamkeitsmeditation in der Satipatthana-Sutta des Pali-Kanons erläutert. Dort werden sie in die vier Gruppen Körper-Betrachtung, Gefühls-Betrachtung, Geist-Betrachtung und Geistobjekt-Betrachtung unterteilt. Die Atemmeditation gehört hier zur Gruppe der Körper-Betrachtungen.

Für den Effekt der Achtsamkeitsmeditation ist es allerdings nicht nötig, sich mit den Lehrtexten zu beschäftigten, zumal ihr Sinngehalt für Nichtgelehrte erst in moderne Sprache übersetzt und zu den Vorstellungen in Beziehung gesetzt werden müssen, die bei uns entwickelt worden und daher üblich sind.

Stufen

Als Ergebnis der kontinuierlichen neutralen Beobachtung aller geistigen und körperlichen "Erscheinungen" durchläuft der Meditierende je nach Ausdauer und Fortschritt verschiedene "Stadien".

Ziel

Das Ziel der Vipassana-Meditation ist es, sich von allen Anhaftungen, an sowohl körperlichen, wie auch geistigen Empfindungen/Emotionen, zu befreien. Nach der Philosophie des Vipassanas ist sowohl das Anhaften an Positivem wie an Negativem leidbringend. Wenn man am Positivem anhaftet, so entsteht Sehnen nach diesem Zustand und Angst vor dem Nicht-Vorhandensein. Bei negativen Empfindungen entsteht ein "Vermeiden-Wollen". Beide diese Zustände, da sie eine Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigem Sein darstellen, bringen den Menschen aus dem unvermitteltem Erleben des Hier und Jetztes heraus und erzeugen so Leid. Das Ziel des Buddhismus ist es, sich aus dem Samsara und somit aus dem Leiden zu befreien und Mitgefühl und Liebe für die Welt zu entwickeln. Durch die intensive Betrachtung aller geistigen und körperlichen Vorgänge erlebt der Meditierende eine allmähliche Loslösung ("De-Identifikation") mit allen zuvor als "Ich" und "Mein" betrachteten Vorgängen. Gipfelpunkt dieser Erfahrung ist das im Regelfall nur Momente dauernde "Wegspringen", "Verlöschen", das gemäß buddhistischer Lehre zu einer völligen Befreiung vom Kreislauf der Geburten führt und als "Nibbana" (Nirvana) bezeichnet wird.

Tradition

Eine breit angelegte, sich an Laien wie Ordinierte richtende Achtsamkeits- bzw. Einsichtspraxis spielt im Buddhismus seit dem historischen Buddha eine zentrale Rolle. Sie gilt als der "Direkte Weg" zur Befreiung (ein Zitat aus den ältesten Quellen zum Thema Achtsamkeit). Sie ist aber durch bestimmte spätere buddhistische Entwicklungen – Ausprägung von Scholastik, Philosophie und Institutionalisierung, in deren Rahmen Klöster entstanden sind, die einen Monopolanspruch auf den höchsten Befreiungsweg erhoben haben – allmählich in den Hintergrund getreten.

Das Vipassanā ist eine Praxistradition mit dem Zweck, eine sehende, befreiende Achtsamkeit systematisch und mit Hilfe von verschiedenen, individuell angepassten Methoden zu entwickeln. Ab Ende des 19.Jahrhunderts ist diese Tradition im Zuge einer großen Reformbewegung, die vor allem von Ledi Sayadaw in Burma in Gang gesetzt worden ist, wieder breit an die Bevölkerung vermittelt worden. Denn laut den Reden des Buddha im Pali-Kanon ist der höchste Befreiungsweg gleichermaßen von Ordinierten wie Laien verwirklicht worden.

Die Reform hat an diese Situation der Urgemeinde direkt angeknüpft. In diesem Zuge wandte sich also gegen 1) die kulturellen und scholastischen Überformungen der Muttertradition Theravāda, 2) den Monopolanspruch der Klöster auf den höchsten Befreiungsweg sowie 3) die christliche Missionierung im Rahmen der britischen Kolonialherrschaft in Burma. Die befreiungspragmatische, eine höchste Befreiung im Leben bezweckende Praxislehre des Vipassanā war sozusagen die buddhistische Antwort auf die Glaubensreligion der Kolonialmacht und das beste Mittel, die burmesische Bevölkerung gegenüber den christlichen Missionierungsversuchen unempfänglich zu machen.

Diese Ausrichtung des Vipassanā brachte es mit sich, dass in ihm ebenfalls die Glaubenselemente der Theravāda stark in den Hintergrund getreten sind (etwa die Wiedergeburtslehre in einem wörtlichen Sinne). Die Skepsis gegenüber Glaubensreligion bedeutet eine weitere Anknüpfung an die Praxislehre des historischen Buddha, die sich gegen die spekulative Religion der Brahmanen und die Theorien der Waldeinsiedler gewandt hat. Aufgrund dieser Struktur der alten Praxislehre – keine Glaubensreligion, Spekulation, Metaphysik oder Philosophie und keine (als ein Extrem empfundene) Selbstkasteiung oder Askese – gilt sie in der Buddhismuskunde als „Erlösungspragmatismus“ (laut dem Indologie-Pionier Erich Frauwallner). Der Buddha hat gelehrt: „Nur eines lehre ich, jetzt wie früher: Das Leiden und das Ende des Leidens.“ Dieser Erlösungspragmatismus bedeutet auch der Dharma (wörtlich „das, was trägt“), wie der Erwachte den kulturübergreifenden, zeitlosen Befreiungsweg genannt hat.

Es gibt heute vier Hauptansätze der Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis Vipassanā, die in weltweiter Hinsicht den größten Einfluss haben. Es handelt sich um zwei „technische“ Methoden aus Burma und zwei „natürliche“ Ansätze aus Thailand.[8]

Die beiden Technikmethoden sind:

  1. Das direkte Verstehen der Vergänglichkeit (Anicca) durch die Betrachtung aller feinen oder groben Empfindungen "Vedanā" im oder am Körper (in der Tradition ihres Hauptvertreters U Ba Khin mit dessen prägendsten Schülern Satya Narayan Goenka und Mother Sayama).[9] Laut der internen Statistik der von S. N. Goenka geführten, sehr erfolgreichen Organisation (in ihr wird Body Sweeping etwa mit „systematische Empfindungsbeobachtung“ wiedergegeben, nicht mit der eigenen Übersetzung „Körperhineinkommen“) fanden weltweit 2003 über 1.400 ihrer längeren Kurse statt (primär handelt es sich um die einführenden Zehntageskurse). Daran haben rund 82.000 Menschen teilgenommen (11% mehr als 2001). Dieser Ansatz wird in rund 80 Ländern gelehrt, im deutschsprachigen Raum an drei Zentren mit fast durchgehenden Zehntageskursen.
  2. Das Benennen oder Etikettieren „Labelling“ (in der Tradition ihres Hauptvertreters Mahasi Sayadaw mit dessen Schülern). Für die Technikmethoden spielt der dritte Korb des Pali-Kanons die Hauptrolle – die Psychologie und Erkenntnistheorie, „Abhidhamma“.

Die beiden Naturansätze sind:

  1. „Der Weg der Ordensgemeinschaft“ (in der Tradition ihres Hauptvertreters Ajahn Chah), mit rund 500 Klöstern in Thailand sowie einem größeren Zweig im Westen, in dem alleine abendländische Männer und Frauen ordiniert sind. Hier spielt der erste Korb des Pali-Kanons die Hauptrolle – die Ordensdisziplin, "Vinaya".
  2. „Die Natur-Methode oder die Leerheit aller Dinge“ (in der Tradition ihres Hauptvertreters Ajahn Buddhadasa mit dessen Schülern, etwa Christopher Titmuss). Hier spielt der zweite Korb des Pali-Kanons die Hauptrolle – die Reden des Buddha, "Suttas".

Alle früheren und jetzigen Vipassanā-Meister, ob Ordinierte oder Laien, sind in den buddhistischen Völkern Asiens besonders populär. Ihre unterschiedlichen Praxisansätze werden den unterschiedlichen Persönlichkeitstypen gerecht. So richtet sich zum Beispiel 1) der Ansatz des Körperhineinkommens des höchst pragmatischen U Ba Khin, welcher der Leiter der Verwaltung Burmas nach der Kolonialzeit war, oder heute von S. N. Goenka und Mother Sayama mit ihren zahlreichen Zentren, an Menschen mit einer starken Körper- bzw. Empfindungs-Anlage; 2) das „Benennen“ des besonders gelehrten Mahasi Sayadaw an Persönlichkeiten mit einer starken Anlage zum Denken; 3) der „Weg der Klostergemeinschaft“ Ajahn Chahs an gemeinschaftsorientierte Menschen mit einer ausgeprägten Gefühls- bzw. Herz-Anlage sowie 4) die „Natur-Methode oder Leerheit aller Dinge“ Ajahn Buddhadasas an Persönlichkeiten mit einer starken Anlage zur Intuition oder Inspiration.

Neben diesen vier besonders prägenden Vipassanā-Ansätzen gibt es noch eine Reihe von weiteren Methoden, die zwar in weltweiter Hinsicht nicht ähnlich einflussreich wie die eben genannten vier sind, aber in ihren Entstehungsländern zum Teil sogar eine größere Bedeutung haben.[10]

Weitere wichtige Naturansätze des Vipassana sind zum Beispiel:

  1. „Berührung und Bewusstheit“ des burmesischen Meisters Sunlun Sayadaw (ursprünglich ein einfacher Bauer, der durch seine Einsicht berühmt geworden ist). Er nennt als Schlüsselbegriff einer wahrhaft befreienden Praxis: „Mache Dir jede Körperempfindung so bewusst, wie sie ist, ohne Namen; bis bloß noch das reine Wissen im Empfinden selbst zurückbleibt“, das heißt ein Wissen ohne Konzepte von sich und anderen, wie „mein“ oder „Dein Körper“, „Ich“ oder „ein Selbst“.
  2. „Der Weg der Atemempfindungen im ganzen Körper“ des thailändischen Waldmeisters Ajahn Lee. Er sieht als das Geheimnis der Befreiung: „Das Atmen im Gespür halten“.
  3. „Empfindungen an der Herz-Basis“ von Ajahn Dhammadaro aus Thailand. Er lehrt als den Praxisweg zur inneren Befreiung, alle Sinneserfahrungen allmählich als „Klare Empfindungen“ zu durchschauen, die „an der Herzbasis entstehen und vergehen“.

Eine weitere wichtige, primär am Abhidhamma orientierte Technikmethode stammt von Pa Auk Sayadaw aus Burma. Er lehrt die klassischen Konzentrationsmethoden, um über diesen ebenfalls möglichen Weg die befreienden Einsichten hervortreten zu lassen.

Im Westen gibt es seit den Sechzigern eine wachsende Zahl von männlichen wie weiblichen Vipassanā-Lehrenden. Beide Geschlechter sind unter den Lehrenden dieser Tradition ähnlich stark vertreten. Diese Lehrenden führen entweder die traditionellen Methoden als Vertreter einer bestimmten Richtung fort, oder sie verknüpfen die Ansätze miteinander (manchmal auch mit anderen buddhistischen Praktiken, wie Joseph Goldstein mit dem Dzogchen des tibetischen Buddhismus). Es gibt auch viele Verbindungen des Vipassanā mit der Psychologie und Gebieten helfenden Engagements, zum Beispiel dem Einsatz in Gefängnissen, der Drogenrehabilitation oder der Komplementärmedizin (vgl. dazu auch den nächsten Absatz).

Zusammenfassung

Vipassanā ist der Überbegriff für die moderne Tradition und die befreiende Praxis einer sehenden Achtsamkeit, die vom historischen Buddha laut den Reden des Pali-Kanons besonders betont worden ist. Es gibt unterschiedliche moderne Vipassanā-Ansätze. [11] Manchmal wird die eigene Methode als die wahre Überlieferung betrachtet. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den deutungsoffenen methodischen Beschreibungen, wie sie in den grundlegenden Achtsamkeitsreden des Erwachten erscheinen, welche die Hauptquellen der modernen Vipassanā-Bewegung sind - besonders in der „Rede von den Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit“ (Satipatthāna-Sutta, siehe: Achtsamkeit) und der „Rede vom Bewussten Ein- und Ausatmen“ (Ānāpānasati-Sutta).

Aufgrund des deutungsoffenen Charakters der primären Achtsamkeitslehren des historischen Buddha hat sich die große Zahl der modernen Vipassanā-Ansätze überhaupt erst entwickeln können. Schon alleine diese Tatsache lässt jeden Anspruch auf eine überlegene Vipassanā-Methode unbegründet erscheinen. Außerdem gibt es eine Vielzahl von alten wie modernen Kommentaren und Praxismanuals im Theravāda, die jene beiden Hauptreden für eine befreiende Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis ganz unterschiedlich interpretieren.

Was aber alle Ansätze gemeinsam haben, ist die methodische Entwicklung einer schlichten, nichtbegrifflichen bzw. intuitiven Achtsamkeit für die vergänglichen Prozesse von Körper und Geist, um aufzuhören, die Dinge unbewusst zu „ergreifen“ (das heißt sich mit ihnen in dem Glauben zu identifizieren, dass sie wahrhaft „Ich“, „mein“ oder „mein Selbst“ seien).

Das Vipassanā unterscheidet sich von einer Glaubensreligion, weil es eine besonders ausgeprägte Praxistradition darstellt, die von kulturbedingten Formen weitgehend frei ist. Diese Struktur unterscheidet das Vipassana von vorbuddhistischen und manchen buddhistischen Glaubensvorstellungen, die in den Ursprungsländern vorhanden sind. Die grundsätzliche Vipassanā-Methodik der systematischen Bewusstwerdung der natürlichen Gegebenheiten, das heißt der fortwährend entstehenden und vergehenden Phänomene (im Unterschied zu den vom Geiste gemachten, konzeptuellen, lediglich vor-gestellten und damit relativ „statischen“ Gegebenheiten), findet in unterschiedliche moderne Zusammenhänge Eingang - etwa in Achtsamkeitstherapien, neue psychologische Theorien, esoterische Strömungen oder ein an innerer Praxis orientiertes, reformiertes modernes Christentum.

Die Wirkungen des Vipassanā sind in vielen standardisierten Untersuchungen bewiesen worden. Der amerikanische Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn hat die größten Vipassanā-Ansätze in Form eines sehr erfolgreichen komplementärmedizinischen Anti-Stressprogramms (MBSR) umgesetzt, das in den USA an Hunderten von Kliniken und Gesundheitszentren und auch zunehmend in Deutschland eingesetzt wird.

Für die Vipassanā-Retreats gelten im Allgemeinen Verhaltensregeln, die optimale Bedingungen für eine konzentrierte Meditationspraxis schaffen. Diese Regeln orientieren sich an den Verhältnissen in den buddhistischen Klöstern und bezwecken, deren günstige Praxisbedingungen auf die zeitlich begrenzten Retreats für Laien zu übertragen. So werden auch den Laienpraktizierenden möglichst weitgehende Resultate ermöglicht.

Die buddhistische Tradition der Achtsamkeits- bzw. Einsichtspraxis Vipassanā ist - entsprechend dem frühbuddhistischen Selbstverständnis und der Lehre des historischen Buddha - relativ zurückhaltend. Sie tritt zum Beispiel kaum aktiv werbend in die Öffentlichkeit. Trotzdem wächst sie stark, einfach weil sich ihre Wirkungen herumsprechen. Das Vipassanā ist heute neben dem Zen und dem tibetischen Buddhismus die dritte Haupttradition des Buddhismus im Westen. „Komm und sieh für Dich selbst“, hat der Buddha laut den ältesten Quellen (des Pali-Kanons) betont.

In der Vipassanā-Tradition wird das traditionelle Spendenprinzip „Dāna“ vergleichsweise streng beachtet. Für westlich orientierte Kurse werden zwar Kursgebühren verlangt, die aber meist lediglich der Deckung der Unkosten dienen. Deshalb sind die Preise für Vipassanā-Kurse im innerbuddhistischen Vergleich relativ niedrig. In stark traditionellen Richtungen wird ausschließlich „Dāna“ gezahlt – man gibt, was man kann oder will. Dieses Prinzip wird damit begründet, dass möglichst vielen, also unabhängig von deren finanzieller Lage, die befreiende Praxis zugänglich sein soll. Dies sei im Sinne der Vorgaben des historischen Buddha und wende sich bewusst gegen moderne Marktprinzipien bzw. Gewinninteressen, die angesichts der „preislosen“, selbstlosen Lehren des erwachten Weltlehrers nicht angebracht seien.

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Der Palibegriff "cittam" bedeutet genauso Herz wie Geist, also eigentlich "Herzgeist", wird aber im Westen meist bloß mit "Geist" wiedergegeben. Dies ist irreführend, weil es nicht nur um ein Training der kognitiven Fähigkeiten, sondern genauso um ein Training der Herzqualitäten geht. Und letztere gelten in allen Richtungen des Buddhismus als die Voraussetzung für die tieferen, befreienden Einsichten.
  2. Dies ist ein großes Thema; vgl. Näheres dazu unter dem "Literatur"-Link zum Beitrag "Der Weg der sehenden Achtsamkeit" (erschienen in Buddhismus Aktuell 2/08).
  3. Der Begriff wird im fortlaufenden deutschen Text als Neutrum behandelt, also "das Vipassanā", trotz seines femininen Geschlechts. Dies dient der Unterscheidung zwischen der modernen Verwendung als Überbegriff (Neutrum) über die verschiedenen meditativen Ansätze und die entsprechenden Praxistraditionen und dem Sinn des Originalbegriffs (Femininum) im Pali-Kanon (vgl. zu diesem letzteren Sinn den Punkt "Etymologie").
  4. Alleine in Burma gibt es mindestens 24 unterschiedliche methodische Ansätze des Vipassanā; laut Houtman, G.: The Tradition of Practice among Burmese Buddhists. Dissertation, School of Oriental and African Studies, University of London, 1990.
  5. s. Die grundlegenden Meditationslehren des Buddhismus von Hans Gruber sowie Analayo: Mindfulness in the Pali Nikayas In: K. Nauriyal (Ed.: Buddhist Thought and Applied Psychological Research. Routledge Curzon, London, pp. 229-249; dt. Sati in den Pali Lehrreden ()
  6. Vgl. zu dieser Unterteilung des Vipassanā Näheres im Abschnitt "Tradition".
  7. Vgl. Näheres dazu unter "Tradition".
  8. Vgl. Gruber, Hans: Kursbuch Vipassana: Wege und Lehrer der Einsichtsmeditation, Fischer Verlag, 2. Aufl. 2001.
  9. Laut S. N. Goenka ist jede Körperempfindung "eine Manifestation der Vergänglichkeit" und damit das Erfassen der Körperempfindungen der beste Weg zum befreienden Verstehen der "Drei Universellen Merkmale" der Vergänglichkeit, ungenügenden Natur und des Nicht-Selbst.
  10. Laut der Dissertation von G. Houtman – "The Tradition of Practice among Burmese Buddhists", University of London, 1990 – gibt es alleine in Burma mindestens 24 Vipassana-Ansätze.
  11. Vgl. den frei herunterladbaren Überblick über das Vipassanā von Hans Gruber unter "Literatur".
  12. PDF-Download: Buddhadasa Bhikkhu „Anapanasati“

Weblinks


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