Evolutionäre Entwicklungsbiologie und Bipolare Störung: Unterschied zwischen den Seiten

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Die '''evolutionäre Entwicklungsbiologie''' oder kurz '''Evo-Devo''' (abgeleitet vom englischen Begriff ''evolutionary developmental biology'') ist eine Forschungsrichtung der [[Biologie]], die untersucht, wie sich die Steuerung der Individualentwicklung der Lebewesen ([[Ontogenese]]) in der [[Evolutionsgeschichte]] entwickelt hat.
{{Infobox ICD
| 01-CODE = F31
| 01-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Störung
| 02-CODE = F31.0
| 02-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Störung, gegenwärtig hypomanische Episode
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| 03-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische Episode ohne psychotische Symptome
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| 04-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische Episode mit psychotischen Symptomen
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| 05-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradige depressive Episode
| 06-CODE = F31.4
| 06-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome
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| 07-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
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| 08-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig gemischte Episode
| 09-CODE = F31.7
| 09-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig remittiert
| 10-CODE = F31.8
| 10-BEZEICHNUNG = Sonstige bipolare affektive Störungen
| 11-CODE = F31.9
| 11-BEZEICHNUNG = Bipolare affektive Störung, nicht näher bezeichnet
}}


Eine Gruppe von Philosophen und theoretischen Biologen (mit der Programmatik einer [[Erweiterte Synthese (Evolutionstheorie)|Erweiterten Synthese der Evolutionstheorie]]) benutzt den Begriff ''Evo-Devo'' auch als Bezeichnung für die Forschung zu der Frage, ob und wie die Prozesse der Embryonalentwicklung möglicherweise die [[Evolution]] der Organismen ([[Phylogenese]]) beeinflussen.
'''Bipolare Störung''' ist die etablierte Kurzbezeichnung für die ''bipolare affektive Störung (BAS)''. Früher wurde sie auch als ''manische Depression'' oder ''manisch-depressive Erkrankung'' bezeichnet. Bei der BAS handelt es sich um eine [[psychische Störung|psychische Erkrankung]], die zu den Stimmungsstörungen ([[Affektive Störung|Affektstörungen]]) gehört.  


Obwohl die evolutionäre Entwicklungsbiologie bereits in der Theoriebildung des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielte, entstand eine nennenswerte experimentelle Basis für eine begründete Weiterentwicklung der Theorie erst ab den 1980er Jahren mit der zunehmenden Aufklärung der Embryonalentwicklung durch die Entdeckung von Steuer-Genen und den Wirkmechanismen ihrer Produkte.
Die Krankheit zeigt sich durch phasenhafte, zweipolig entgegengesetzte (= ''bipolare'') Extremschwankungen der [[Stimmung (Psychologie)|Stimmung]], des [[Triebtheorie|Antriebs]] und der Aktivität. Die Auslenkungen reichen weit über das Normalniveau hinaus und die Betroffenen pendeln dabei zwischen [[Depression]] und [[Manie]] hin und her, ohne diese Wechsel willentlich noch kontrollieren zu können.


Seither wird mit [[Entwicklungsbiologie|entwicklungsbiologischen]] und [[Molekularbiologie|molekularbiologischen]] Labor-Methoden versucht zu ermitteln, welche Faktoren und Steuerungsmechanismen für die Ausbildung von Geweben und Organen verantwortlich sind. Sachlich damit verknüpft ist die Frage, wie diese Steuerung als Ergebnis des Verlaufs der Stammesgeschichte der Organismen rekonstruiert werden kann. Auf der theoretischen, wie auch der experimentellen Ebene findet daher zwangsläufig eine Integration von Entwicklungsbiologie und Evolutionsbiologie statt.
Zwischen diesen Episoden kehren Menschen mit bipolarer Störung in der Regel in einen unauffälligen Normalzustand zurück. Antrieb und Gemüt unterliegen dann wieder den normalen Schwankungen. Die BAS tritt in unterschiedlichsten Schweregraden auf. Personen mit bipolarer Störung erscheinen in der manischen Episode leicht als charismatische Persönlichkeit. Die Störung sollte jedoch sehr ernst genommen werden, insbesondere wegen möglicher negativer sozialer Folgen für den Patienten.


Eine wesentliche Erkenntnisquelle ist dabei die Entschlüsselung der genetischen Basis für zahlreiche bis in die 1980er Jahre vollkommen rätselhafte Entwicklungsvorgänge, welche mit der Entdeckung der sog. [[Hox-Gen]]e begonnen hatte.
Die sozioökonomischen Auswirkungen dieser Erkrankung auf die Volkswirtschaft beliefen sich 1991 allein in den USA auf 45 Milliarden Dollar. Bipolare Störungen gehören laut der [[Weltgesundheitsorganisation]] zu den zehn Krankheiten, die weltweit am meisten zu dauernder Behinderung führen. Nicht zu unterschätzen ist auch das erhöhte [[Suizid]]risiko: Ungefähr 25 % bis 50 % aller Menschen mit bipolarer Störung unternehmen mindestens einen Suizidversuch. Etwa 15 % bis 30 % der Patienten töten sich.<ref>{{Literatur |Autor=Robert M. A. Hirschfeld, Lana A. Vornik |Titel=Bipolar disorder--costs and comorbidity |Hrsg= |Sammelwerk=The American Journal of Managed Care |Band=11 |Nummer=3 Suppl |Auflage= |Verlag= |Ort= |Datum=June 2005 |Seiten=S85–90 |ISBN= |PMID=16097719 |Online=http://www.ajmc.com/journals/supplement/2005/2005-06-vol11-n3suppl/jun05-2074ps85-s90?p=2}}</ref>


Als Gesamtaussage und Erweiterung der darwinistischen und synthetischen Evolutionstheorie kann EvoDevo einbringen, dass im Mechanismus des Wechselspiels aus zufälliger Variation und natürlicher Selektion viel mehr System (Entwicklung) und weniger Zufälligkeit bei der Entstehung phänotypischer Variation vorhanden ist.<ref>Ingo Brigandt: Jenseits des Neodarwinismus? Neue Entwicklungen in der Evolutionsbiologie, Kap. Evolutionäre Entwicklungsbiologie in: Philip Sarasin und Marianne Sommer (Hg.). Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. J.B. Metzler 2010</ref>
== Bezeichnungen ==
Bis vor einigen Jahren wurde die bipolare Störung meist ''manisch-depressive Erkrankung'', ''manisch-depressive Psychose'' oder ''manisch-depressives Irresein'' (von dem Psychiater [[Emil Kraepelin]] Ende des 19. Jahrhunderts geprägt) genannt. Umgangssprachlich wird sie mitunter als ''manische Depression'' bezeichnet, was missverständlich ist.  


== Geschichte der Erforschung evolutionärer Veränderungen in der Ontogenese ==
Auch die Bezeichnungen ''manisch-depressive Erkrankungen'' oder ''manisch-depressive Krankheit'' sind als Synonyme gebräuchlich und werden in der Öffentlichkeit in der Regel besser verstanden. Sie legen allerdings nahe, es handle sich um eine vorübergehende und heilbare Veränderung, was wiederum missverständlich ist. Ein unter Ärzten und Behörden oft verbreiteter Ausdruck für die bipolare Störung ist ''bipolare Psychose'' oder ''[[affektive Psychose]]''.


=== Darwin und das 19. Jahrhundert ===
Das Wort ''[[Psychose]]'' wird in der Fachwelt unterschiedlich verwendet: Einige subsumieren nur ''[[Wahn]]'' darunter, andere verwenden den Begriff für alle gravierenden psychischen Störungen (zu denen bipolare Störungen sicher gehören).


Dass die Embryonalentwicklung Relevanz für die Evolution hat, war bereits [[Charles Darwin]] bewusst.<ref name="AMU 2005">Einen umfassenden Überblick über die Rolle des Embryos in der Geschichte der Evolutionstheorie gibt das Buch Ronald Amundson: ''The Changing Role of the Embryo in Evolutionary Thought. Roots of Evo-Devo.'' Cambridge University Press, 2005.</ref> Zu seiner Zeit war es aber weder möglich, die Entwicklungsprozesse genauer zu untersuchen, noch waren der genaue Mechanismus der [[Vererbung (Biologie)|Vererbung]] oder [[Gen]]e und [[Desoxyribonukleinsäure|DNA]] bekannt. Darwin konzentrierte sich daher auf die [[Selektion (Evolution)|natürliche Selektion]] als den primären [[Evolutionsfaktor]].
== Beschreibung ==


Aus dem 19. Jahrhundert sind neben Darwin einige Embryologen zu nennen, die ebenfalls evolutionäre Gesichtspunkte behandelten:
Die bipolare affektive Störung ist durch einen episodischen Verlauf mit depressiven, manischen, hypomanischen oder gemischten Episoden gekennzeichnet:
* [[Karl Ernst von Baer]] stellte an Wirbeltieren fest, dass Embryonen verschiedener Arten umso schwieriger unterscheidbar sind, je früher in ihrer Entwicklung sie angetroffen werden ([[Baer-Regel]])
* [[Johann Friedrich Theodor Müller|Fritz Müller]] kombinierte in seinem Buch ''Für Darwin'' (1864) natürliche Selektion und Embryologie und demonstrierte an Entwicklungsphasen von [[Krebstiere]]n, dass ihre Stammesgeschichte ohne Darwins Theorie nicht erklärt werden könne. Seine Studien inspirierten wie jene von Baers
* [[Ernst Haeckel]]. Auf ihn geht die heute nicht mehr gebräuchliche [[biogenetische Grundregel]] zurück, die in Schärfung eines damals weit verbreiteten Rekapitulationsgedankens angibt, dass die beobachteten Parallelen zwischen Ontogenese und Phylogenese der Organismen auf der embryonalen Wiederholung von Merkmalen beruht, die in der Stammesgeschichte der Arten schon im Erwachsenen-Stadium ausgebildet waren.
* [[Wilhelm Roux]] war Schüler von Haeckel und Begründer der [[Entwicklungsmechanik]]. Er war bereits der Ansicht, dass kein fertiger Bauplan vererbt wird ([[Präformationstheorie]]), sondern dass „den einzelnen Zellen ein gewisser Spielraum bleibt, innerhalb dessen sich das Geschehen gegenseitig selbst reguliert“ (1881). Aus diesem Gedanken wurden [[Epigenese|epigenetische]] Vorstellungen bestärkt, wie sie zuvor schon von [[Caspar Friedrich Wolff]] (1734–1794) angenommen wurden.


=== Synthetische Evolutionstheorie seit 1930 ===
* [[Depression|Depressive Phasen]] zeichnen sich durch überdurchschnittlich gedrückte Stimmung und verminderten Antrieb aus. Bei starken Depressionen kann es zu [[Suizid]]gedanken kommen.
* Eine [[Manie|manische]] Episode ist durch gesteigerten Antrieb und Rastlosigkeit gekennzeichnet, was oft mit inadäquat überschwänglicher oder gereizter Stimmung einhergeht. Dabei ist die Fähigkeit zur Prüfung der Realität mitunter stark eingeschränkt, und die Betroffenen können sich in große Schwierigkeiten bringen.
* Unter einer [[Hypomanie]] versteht man eine nicht stark ausgeprägte Manie, typischerweise ohne gravierende soziale Konsequenzen. Eine Hypomanie liegt jedoch bereits deutlich über einem normalen Aktivitäts- und/oder Stimmungsausschlag.
* Eine gemischte Episode ist gekennzeichnet durch gleichzeitiges oder rasch wechselndes Auftreten von Symptomen der Manie und der Depression. Beispielsweise trifft ein verstärkter Antrieb mit einer gedrückten Grundstimmung zusammen.<ref>[http://www.aerztezeitung.at/fileadmin/PDF/2013_Verlinkungen/State_Bipolare_Stoerungen.pdf Österreichische Ärztezeitung 5/2013, S. 31 – PDF, 5,9 MB]</ref>


In den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts wurden Darwins Erkenntnisse in die neue Fachrichtung der vergleichenden Embryologie aufgenommen. Entdeckungen wie diejenige der Keimblätter (Endo-, Meso-, Ektoderm) waren wesentlich für die Entschlüsselung der [[Homologie (Biologie)|Homologie]] der Körperbaupläne. Nach den großen Entdeckungen der Anfangszeit erlahmte der Elan aber dadurch, dass zwischen renommierten Forschern Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung zahlreicher Einzelheiten ausbrachen, die mit den damaligen Methoden nicht entscheidbar waren. Das Hauptinteresse der Forschung wandte sich daraufhin neuen Disziplinen wie der Entwicklungsmechanik und der Genetik zu.<ref>Brian K. Hall: ''Balfour, Garstang and de Beer: The First Century of Evolutionary Embryology.'' In: ''American Zoologist.'' 40(5), 2000, S. 718–728.</ref><ref>Alan C. Love, Rudolf A. Raff: ''Knowing your ancestors: themes in the history of evo-devo.'' In: ''Evolution and Development.'' 5(4), 2003, S. 327–330.</ref>
Meist beginnt eine bipolare Störung in der [[Adoleszenz]] oder dem frühen Erwachsenenalter. Oftmals wird sie sowohl von Betroffenen als auch von Medizinern erst viele Jahre nach Ausbruch erkannt. Häufig hat also bereits eine lange Leidenszeit bestanden, bevor eine Behandlung beginnt.  


Auch während des Entstehens der Synthetischen Evolutionstheorie in den 1930er und 1940er Jahren gab es vereinzelt Wissenschaftler, die sich um eine stärkere Thematisierung der Entwicklung bemühten (z.&nbsp;B. [[Richard Goldschmidt]], [[Conrad Hal Waddington]], [[Iwan Iwanowitsch Schmalhausen]]). Die Synthetische Evolutionstheorie war jedoch mit dem dominierenden Fundament der [[Populationsgenetik]] ([[Ronald Aylmer Fisher|Ronald A. Fisher]], [[Sewall Wright]], [[J. B. S. Haldane|J.B.S. Haldane]]) unter der Mithilfe anderer Disziplinen (u.&nbsp;a. [[Zoologie]], [[Systematik (Biologie)|Systematik]]: [[Ernst Mayr]]) stark auf statistisch-deskriptives Denken ausgerichtet, so dass Prinzipien der Individualentwicklung keine Aufnahme in den Kanon fanden. [[Thomas Hunt Morgan]], einer der frühen Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie, selbst auch Embryologe, stellte 1932 die Behauptung auf, die Genetik sei der einzige wissenschaftlich gültige Ansatz für das Studium der Evolution.<ref name="GIL-2003-A">Scott F. Gilbert: ''The morphogenesis of evolutionary development biology.'' 2003, S. 471.</ref> Vorstellungen, die sich mit der direkten Wirkung von Umwelteinflüssen auf den entstehenden Organismus befassten (Epigenetik), wurden nicht weiter verfolgt, weil diese dem neodarwinistischen Dogma widersprachen, wonach kein Informationsfluss möglich ist, der von außen auf die DNA wirkt und sie vererbbar verändert ([[Weismann-Barriere]]). Vor diesem Hintergrund kann verstanden werden, dass ein Forscher wie Conrad Hal Waddington, der 1942 eine ''Umweltinduzierung von Entwicklungsveränderungen'' und die [[Kanalisierung (Entwicklung)|Kanalisierung]] von Entwicklungsprozessen theoretisch beschrieb und deswegen als ein wichtiger Vorläufer der Evolutionären Entwicklungsbiologie gilt, seitens der Synthetischen Evolutionstheorie nicht beachtet wurde. Waddingtons Thesen gelangten erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer Renaissance.<ref name="JAB 2005">Eva Jablonka, Marion J. Lamb: ''Evolution in four Dimensions. Genetic, Epigenetic, Behavioral and Symbolic Variation in the History of Life.'' MIT Press, 2005, S. 261–266.</ref><ref name="GIL-2003-B">Scott F. Gilbert: ''The morphogenesis of evolutionary development biology.'' 2003, S. 474.</ref>
Da die Symptome starke Auswirkungen auf Entscheidungen und Beziehungen haben, können zum Zeitpunkt der Diagnose die Lebenswege schon erheblich durch sie beeinflusst sein, zumal sie meist in jungen Jahren beginnen, in denen die Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist. Häufig kommt es zu Problemen in der Ausbildung, im Arbeits- und Familienleben oder zu jähen Wechseln im Lebenslauf. Ist die Störung erkannt, können die Auswirkungen mit einer entsprechenden Behandlung durch Spezialisten möglicherweise gemildert werden.


Die [[Synthetische Evolutionstheorie]], das Standardmodell der heutigen, auf Darwin zurückgehenden [[Evolutionstheorie]], sieht die Abfolge von zufälligen und systematischen (bei sexueller Reproduktion: Rekombination) [[Phänotypische Variation|Variationen]], natürlicher Selektion und resultierender Adaption von Populationen als ausreichend an, um die Entstehung organismischer Vielfalt zu erklären.<ref name="PM 2010-1">M. Pigliucci, G. Müller: ''Evolution. The Extended Synthesis.'' 2010, Kap. 1: ''Elements of an Extended Evolutionary Synthesis.''</ref> Ihre Vertreter vorrangig der 1930er bis 1950er Jahre nahmen dabei im Vergleich zu Darwin zum Teil restriktiver Einschränkungen vor, die sich aus der gerade neu entdeckten Genetik ergaben. Wichtig sind hier folgende Grundannahmen der Synthetischen Theorie:
Die bipolare Störung wird oft mit [[Kreativität]] in Verbindung gebracht. Zu den Betroffenen zählen viele erfolgreiche Menschen. Der gesteigerte Antrieb in hypomanen Phasen kann für ungewöhnliche und gewagte Projekte begeistern, und Ziele werden oft mit großem Engagement verfolgt.


# [[Gradualismus]] ist die Annahme, dass sich evolutionäre Entwicklungen stets in kontinuierlichen, kleinen Veränderungen vollziehen, die sich zu größeren summieren.<ref name="PM 2010-6">M. Pigliucci, G. Müller: ''Evolution. The Extended Synthesis.'' 2010, Kap. 1: ''Elements of an Extended Evolutionary Synthesis.''</ref> (das Konzept des Gradualismus geht dabei ursprünglich auf Charles Darwin selbst zurück).
Die bipolare Störung ist eine recht häufige Störung: Werden auch leichtere Fälle berücksichtigt, so sind laut einigen Untersuchungen in den Industrieländern drei bis vier Prozent der Bevölkerung zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens von ihr betroffen.
# Die [[Weismann-Barriere]]. Demnach besteht keine Möglichkeit einer vererbbaren Beeinflussung des Genoms bzw. der Keimzellen durch individuelle Erfahrung der Organismen.


Forscher wie [[Mary Jane West-Eberhard]], [[Marc Kirschner]], [[Gerd B. Müller]] und andere versuchen gegenwärtig diese Annahmen zu modifizieren und weiter zu entwickeln.<ref name="PM 2010-3">M. Pigliucci, G. Müller: ''Evolution. The Extended Synthesis.'' 2010, S. 13.</ref><ref name="WE 2003-2">Mary Jane West-Eberhard: ''Development Plasticity and Evolution.'' 2003, S. 6 ff.</ref>
== Diagnostik ==
Hypomanien werden von Ärzten oft nicht zur Kenntnis genommen, oder sie erfahren in der [[Anamnese]] nichts davon, so dass bipolare Störungen dann nicht angemessen behandelt werden. Aber auch Depressionen werden oft nicht erkannt. Noch weniger bekannt sind die Symptome manisch-depressiver Krankheiten in der Öffentlichkeit. Daher wird nur ein geringer Teil aller Betroffenen derzeit korrekt diagnostiziert.  


=== Constraints und Heterochronie ===
Folgende Umstände erschweren eine Diagnose:<ref>Heinz Grunze, Emanuel Severus: [https://dgbs.de/fileadmin/user_upload/PDFs/DGBS_Materialien/DGBS_Diagnostik_Bipolar.pdf ''Bipolare Störungen erkennen. Die Kunst der korrekten Diagnose''.] In: ''Der Neurologe & Psychiater'', Sonderheft 1/2005.</ref>
* 30 % Mischzustand: Lediglich knapp die Hälfte aller Manien ist entgegen weit verbreiteter Ansicht und Darstellung durch [[Euphorie]] ''(himmelhoch-jauchzend)'' gekennzeichnet. Oft gehen gleichzeitig depressive Symptome mit einher, die letztlich (zu 40 %) in einen Mischzustand münden können. Wenn diese Mischsymptomatik nicht als solche erkannt wird, kommt es schnell zu Fehldiagnosen.
* Verbreitete Beschreibungen nennen finanziellen Ruin, Bedenkenlosigkeit bei Trennungen und Wahn bei Manien als typische Elemente, so dass Manien, die diese Phänomene nicht aufweisen, nicht als solche wahrgenommen werden.
* In der Manie kommt es vielfach zu exzessivem Alkohol- oder Drogenkonsum, so dass eine bipolare Störung vorschnell als Alkohol- oder Drogenabhängigkeit eingeordnet wird.
* Wenn Suchtkrankheiten als [[Komorbidität]] vorkommen, besteht eine erhöhte Gefahr, dass die Grunderkrankung verschleiert wird.
* Depression: Eine ''rezidivierende unipolare Depression'' ist die häufigste Fehldiagnose bei bipolaren Störungen. Dies kommt daher, weil hypomane Phasen meist nicht als solche erkannt, berichtet oder erfragt werden.
* ADHS: Bei Kindern und Jugendlichen ist die Abgrenzung zum ''Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom'' ([[Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung|ADHS]]) manchmal schwierig.
* Schizophrenie: Psychotische Symptome, die bei schweren Manien auf deren Höhepunkt vorkommen können, führen oft zur Fehldiagnose einer [[Schizophrenie]] oder einer [[Schizoaffektive Störung|schizoaffektiven Störung]].


Seit den achtziger Jahren mehrten sich die Stimmen, die für eine stärkere Beachtung der Entwicklung für die Evolution plädierten ([[Stephen Jay Gould]] u.&nbsp;a.): Man untersuchte verstärkt die entwicklungsbiologischen Beschränkungen, die das Spektrum der evolutionären Variation begrenzen ([[Constraint (Evolution)|Constraints]]). Andere Forscher beschäftigten sich mit den zeitlichen Verschiebungen der modularen Komponenten im Entwicklungsablauf (''[[Heterochronie]]''), wodurch z.&nbsp;B. Verschiebungen in den Größenverhältnissen zwischen verschiedenen Organen erklärbar wären. [[Gavin de Beer]] hatte bereits 1954 die These aufgestellt, dass Änderungen im Timing von Entwicklungsereignissen die Variation von Merkmalen verursachen können, etwa längere oder kürzere Beinen oder die Ausbildung oder Nichtausbildung eines Schwanzes auslösen können.<ref name="GIL-2003-F">Scott F. Gilbert: ''The morphogenesis of evolutionary development biology.'' 2003, S. 470.</ref>
=== Kriterien nach ICD-10 oder DSM-IV ===
Für die Diagnose von manischen, hypomanischen, depressiven und gemischten Episoden gibt es Kataloge mit genauen Kriterien, welche die Symptome und andere Bedingungen (z. B. Anhalten der Symptome über eine definierte Zeit lang) beschreiben, die für eine Diagnose erfüllt sein müssen.


=== Master-Kontrollgene und Genregulation ===
Eine solche Auflistung von [[Symptom]]en findet sich beispielsweise in der [[International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems|ICD-10]], der Internationalen Klassifikation der Krankheiten von der Weltgesundheitsorganisation ([[Weltgesundheitsorganisation|WHO]]). Die verschiedenen Formen der bipolaren affektiven Störung werden dort unter dem Schlüssel F31 klassifiziert, dabei wird zwischen zehn verschiedenen Ausprägungen unterschieden.<ref>[http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2018/block-f30-f39.htm#F31 Klassifikation der Bipolaren Störung in der ICD-10]</ref>


Nach Scott F. Gilbert kann 1977 als Konzeptionsjahr der neuen Forschungsrichtung Evo-Devo angesehen werden, begründet durch das Erscheinen dreier bedeutender Publikationen in diesem Jahr:<ref name="GIL-2003-E">Scott F. Gilbert: ''The morphogenesis of evolutionary development biology.'' 2003, S. 473.</ref> [[Stephen J. Gould]]s ''Ontogeny and Phylogeny'', [[Francois Jacob]]s ''Evolution by Thinkering'' sowie eine technische Arbeit von A. Maxam und [[Walter Gilbert]] zu [[DNA-Sequenzierung]]. 1982/83 entdeckte man wichtige Master-Kontrollgene,<ref name="MAS">Master-Kontrollgene oder Masterregulatorgene sind Gene, „die fortlaufend einen oder mehrere [[Transkriptionsfaktor]]en in gewissen sich differenzierenden Zellen exprimieren“ (Kirschner und Gerhard 2005, S. 384)</ref> die an der Regulierung grundlegender Körperbaupläne beteiligt sind, darunter die [[Hox-Gen]]e, die für die Spezifikation der Körperlängsachse (in entwicklungsbiologischer Terminologie: der Anterior-Posterior-Körperachse) hauptverantwortlich sind, später die [[Pax-Gen]]e mit grundlegender Bedeutung für die [[Augenentwicklung (Wirbeltiere)|Augenentwicklung]] sowie die Mkx-Gene, die an der Herz-Formation beteiligt sind. Es stellte sich heraus, dass die Gruppe der Hox-Gene „in abgewandelter Form in bisher allen untersuchten vielzelligen Tieren vorkommt“,<ref name="NUES 2004">Christiane Nüsslein-Volhard: ''Das Werden des Lebens – Wie Gene die Entwicklung steuern.'' 2006, S. 93.</ref> sie sind [[Homologie (Biologie)|homolog]] und müssen daher über einen sehr großen Zeitraum in der Evolution konserviert sein; mindestens seit der „[[Kambrische Explosion|kambrischen Explosion]]“ vor 530 Millionen Jahren, [[Paul Layer]] spricht sogar von rund einer Milliarde Jahre.<ref name="LAY-1">Paul G Layer: ''Evo-Devo: Die molekulare Entwicklungsbiologie als Schlüssel zum Verständnis der Evolutionstheorie.'' In: ''Zeitschrift Für Pädagogik Und Theologie.'' 61 (4), 2009, S. 328.</ref> Die Entdeckung der Hox-Gene und ihrer Homologie für die Tierstämme zählt zu den herausragenden Entdeckungen der modernen Biologie der letzten Jahrzehnte. (siehe hierzu auch [[Homöobox]]).
Die folgenden Kriterien stammen aus dem ''[[Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders]]'' (einem viel verwendeten US-amerikanischen Klassifikationssystem, abgekürzt als DSM-IV).<ref>{{Webarchiv| url=http://www.dsmivtr.org/| wayback=20080517004926| text=Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV)}}</ref>


In der Folge ermöglichte eine immer einfachere, schnellere und kostengünstigere Sequenzierung von Genomen und der vergleichenden Genetik einen verbesserten Einblick in die [[Genregulation]]sprozesse während der Entwicklung. Dies hatte zur Folge, dass sich jene Thematik zu einem der stärksten Forschungsfelder von Evo-Devo entwickelte.<ref name="MN-2005-63">Gerd B. Müller, Stuart A. Newman: ''The Innovation Triad. An Evo-Devo Agenda.'' In: ''Journal of Experimental Zoology.'' Band 304B, 2005, S. 387–503.</ref>
==== Manische Episode ====
A. Eine ausgeprägte Periode abnormer und ständiger gehobener, überschwänglicher oder gereizter Stimmung, die über eine Woche dauert (oder Krankenhausaufenthalt).


== Bedeutung für die Theorie der "Erweiterten Synthese" ==
B. Während der Periode der Stimmungsstörung halten drei (oder mehr) der folgenden Symptome bis zu einem bedeutsamen Grad beharrlich an:
=== Allgemeines ===
# übertriebenes Selbstbewusstsein oder Größenwahn
Zum Zeitpunkt der Befruchtung ist die [[phänotyp]]ische Form eines Individuums noch nicht gegeben; das Genom (DNA) wird durch Vorgänge während der Entwicklung in die Form (den Phänotyp) „übersetzt“. Der Embryo muss also seine Form erst aus einer einzelnen, undifferenzierten Zelle in der individuellen Entwicklung (der Ontogenese) erzeugen.
# verringertes Schlafbedürfnis (z.&nbsp;B. Erholungsgefühl nach nur drei Stunden Schlaf)
# gesprächiger als üblich oder Drang zum Reden
# Ideenflucht oder subjektives Gefühl, dass die Gedanken rasen
# Zerstreutheit (Aufmerksamkeit wird zu leicht zu unwichtigen oder belanglosen externen Reizen gezogen)
# Zunahme zielgerichteter Aktivitäten (entweder sozial, am Arbeitsplatz oder in der Schule oder sexuell) oder psychomotorische Unruhe
# exzessive Beschäftigung mit angenehmen Tätigkeiten, die höchstwahrscheinlich negative Folgen hat (z.&nbsp;B. ungehemmter Kaufrausch, sexuelle Taktlosigkeiten oder törichte geschäftliche Investitionen)
C. Die Symptome werden nicht besser durch die Kriterien der gemischten Episode beschrieben.


Weil jede vererbbare Veränderung des Phänotyps nur über die Veränderung der embryonalen Entwicklung erfolgen kann und diese ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten besitzt, ist für die Vertreter von Evo-Devo die Entwicklung ein zentraler Schlüssel für das kausale Verständnis der organismischen Evolution. Aus Sicht zahlreicher Vertreter dieser Forschungsrichtung kann die embryonale Entwicklung dabei spontane [[Phänotypische Variation|Variation]] und Innovation hervorbringen. Die Selektion wirkt erst anschließend auf diese Variationsformen und wählt die geeignetsten Individuen aus. Morphologische Form und komplexe Strukturen (Körperbaupläne) entstehen nach dieser Sicht vor allem durch systemimmanente, sich selbst regulierende Umbauten des Organismus während der embryonalen Entwicklung.<ref name="KiGe 2007-1">Mark C. Kirschner, John C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma – Wie Evolution komplexes Leben schafft.'' Rowohlt, 2007. (Orig.: ''The Plausibility of Life.'' 2005)</ref><ref name="PM 2010-2">M. Pigliucci, G. Müller: ''Evolution – the Extended Synthesis.'' MIT Press, 2010, Kap. 10 u. 12</ref><ref name="WE 2003-1">Mary Jane West-Eberhard: ''Development Plasticity and Evolution.'' Oxford University Press, 2003.</ref>
D. Die Stimmungsstörung ist hinlänglich schwer, um eine ausgeprägte Beeinträchtigung in beruflichen Aufgabengebieten oder unübliche soziale Aktivitäten oder Beziehungen mit anderen zu bewirken oder sie erfordern einen Krankenhausaufenthalt, um Selbst- oder Fremdschädigung zu verhindern, oder es gibt andere psychotische Merkmale.


=== Epigenetische Mechanismen ===
E. Die Symptome sind nicht durch direkte physiologische Effekte einer Substanz (z.&nbsp;B. [[Abhängigkeitssyndrom|Drogenkonsum]], Medikamente oder andere Behandlungen) oder eine generelle medizinische Verfassung (z.&nbsp;B. [[Hyperthyreose|Überfunktion der Schilddrüse]]) verursacht.
Gemäß der Synthetischen Theorie ist Evolution als ''Veränderung der Allelfrequenz'' ([[Genfrequenz]]) ''in Populationen'' definiert.<ref name="WE-2003-71">Mary Jane West-Eberhard: ''Development Plasticity and Evolution.'' 2003, S. 7 mit Bezug auf Buss 1987.</ref> Damit wird jedoch nicht erklärt, wie [[Phänotypische Variation|Variation]] und Innovation entstehen. Wurde die embryonale Entwicklung von den Hauptvertretern der Synthetischen Theorie noch als nicht relevant für die Evolution angesehen, steht sie heute im Fokus der kausalen Evolutionsforschung. Während die gängige Theorie auf das ''[[survival of the fittest]]'' fokussiert ist, versucht die evolutionäre Entwicklungsbiologie das ''arrival of the fittest'' zu erklären, also die Frage: wie entstehen die Geeignetsten?<ref name="MF 2008-1">A. Minelli, G. Fusco (Hrsg.): ''Evolving Pathways – Key Themes.'' In: ''Evolutionary Developmental Biology.'' 2008, S. 2.</ref> Evo-Devo erweitert also den Forschungshorizont der Evolutionstheorie um neue Fragen und neue Erklärungen. Die von Evo-Devo neu beschriebenen epigenetischen Mechanismen der Reaktionsfähigkeiten der Entwicklung sind u.&nbsp;a.:


* Kanalisierung (siehe ''[[#Die Evo-Devo-Forschungsthemen|Kapitel 3]]'', ''[[#Die Entwicklung erzeugt phänotypische Innovation|Kapitel 6]]'' und 9.1)
==== Schwere depressive Episode ====
* Heterochronie (siehe ''[[#Die Evo-Devo-Forschungsthemen|Kapitel 3]]'')
A. Fünf (oder mehr) der folgenden Symptome sind während einer Zwei-Wochen-Periode vorhanden und bedeuten eine Änderung des bisherigen Verhaltens, Gefühlslebens oder Leistungsfähigkeit, wobei mindestens eines der Symptome eine depressive Verstimmung oder der Verlust von Interesse und Freude ist:
* konservierte zelluläre Kernprozesse, die adaptiv kombiniert werden können (siehe ''[[#Die Theorie der erleichterten Variation|Kapitel 5]]'' ):
# depressive Stimmung fast den ganzen Tag, beinahe jeden Tag, angezeigt entweder durch subjektiven Bericht (fühlt sich z.&nbsp;B. traurig oder leer) oder durch Beobachtung anderer (erscheint z.&nbsp;B. weinerlich). Anmerkung: Bei Kindern und Heranwachsenden kann eine gereizte Stimmung vorliegen;
** schwache regulatorische Kopplungen bei Zell-Zell-Kommunikation
# deutlich vermindertes Interesse oder Freude bei allen oder beinahe allen Aktivitäten fast den ganzen Tag, beinahe jeden Tag (wird entweder durch eigenen Bericht oder Beobachtungen anderer festgestellt);
** explorative Prozesse / Verhalten
# erheblicher Gewichtsverlust ohne Diät oder Gewichtszunahme (z.&nbsp;B. eine Veränderung des Körpergewichts um mehr als fünf Prozent in einem Monat) oder Ab- oder Zunahme des Appetits beinahe jeden Tag;
** Kompartimentierung
# Schlaflosigkeit oder übersteigertes Schlafbedürfnis beinahe jeden Tag;
* Reaktionsfähigkeit der Entwicklung auf initiierende [[Umweltstress]]oren (siehe ''[[#Die Evo-Devo-Forschungsthemen|Kapitel 3]]'' bis ''[[#Die Entwicklung erzeugt phänotypische Innovation|Kapitel 6]]'' und ''[[#Bildgebende Verfahren|Kapitel 8]]'')
# psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung fast jeden Tag (beobachtet durch andere, nicht nur subjektive Gefühle der Ruhelosigkeit oder der Erschöpfung);
* nicht-lineare Effekte der Entwicklung mit diskontinuierlichem, phänotypischem Output (siehe ''[[#Die Entwicklung erzeugt phänotypische Variation|Kapitel 4]]'', ''[[#Die Entwicklung erzeugt phänotypische Innovation|Kapitel 6]]'' und ''[[#Bildgebende Verfahren|Kapitel 8]]'').
# Erschöpfung oder Verlust der Energie beinahe jeden Tag;
# Gefühl der Wertlosigkeit oder ausgeprägte und unangemessene Schuldgefühle (die auch wahnhaft sein können), beinahe jeden Tag (nicht nur Selbstvorwurf oder Schuldgefühle, weil man krank ist);
# verminderte Fähigkeit, zu denken oder sich zu konzentrieren, oder Entscheidungsunfähigkeit beinahe jeden Tag (entweder durch subjektiven Bericht oder Beobachtung Anderer festgestellt);
# wiederkehrende Todesgedanken (nicht nur Furcht zu sterben), wiederkehrende Suizidgedanken ohne spezifischen Plan oder ein Suizidversuch oder eine konkrete Planung eines Suizids.


Solche Mechanismen stellen für die Evo-Devo-Forschung neben Selektion und den genetischen Faktoren von [[Mutation]], [[Rekombination (Genetik)|Rekombination]] und [[Gendrift]] eigenständige [[Evolutionsfaktor]]en dar, die es erlauben, das Entstehen von Variation und Innovation auch mechanistisch zu erklären.
B. Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien für eine gemischte Episode.


== Evo-Devo-Forschungsthemen ==
C. Die Symptome verursachen klinisch bedeutsames Leiden oder eine Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Aufgabengebieten.
Die Evolutionäre Entwicklungsbiologie betrachtet das gesamte System der embryonalen Entwicklung selbst als ein evolviertes System und sieht es in einem komplexen systemischen Zusammenhang mit der Umwelt. [[Gerd B. Müller]] teilt das Forschungsgebiet in folgende drei Themenblöcke ein,<ref name="MUE 2009">Gerd B. Müller: ''Extending the Evolutionary Synthesis.'' 2009.</ref> von deren Einzelfragen manche erst am Beginn wissenschaftlicher Bearbeitung stehen (s. Abb. 1):


Zunächst als erster Block die Evo-Devo-Fragen, die sich von der Evolution auf die Entwicklung richten:
D. Die Symptome beruhen nicht auf einem direkten physiologischen Effekt einer Substanz (z.&nbsp;B. einem Drogenkonsum, einer Medikation) oder einer generellen medizinischen Verfassung (z.&nbsp;B. Überfunktion der Schilddrüse).
[[Datei:Eco-evo-devo-Fragen-klein2.jpg|mini|hochkant=1.5|Abb. 1 Evo-Devo fragt auch nach Wirkungsmechanismen der Entwicklung auf die Evolution und Interaktion zwischen Entwicklung, Evolution und Umwelt. Mit dieser Betrachtung wird die Evolutionstheorie methodologisch komplex.]]


1. Der erste Themenkreis beschäftigt sich damit, wie Entwicklung bei rezenten Arten in der Evolution entstehen konnte. Was wir heute in höher entwickelten Arten in der Embryonalphase sehen und analysieren, dieser in seinem Zusammenspiel mit der Außenwelt noch nicht ganz verstandene Prozess, war nicht immer in diesem (wie Müller es nennt) ''routinierten'', fein justierten Wechselspiel vorhanden. Es muss einen langen Evolutionsprozess bis heute gegeben haben. Ausgehend von ersten [[Vielzellige Tiere|Metazoen]] sind erst viel später die selektive Fixierung und genetische Routinierung in den robusten Formen der Entwicklung und in den zuverlässigen [[Mendelsche Regeln|mendelschen Vererbungsformen]] aufgegangen, wie wir sie in heute existierenden Organismen beobachten (Gerd B. Müller).
E. Die Symptome werden nicht besser durch Trauer erklärt, z.&nbsp;B. über den Verlust einer geliebten Person. Oder: Die Symptome dauern länger als zwei Monate an oder sind gekennzeichnet durch eine ausgeprägte funktionale Beeinträchtigung, krankhafte Beschäftigung mit Wertlosigkeit, Suizidgedanken, psychotische Symptome oder psychomotorische Verlangsamung.


2. Unter der ''Evolution des Entwicklungsrepertoires'' versteht man zum einen die genetischen Werkzeuge. [[Sean B. Carroll]]<ref name="CAR 2008">Sean B. Caroll: ''Evo-Devo – Das neue Bild der Evolution.'' Berlin 2008. (Orig.: ''Endless Forms Most Beautiful.'' USA 2006)</ref> spricht vom genetischen Werkzeugkasten (''genetic toolkit''). Man fragt und erforscht, wie dieser entstehen und evolvieren konnte oder wie zum Beispiel genetische Redundanz, neue Genfunktionen, Modularität auf Genomebene entstehen konnten. Zum andern gehört zum Entwicklungsrepertoire aber auch eine komplexe Vielfalt epigenetischer Prozesse (s. Abb. 3: ''Das integrierte evolutionäre Entwicklungssystem''). Diese Prozesse waren vor hunderten Millionen Jahren einfacher. Heute enthalten sie ausgefeilte, eingespielte Mechanismen, die zum Beispiel Zellwechselwirkungen genau regulieren. Das Entwicklungsrepertoire selbst entstand also durch Millionen Jahre Evolution. Es selbst vermehrt sich laut Müller in der Evolution.
==== Hypomanische Episode ====
A. Eine mindestens vier Tage andauernde, ausgeprägte Periode ständig gehobener, überschwänglicher oder gereizter Stimmung, die eindeutig verschieden von der üblichen nichtdepressiven Stimmung ist.


3. Die Frage: Wie wirkt Evolution auf spezielle Entwicklungsprozesse ein? Hier gibt es z.&nbsp;B. die ''Heterochronie'', die zeitliche Verschiebung von Entwicklungsprozessen. „Evolutionäre Modifizierungen in der Segmentierung und regionalen Differenzierung größerer Körperbausektionen wird begleitet von Verschiebungen in Domänen der Hox-Gen-Expressionen“.<ref name="MUE-2007">Gerd B. Müller: ''Evo-devo: extending the evolutionary synthesis.'' In: ''[[Nature Reviews Genetics]].'' 2007, S. 2.</ref>
B. Während der Phase der Stimmungsstörung sind drei (oder mehr) der folgenden Symptome (vier, wenn die Stimmung nur gereizt ist) bis zu einem gewissen Grad ständig vorhanden:
# überhöhtes Selbstwertgefühl oder Größenwahn
# vermindertes Schlafbedürfnis (z.&nbsp;B. Erholungsgefühl nach nur drei oder weniger Stunden Schlaf)
# gesprächiger als üblich oder Rededrang
# Ideenflucht oder subjektive Erfahrung des Gedankenrasens
# Zerstreutheit (das bedeutet Fokussierung auf unwichtige oder unerhebliche externe Reize)
# Zunahme zielgerichteter Aktivitäten (entweder sozial, beruflich oder in der Schule, oder sexuelle oder psychomotorische Unruhe)
# übertriebenes Engagement bei Vergnügungen, die in einem hohen Maße schmerzhafte Konsequenzen nach sich ziehen (z.&nbsp;B. hemmungsloser Kaufrausch, sexuelle Indiskretionen oder leichtsinnige geschäftliche Investitionen)


Der zweite Block betrifft DevoEvo-Fragen, die sich von der Entwicklung auf die Evolution richten, sozusagen die Gegenfragen zum ersten Block. Diese Fragen sind das spezifisch Neue in Evo-Devo, die die kausalen Wechselwirkungen zwischen Entwicklung und Evolution erst sichtbar machen und die die herrschende Evolutionstheorie verändern.
C. Die Episode wird begleitet von Veränderungen der Leistungsfähigkeit oder des Verhaltens, die für die Person in symptomfreien Phasen uncharakteristisch ist.


4. Wie beeinflusst Entwicklung phänotypische Variation? Um zu unterbinden, dass in der Entwicklung zu große, unerwünschte evolutionäre Variationen auftreten, haben sich Entwicklungsconstraints gebildet. Solche Constraints sind physikalischer, morphologischer und phylogenetischer Natur. Sie führen zu einer Kanalisierung der Entwicklung ([[Conrad Hal Waddington]]), zu Robustheit. Man spricht auch von der ''development reaction norm'', eine Bandbreite innerhalb derer sich phänotypische Plastizität vollziehen kann.
D. Die Stimmungsstörung und der Wechsel des Auftretens werden durch Andere beobachtet.


5. Was trägt Entwicklung zu phänotypischer Innovation bei? Wenn die Selektion allein gesehen keine Form bilden kann, muss es einen anderen Weg geben, wie organismische Innovation entsteht. Die Antwort kann für Evo-Devo nur in der Entwicklung liegen.
E. Die Episode ist nicht schwer genug, um eine ausgeprägte Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen Aufgabenbereichen zu verursachen oder einen Krankenhausaufenthalt zu erfordern, und es gibt keine psychotischen Merkmale.


6. Wie wirkt Entwicklung auf die Organisation des Phänotyps? Die Frage nach der Organisation der Körperbaupläne in der Entwicklung ist nicht auf die Entstehung oder Variation bestimmter Körpermerkmale gerichtet, sondern darauf, wie der Organismus als ein ''integriertes System'' hergestellt werden kann.
F. Die Symptome sind nicht durch direkte physiologische Effekte einer Substanz (z.&nbsp;B. Drogenkonsum, Medikamente oder andere Behandlungen) oder eine generelle medizinische Verfassung (z.&nbsp;B. Überfunktion der Schilddrüse) verursacht.


Schließlich der dritte Block, das ist der Eco-Evo-Devo-Fragenkreis, der die kausale Beziehung von Entwicklung und Evolution mit der Umwelt betrifft, ebenfalls neu von Evo-Devo eingebracht, da die [[Synthetische Evolutionstheorie]] keine derartigen Wirkungsmechanismen erklären kann.
Anmerkung: Hypomaniegleiche Episoden, die eindeutig durch somatische antidepressive Behandlung verursacht sind (Medikamente, Elektroschocktherapie, Lichttherapie), sollten nicht einer Diagnose ''Bipolare II Störung'' zugerechnet werden.


7. Wie interagiert die Umwelt mit Entwicklungsprozessen?
==== Gemischte Phase ====
A. Für mindestens eine Woche werden fast jeden Tag sowohl die Kriterien für eine manische Phase als auch für eine depressive Phase erfüllt (abgesehen vom Kriterium der Dauer).


8. Wie beeinflussen Umweltänderungen die phänotypische Evolution?
B. Die Störung der Stimmung ist schwer genug, um eine ausgeprägte Beeinträchtigung in beruflichen Aufgabengebieten oder unübliche soziale Aktivitäten oder Beziehungen mit anderen zu bewirken, oder sie erfordert einen Krankenhausaufenthalt, um Selbst- oder Fremdschädigung zu verhindern, oder es gibt andere psychotische Merkmale.


9. Wie wirkt die evolutionäre Entwicklung auf die Umwelt?
C. Die Symptome sind nicht durch direkte physiologische Effekte einer Substanz (z.&nbsp;B. Drogenkonsum, Medikamente oder andere Behandlungen) oder eine generelle medizinische Verfassung (z.&nbsp;B. Überfunktion der Schilddrüse) verursacht.
Anmerkung: Der gemischten Phase vergleichbare Episoden, die eindeutig durch somatische antidepressive Behandlung verursacht sind (Medikamente, Elektroschocktherapie, Lichttherapie), sollten nicht einer Diagnose: ''Bipolare I Störung'' zugerechnet werden.


Ein zentrales Konzept dieses Fragenkreises ist die phänotypische [[Phänotyp|Plastizität]]. Plastizität bedeutet, dass ein Genotyp unter verschiedenen Umweltbedingungen verschiedene, unter Umständen stark abweichende, Phänotypen erzeugen kann. Ein bekanntes Beispiel ist, dass aus Eiern bestimmter Schildkrötenarten je nach Temperatur und damit umweltabhängig, männliche oder weibliche Nachkommen schlüpfen.<ref name="GIL-2003-01">Scott F. Gilbert: ''The reactive Genome.'' In: Gerd B. Müller, Stuart A. Newman: ''Origination of Organismal Form. Beyond the Gene in Development and Evolutionary Biology.'' 2003, S. 87–101 f.</ref> Schmetterlinge erzeugen abhängig von der Jahreszeit unterschiedliche Flügelfärbung. Mehr Tageslicht und geringere Temperatur bringen einen dunklen Typ hervor, weniger Licht einen orangen Typ.<ref name="GIL-2003-02">Scott F. Gilbert: ''The reactive Genome.'' 2003, S. 93 f.</ref>
== Begleiterkrankungen (Komorbidität) ==
Bei Erwachsenen ist Alkohol- und sonstiger Drogenmissbrauch mit 2/3 die häufigste Komorbidität, gefolgt von [[Panikstörung]]en und [[Persönlichkeitsstörung]]en. [[Medikamentenmissbrauch]] tritt vor allem in postmanischen Mischzuständen und den darauf folgenden schweren Depressionen auf.


== Theorie der erleichterten Variation ==
== Krankheitsphasen ==
{{Hauptartikel|Erleichterte Variation}}
=== Manie (manische Episode) ===
{{Hauptartikel|Manie}}


Die Entschlüsselung der genetischen Basis der Entwicklungsvorgänge beim Wachstum hat gezeigt, dass die wesentlichen Prozesse in Entwicklungs-Modulen organisiert sind. Dutzende bis hunderte genetisch codierte Strukturen und Struktureinheiten werden über gemeinsame regulatorische Einheiten synchron gesteuert. „Master-Kontrollgene“ an Schlüsselstellen können die Entwicklung ganzer Organe induzieren, z.&nbsp;B. kann das pax6-Gen überall die Entwicklung funktionsfähiger Augen induzieren. Die auslösenden regulatorischen Einheiten, meist zelluläre Signalwege und (über Transkriptionsfaktoren gesteuerte) cis-regulatorische Abschnitte im Genom abseits der proteincodierenden Sequenzen, steuern dabei die Entwicklung keinesfalls bis ins Detail, sondern bilden gleichsam Schalter, die in sich koordinierte Entwicklungspfade ein- oder ausschalten können. Die genetische Basis des Steuerungswegs ist also unterschiedlich zu derjenigen der damit gesteuerten Struktur selbst. Dies bedeutet, dass sie unabhängig davon variieren und selektiert werden kann. Sean Carroll prägte dafür das Bild des „genetischen Werkzeugkastens“.
Während einer Manie konzentriert der Betroffene oft seine volle Kapazität auf meist angenehme Teilaspekte seines Lebens, wobei andere Aspekte vernachlässigt oder völlig ignoriert werden. So kann es vorkommen, dass der Betroffene seine gesamte Energie auf sein berufliches oder freiwilliges Engagement, für einen neuen Partner oder auf Sexualität fokussiert, gleichzeitig aber wichtige oder wichtigere Dinge wie z.&nbsp;B. seinen Haushalt oder seinen Beruf oder seine Familie völlig vernachlässigt. Die vermehrte Leistungsbereitschaft kann zunächst auch zu Erfolgen führen. So kann der Betroffene während einer Manie, mehr noch aber bei einer Hypomanie, bei vorhandener Begabung sehr respektable Leistungen vollbringen. Auch die übersteigerte Geselligkeit und Schlagfertigkeit kann gut ankommen. Der Schlaf reduziert sich jedoch extrem und der Körper wird entsprechend überanstrengt.


Andere Prozesse werden gar nicht bis ins letzte Detail genetisch festgelegt. Das Entwicklungsprogramm stellt hier lediglich eine noch weitgehend gestaltlose Grundstruktur bereit, die dann erst durch Einflüsse der Umwelt im Detail gestaltet wird: beispielsweise die Reifung des Zentralnervensystems, bei dem von den zahllosen angelegten synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen die benötigten verstärkt werden und die nicht genutzten zugrunde gehen. Dadurch braucht die Detailarchitektur nicht genetisch vorgegeben zu werden.
Bei stärkeren Ausprägungen kann es zu [[Realitätsverlust]] und [[Wahn]] kommen. Dies ist in postmanischen Mischzuständen häufig der Fall. Die Selbstüberschätzung und die Grandiositätsgefühle während der Manie können in einen [[Wahn|Größenwahn]] ([[Megalomanie]] oder [[Cäsarenwahnsinn]]) umschlagen. Dabei kann ein religiöser Wahn, auch religiöser Größenwahn auftreten. Auch wegen des durch die Manie hervorgerufenen teils extremen Schlafmangels können [[Halluzination]]en hervorgerufen werden.


Die Autoren Kirschner und Gerhart fassen die Auswirkungen dieser Erkenntnisse auf die Evolutionstheorie zusammen, sie sprechen von ''erleichterter Variation'' (''facilitated variation'').
Vielen Betroffenen fällt es schwer, einen ''Normalzustand'' oder ''Normalität'' als erstrebenswert anzusehen. Es kommt deshalb nicht selten zu einer Bevorzugung des hypomanischen Zustands, was häufig zu [[Compliance (Medizin)|Compliance]]-Problemen bei der [[Phasenprophylaxe]] führt.


'''Konservierte Kernprozesse'''
=== Hypomanie ===
{{Hauptartikel|Hypomanie}}


Die grundlegenden Strukturen der Zellorganisation und zahlreiche der dem Körperbauplan und seinen Organen zugrunde liegenden Strukturen werden demnach als konservierte Kernprozesse betrachtet. Sie dienen der Feinsteuerung durch die Entwicklungsmodule danach gleichsam als Rohmaterial. Die Einzelprozesse ändern sich dabei nicht. Zellverhaltensweisen können also evolutionär neu kombiniert werden oder in neuem Ausmaß eingesetzt werden. Wichtige Beispiele für solche konservierten Kernprozesse sind nach Kirschner und Gerhart:
Die Hypomanie ist die abgeschwächte Form der Manie. Besondere Merkmale sind die gehobene Grundstimmung und gesteigerter Antrieb, die mit gleichzeitigen Veränderungen im Denken im Sinne eines sprunghafteren, unkonzentrierteren Denkens ([[Ideenflucht]]) und einer Veränderung der Psychomotorik verbunden sein können. Durch die gehobene Stimmung kommt es zu einem größeren Selbstbewusstsein, einer erhöhten Risikofreudigkeit und zu Grenzverletzungen. Die Leistungsfähigkeit ist in diesem Zustand am höchsten.


* der einheitliche genetische Code aller Lebewesen
=== Depression (depressive Episode) ===
* die selektiv durchlässige Zellmembran zur Kommunikation zwischen Zellen sowie
{{Hauptartikel|Depression}}
* die identische Funktion der Hox-Gene.


Die stabilen Kernprozesse erlauben aus Sicht der evolutionären Entwicklungsbiologie Ausprägungsformen oder Eigenschaften, die eine erleichterte phänotypische Variation ermöglichen. Das sind nach Kirschner/Gerhart:
Die Depression verkehrt alle Aspekte der Manie ins Gegenteil und zwingt den Betroffenen zu [[Apathie]] und Lustlosigkeit. Bei dieser Erkrankungsphase höchsten Leidens erscheint sehr oft der Tod als besserer Zustand. Auch beschämen dann oft Taten aus der manischen Phase. Eine Depression wird als viel schlimmer empfunden als eine ''depressive Stimmung'', die auch viele gesunde Menschen gelegentlich erleben. Depressive Episoden kommen im fortgeschrittenen Alter häufiger vor.


* explorative Prozesse,
== Verlaufsformen ==
* schwache regulatorische Kopplungen und
Manische oder depressive Episoden treten häufig, aber nicht ausschließlich, nach einem belastenden Lebensereignis auf. Das erstmalige Auftreten der Störung kann in jedem Alter geschehen. Die ersten Symptome treten jedoch meist zwischen 15 und 30 Jahren auf. Die Betroffenen durchleben in den ersten 10 Jahren meist vier verschiedene Phasen. Häufigkeit und Dauer der einzelnen Phasen sind sehr unterschiedlich. Generell lässt sich jedoch sagen, dass manische Phasen in der Regel etwas kürzer dauern als depressive Episoden, dass die Intervalle zwischen den Phasen im Laufe der Zeit kürzer werden und dass mit zunehmendem Lebensalter häufiger depressive Phasen auftreten und diese länger andauern. Nach einigen Phasen der Störung können sich innere Rhythmen ausbilden, die auch unabhängig von äußeren Ereignissen wirken. Mitunter, wenn nach der ersten oder den ersten Episoden keine weiteren mehr auftreten, sie also nicht schnell genug erkannt und adäquat behandelt werden, tritt die bipolare Störung dann bei vielen als eine lebenslange, chronische Störung in Erscheinung.
* Kompartimentbildung beim Embryo.


'''Exploratives Verhalten'''
Es gibt eine Rückkoppelung zwischen den Erlebnissen und dem Handeln einer Person auf der einen Seite und seiner Biochemie und Symptomatik auf der anderen Seite. Mangelnde Einsicht (in den manischen Phasen) ist ein Symptom der Störung, ohne dieses Element wäre das selbstschädigende Verhalten nicht möglich. Je mehr Zeit vergeht, bevor Einsicht erlangt wird, desto stärker werden Hirnstrukturen geprägt, was die [[Prognose#Medizin.2C_Zahnmedizin_und_Veterin.C3.A4rmedizin|Prognose]] negativ beeinflusst. Hinzu kommt der Einfluss von störungsbedingten Entscheidungen (Probleme am Arbeitsplatz und in Beziehungen, Schulden) auf die Lebensoptionen.


Die differenzierte Ausbildung etwa von [[Sehne (Anatomie)|Sehnen]], [[Muskel]]n, [[Nerv]]en und [[Blutgefäß]]en während der Entwicklung wird nicht im Detail vom Genom vorgegeben. Ihre Entstehungsweise kann als ''explorativ'' bezeichnet werden. Dabei zeigen Zellen je nach ihrer zellularen Umgebung alternative Reaktionen. So können Zellen „verzweigte Strukturen“<ref name="GIE-2010">Hans Meinhardt: ''Die Simulation der Embryonalentwicklung.'' In: ''Spektrum der Wissenschaft.'' 03/2010.</ref> schaffen, die den gewünschten [[Gewebe (Biologie)|Geweberaum]] optimal ausfüllen<ref name="KiGe-264">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 264.</ref> (z.&nbsp;B. Blutgefäß, [[Nervensystem]]) (Abb. 2). Explorative Strukturen sind im Verlauf der Entwicklung hochgradig anpassungsfähig.
Gemäß den neuesten Studien erreichen bis zu 40 % nach Phasen von Manie oder Depression ihr ursprüngliches Funktionsniveau nicht mehr. 40 % der Betroffenen haben einen günstigen psychosozialen Verlauf bzw. können ihr soziales Umfeld bzw. ihre Position in der Gesellschaft erhalten. Im Fall bleibender Symptome wie [[Konzentrationsstörung|Konzentrationsschwäche]] oder [[Müdigkeit]] spricht man von residualen Symptomen.
Dauert die Störung länger mit mehreren längeren Klinikaufenthalten, besteht die Gefahr, dass der betroffenen Person vielfach der soziale Halt verloren geht, oft auch der Arbeitsplatz. Mitunter zerbricht die Familie.


[[Datei:Mouse cingulate cortex neurons.jpg|mini|Abb. 2 Exploratives Verhalten: Das Nervensystem (hier Maus-Cortex) ist nicht im Detail im Genom abgelegt. Axone und Dendriten „suchen und finden“ sich in der Entwicklung.]]
=== Bipolar I – Bipolar II ===
Die bipolaren Störungen werden unterteilt in ''Bipolar I'' und ''Bipolar II''.


'''Schwache regulatorische Kopplungen zwischen Zellen'''
[[Datei:Bipolar1 entwurf.png|miniatur|links|hochkant=1.5|''Bipolar-I-Störung''.
Die x-Achse ist die Zeit-Achse. Die oszillierenden Schwankungen stehen für die Ausschläge von Antrieb, Aktivität und Stimmung in Richtung der extremen Pole Manie bzw. Depression.]]


Die für evolutionäre Variation notwendigen Neukombinationen der Kernprozesse sind durch Zellkommunikation vermittelt. Die Autoren sprechen hier von ''schwachen regulatorischen Kopplungen''. „Schwach“, weil das Zellsignal die Entwicklung nicht im Detail steuert, sondern nur einschaltet, also eine nur schwache Beziehung zu den Spezifika des Outputs im Zielbereich hat. In der Regel bestimmt der Signalstoff an der Zieladresse das „An“ oder „Aus“ für die Expression eines dort vorhandenen Gens, dieser kann in derselben Zelle oder in einer anderen Zelle sein. Was dann jedoch genau geschieht, ist durch die eigene Regulation im Zielbereich festgelegt. Der zelluläre Mechanismus im Zielbereich ist schon früher entwickelt worden und braucht für die spezifische Reaktion nur aktiviert werden.<ref name="KiGe-302">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 302.</ref> Ein Beispiel für schwache regulatorische Kopplungen sind etwa der durch Zellen mehrstufig gesteuerte Prozess der Insulinabgabe des Organismus nach Glucosezufuhr sowie viele andere Stoffwechselprozesse.
Als ''Bipolar I'' wird eine 7 bis 14 Tage oder seltener auch länger andauernde ''manische Episode'' (Hochphase) bezeichnet, gefolgt von mindestens einer depressiven Episode. Die Bipolar-I-Störung kommt bei etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung vor. Frauen und Männer sind gleich häufig betroffen.


'''Kompartimentierung'''
''Bipolar II'' beinhaltet eine mindestens 14 Tage andauernde ''depressive Episode'', gefolgt von mindestens einer ''[[Hypomanie]]'' (leichtere Form der Manie). Die Bipolar-II-Störung kommt bei rund vier Prozent der Bevölkerung vor. ''Bipolar-II''-Störungen können mit ''[[rezidiv]]ierenden depressiven Störungen'' (Depressionen, die nach einem Zwischenzustand des Normalen immer wieder auftreten) verwechselt werden, wenn die hypomanen Phasen nicht erkannt werden.


Erst im Verlauf der Entwicklung kommt es zur Ausbildung differenzierter Zellen für spezifische Gewebetypen (Haut, Muskel, Nerven, Organe etc.). Es gibt also Regionen des Embryos, in denen in einer ganz bestimmten Phase der Entwicklung ein oder wenige ganz bestimmte Gene der Zellen exprimiert und bestimmte Signalproteine produziert werden.<ref name="KiGe-382-b">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 382.</ref> Die Fähigkeit, unterschiedlich konservierte Kernprozesse an unterschiedlichen Orten im Organismus zu aktivieren und diese Reaktionsräume eigentlich erst zu schaffen, nennen sie ''Kompartimentierung''. Ein [[Insekten#Fortpflanzung und Entwicklung|Insektenembryo]] bildet in der mittleren Phase der Entwicklung ca. 200 Kompartimente aus. Kompartimentkarten dienen als Gerüst für Anordnung und Bau komplexer anatomischer Strukturen von Lebewesen. Jeder Tierstamm hat seine typische Karte.<ref name="KiGe-382-b" /> Die Ausprägung dieser Kompartimente ist die eigentliche Aufgabe der hox-Gene.
=== Switching – Zyklothymia ===
[[Datei:Bipolar2 entwurf.png|miniatur|hochkant=1.5|''Bipolar-II-Störung'']]
''Switching'' (Polaritätswechsel) wird der übergangslose Wechsel zwischen Manie (oder Hypomanie) und Depression genannt.


Die Organismen, d.&nbsp;h. der Phänotyp, spielen demnach eine Hauptrolle bei der Festlegung von Natur und Maß der Variation.<ref name="KiGe-328">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 328.</ref> Phänotypische Variation kann nicht beliebig sein. Vielmehr bedingt ''erleichterte Variation'' einen beeinflussten „vorsortierten“ Output phänotypischer Variation durch einen Organismus.<ref name="KiGe-333">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 333.</ref> Variation wird vorwiegend deshalb erleichtert, weil so viel Neuheit in dem verfügbar ist, was Organismen bereits besitzen.<ref name="KGe-369">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 369.</ref>
Bei einer ''[[Zyklothymia]]'' sind die Betroffenen mindestens zwei Jahre lang leichten manischen und depressiven Schwankungen ausgesetzt, die allerdings immer noch deutlich über den normalen Stimmungsschwankungen liegen. Nach [[ICD-10]] wird die Zyklothymia nicht zur bipolaren Störung gerechnet.


== Epigenetische Vererbung ==
=== Rapid Cycling ===
[[Datei:Entwicklung-27-06-10.jpg|mini|hochkant=1.8|Abb. 3 Das integrierte, evolutionäre Entwicklungssystem: Umwelt, natürliche Selektion, Genom und Entwicklung interagieren auf komplexe Weise zur Erzeugung phänotypischer Variation.]]
Von Rapid Cycling wird bei mindestens vier Stimmungsumschwüngen im Jahr gesprochen, Ultra Rapid Cycling beschreibt Stimmungsumschwünge innerhalb von wenigen Tagen und Ultradian Rapid Cycling (Ultra-Ultra Rapid Cycling) die Umschwünge innerhalb von wenigen Stunden. Patienten mit einem Rapid-Cycling-Verlauf werden häufig in einer Klinik behandelt. Sie benötigen eine spezielle Therapie, weil der häufige Episodenwechsel mit klassischen Medikamenten oftmals nicht ausreichend behandelbar ist und daher üblicherweise zu [[Phasenprophylaktikum|Stimmungsstabilisatoren]] gegriffen wird. Die Ursachen sind bis zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt. Das Selbsttötungs-Risiko ist bei ''Rapid Cycling'' hoch und die Prognose schlechter.
Dass es Möglichkeiten gibt, wie phänotypische Merkmale abseits der DNA mit der Abfolge ihrer Basenpaare von einer Generation zur nächsten vererbt werden können, ist erst seit den 1980er Jahren nach und nach klar geworden. Im Gegensatz zur Genetik werden diese Prozesse [[Epigenetik]] genannt. Die Vertreter der synthetischen Evolutionstheorie haben sich mit solchen Prozessen nur widerstrebend befasst, weil sie für sie einen „[[Lamarckismus|lamarckistischen]]“ Beiklang hatten, d.&nbsp;h. an die gerade überwundenen Vorstellungen von der Vererbung erworbener Eigenschaften erinnerten. Ausmaß und Rolle epigenetischer Vererbung sind aktive Forschungsfelder.<ref>Christina L. Richards, Oliver Bossdorf, Massimo Pigliucci: ''What role does heritable epigenetic variation play in phenotypic evolution?'' In: ''BioScience.'' 60(3), 2010, S. 232–237.</ref><ref>Ryan A. Rapp, Jonathan F. Wendel: [http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1469-8137.2005.01491.x/full ''Epigenetics and plant evolution.''] In: ''New Phytologist.'' 168, 2005, S. 81–91.</ref>
West-Eberhard hat in ihrem umfangreichen Werk über die phänotypische Evolution (2003) als eine der ersten zahlreiche Beispiele geliefert, die belegen, dass die Umwelt direkte Wirkung auf die Entwicklungsprozesse und auf diesem Weg auch auf die Evolution haben kann. Eine umfangreiche Theorie zur besonderen Rolle epigenetischen Vererbung stammt von Jablonka und Lamb.<ref>Eva Jablonka, Marion Lamb: ''Evolution in Four Dimensions: Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life.'' MIT, 2005.</ref>


Bekannte Mechanismen epigenetischer Vererbung<ref>E. Jablonka, G. Raz: ''Transgenerational epigenetic inheritance: Prevalence, mechanisms, and implications for the study of heredity and evolution.'' In: ''Quarterly Review of Biology.'' 84, 2009, S. 131–176.</ref> umfassen (Abb. 3):
=== Mischzustände (dysphorische Manien) ===
* [[DNA-Methylierung]]. Werden Basen des DNA-Strangs enzymatisch methyliert, werden sie quasi „stummgeschaltet“. Dadurch können einzelne Gene oder Teile des Genoms (z.&nbsp;B. das gesamte väterliche oder mütterliche Erbgut) von der Expression ausgenommen werden. Vererbung von Methylierungsmustern findet offensichtlich häufiger bei Pflanzen als bei Tieren statt (Pflanzen haben keine [[Keimbahn]]), spielt aber in beiden eine Rolle. Methylierungsmuster spielen sowohl bei der Steuerung der Entwicklung wie bei der Reaktion auf Stressfaktoren in der Umwelt<ref>E. J. Finnegan: ''Epialleles—a source of random variation in times of stress.'' In: ''Current Opinion in Plant Biology.'' 5, 2002, S. 101–106.</ref> eine große Rolle.
Wenn während einer bipolaren Episode depressive und manische Symptome in rascher Aufeinanderfolge auftreten, oder wenn sich depressive und manische Symptome durch gleichzeitiges Auftreten mischen, nennt man das einen manisch-depressiven Mischzustand oder eine gemischte Episode. Die betroffenen Patienten können z.&nbsp;B. sehr schnell denken oder sprechen, wie es für eine manische Episode typisch ist. Gleichzeitig können sie aber sehr ängstlich sein, Selbstmordgedanken haben und unter gedrückter Stimmung leiden; auch Ultra- und Ultradian Rapid Cycling lassen sich in diesen Episoden bei Patienten feststellen, die sonst nicht von dieser Art des Switchings betroffen sind. Mischzustände treten häufig in der postmanischen Phase auf und sind auch darin begründet, dass Betroffene in der manischen Phase nicht mehr fähig sind, richtig zu schlafen. Sie sind häufig und kommen mindestens so oft vor wie ''klassische'' Manien. Der erhöhte Antrieb kann verursachen, dass depressive Gedanken in die Tat umgesetzt werden, so dass das [[Suizid]]risiko in diesen Zuständen wesentlich höher ist als in der reinen Depression, in welcher der Antrieb gelähmt ist. Wie bei Rapid Cycling finden hier oft stimmungsstabilisierende [[Psychopharmaka]] Anwendung. Es handelt sich um schwere Episoden, die schwieriger zu behandeln sind als die klassischen Phasen der bipolaren Störung.
* Regulatorische RNA. Teile des Genoms codieren nicht für Proteine, sondern für (meist kurze) RNA-Sequenzen, die eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Genexpression haben können.
* [[Histon]]-Komplexe. Histone sind DNA-begleitende Proteine, die bei der Stützung und „Verpackung“ eine Rolle spielen. In einzelnen Fällen wurde nachgewiesen, dass verschiedene Modi von DNA-Histonkomplexen existieren können. Besonders „dicht“ verpackte DNA wird seltener transkribiert.
Einige Autoren wollen ein weites Feld weiterer, nicht durch DNA vererbter Faktoren, bis hin zu menschlicher Kultur, als epigenetische Faktoren mit behandelt wissen.


Wichtige mögliche Auswirkungen epigenetisch vererbter Prozesse umfassen:
=== Suizidrisiko ===
* Epigenetisch determinierte Merkmale sind labiler und variieren deutlich stärker. Durch epigenetische Varianten kann also die Reaktionsnorm einer Population auf [[Umweltstress]] erheblich erhöht sein. Möglicherweise liefert die epigenetische Variation ein zusätzliches Feld für kurzzeitige Variationsmöglichkeiten, das schneller reagieren kann als die Mutation der DNA.
An bipolaren Störungen Leidende haben generell ein um ein Vielfaches erhöhtes [[Suizid]]risiko. Durchschnittlich nahmen sich 15 bis 30 % das Leben. In manchen Gegenden – wie für Schottland nachgewiesen – ist die Suizidrate von Betroffenen 23 Mal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt, und in manchem Lebensabschnitt – beispielsweise im Zeitraum von zwei bis fünf Jahren nach der Erstmanifestation – ereignen sich besonders viele Suizide.<ref name="WaldenGrunze2">Jörg Walden, Heinz Grunze: ''Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung.'' Stuttgart/New York 2003, S. 11, ISBN 3-13-104993-6</ref><ref>[http://www.lichtblick-newsletter.de/anmv_tagung03b.html lichtblick-newsletter.de]</ref><ref>{{Webarchiv| url=http://de.brainexplorer.org/bipolar_disorder/Bipolar_Disorder_course.shtml| wayback=20120118231543| text=de.brainexplorer.org}}</ref>
* Epigenetisch gesteuerte Merkmalsausprägungen liefern einen Weg, über den sich die Merkmalsvariation innerhalb einer Population schnell und synchron in eine bestimmte Richtung verändern kann, wenn sich die Umweltbedingungen verändern.
* Es erscheint denkbar, dass innerhalb solcher epigenetisch geprägter Populationen eine Mutation auftritt, die den bisher modifikatorisch erzeugten Phänotyp als erbliche Variation fixiert. Dadurch können vorteilhafte Mutationen, die anfangs notwendigerweise sehr selten sind, einen entscheidenden Startvorteil erhalten und nicht ihr Auftreten als solches, aber ihre Fixierung in der Population stark gefördert werden. Dieser Vorgang wird als „[[genetische Assimilation]]“ bezeichnet<ref>M. J. West-Eberhard: ''Developmental Plasticity and Evolution.'' Oxford University Press, 2003.</ref> (vgl. dazu auch: [[Baldwin-Effekt]]).


Heute existieren bereits einige empirische Versuche, die eine genetische Assimilation bestätigen (Waddington 1953 mit Veränderung der Adern an Fliegenflügeln, Nihjout 2006 mit Farbvariation der [[Tabakschwärmer]]-Raupe). Durch die beschriebene Existenz von Umweltfaktoren können solche Konstruktionsänderungen zunächst angestoßen werden. Das System ist fähig zur [[Selbstorganisation]], um auf solche Einflüsse zu reagieren. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass der vorgeschlagene Mechanismus bisher noch weitgehend spekulativ ist.
Besonders riskant sind Depressionen, bei denen die Lähmung des Antriebs noch nicht vorhanden oder bereits wieder etwas verbessert ist, so dass die Selbsttötung umgesetzt werden kann. Auch gemischte Phasen (Mischzustände), bei denen in quälender Weise manische und depressive Symptome zugleich auftreten, bergen infolge der dysphorischen bzw. verzweifelten Stimmung und des enorm hohen Antriebsniveaus ein Selbsttötungsrisiko. Ein weiterer Grund kann sich auch bei klarer Überlegung zwischen den Phasen halten: Menschen, die unter bipolaren Störungen mit ungünstiger Prognose und vielen bereits durchlebten Phasen leiden, wissen, dass wieder und wieder Depressionen kommen werden und wie qualvoll diese sind.


== Entwicklung erzeugt phänotypische Innovation ==
=== Psychoaktive Substanzen ===
{{Hauptartikel|Innovation (Evolution)}}
Neben Stress und Schlafmangel wirken sich auch [[Psychotrope Substanz|psychoaktive Substanzen]] wie [[Koffein]], [[alkoholisches Getränk|Alkohol]], [[Tabakrauch]] und andere [[Droge]]n bei bipolaren affektiven Störungen ungünstig aus. Oftmals sind zudem Wechselwirkungen mit den verordneten Medikamenten zu erwarten, weswegen ein vollständiger Verzicht darauf meist von Vorteil sein kann.
* Koffein wirkt sich ungünstig auf die Schlafdauer aus und fördert Nervosität und Unruhe; Betroffene können in besonderer Weise dafür anfällig sein und könnten eine Manie dadurch auslösen.
* Alkohol wirkt sich –&nbsp;neben der Gefahr einer Abhängigkeit&nbsp;– entgegen populären Ansichten negativ auf Schlaftiefe und Schlafdauer aus und wirkt enthemmend, was einer antimanischen Prophylaxe entgegensteht. Auf der anderen Seite verstärkt Alkohol Depressivität.
* [[Cannabis als Rauschmittel|Cannabis]] wird von einigen Betroffenen als Eigenmedikation angewandt. Trotz der möglichen positiven Wirkungen sollte nicht vergessen werden, dass gerade Zurückgezogenheit und Trägheit als depressive Merkmale sowie Verfolgungswahn ([[Paranoia]]) als manisches Merkmal durch Cannabis um ein Vielfaches gesteigert werden können, was der Genesung wiederum entgegenwirkt.
* [[Kokain]] steht ebenfalls im Verdacht, Manien auszulösen, und in der Tat gibt es Verhaltensähnlichkeiten zwischen einem Maniker und einer Person, die Kokain als Rauschdroge missbraucht.
* [[Amphetamin]] (Speed) kann in seinem Wirkungsverlauf sowohl manische Symptome auf dem Höhepunkt des Rausches als auch depressive Muster beim Nachlassen der Euphorie auslösen. Amphetamine verursachen oder verstärken Stimmungsschwankungen, wobei u.&nbsp;a. Ruhelosigkeit, Schlafmangel und eintretende Unsicherheit die wohl langfristigsten Auswirkungen auf die Psyche haben können.


[[Datei:Tipula flavolineata male British-Insecs.png|mini|Abb. 4 Der Insektenflügel ist eine evolutionäre phänotypische Innovation (s. [[Flügel (Insekt)]]).]]
== Ursachen ==
Nach der klassischen synthetischen Evolutionstheorie sind phänotypische Innovationen, also völlig neue Strukturen im Körperbauplan, nicht prinzipiell von Variationen unterscheidbar. Wichtigster Mechanismus zur Erzeugung völlig neuer Strukturen ist danach die Funktionsänderung ursprünglich für einen anderen Zweck adaptiv entstandener Strukturen (sog. [[Präadaption]]en, auch: Exaptationen), z.&nbsp;B. der ursprünglich als Isolation entstandenen Feder für den Flügel der Vögel.  
Die Entstehung einer bipolaren Störung ist höchstwahrscheinlich multifaktoriell bedingt ([[Vulnerabilität]]). Sowohl genetische Faktoren als auch psychosoziale Auslöser dürften eine Rolle spielen, das heißt, das Erbgut setzt einen Rahmen für die Wahrscheinlichkeit ([[Disposition (Medizin)|Prädisposition]]), und die Umfeldfaktoren beeinflussen Entstehung, Verlauf und Ende der Störung.


Einige Vertreter der evolutionären Entwicklungsbiologie halten zur Entstehung von Innovationen andere, zusätzliche Mechanismen für erforderlich.<ref name="PM 2010-9">M. Pigliucci, G. Müller: ''Evolution – the Extended Synthesis.'' 2010 u. dort: G.Müller Kap.12 Epigenetic Innovation S. 311.</ref><ref name="PIG 2009">Massimo Pigliucci: ''What, if anything, Is an Evolutionary Novelty?'' In: ''Philosophy of Science.'' 75, Dez 2008, S. 887–898.</ref>  
=== Erblichkeit und Genetik ===
Aufgrund von [[Zwillingsstudie]]n wurde die Erblichkeit eines erhöhten Risikos von BAS auf über 80 % geschätzt.<ref name="PMID23663951">N. Craddock, P. Sklar: ''Genetics of bipolar disorder.'' In: ''Lancet.'' Band 381, Nummer 9878, Mai 2013, S.&nbsp;1654–1662, {{DOI|10.1016/S0140-6736(13)60855-7}}, PMID 23663951 (Review).</ref> Ob allerdings – und unter welchen Bedingungen – erbliche Risikofaktoren tatsächlich zu einer Erkrankung führen, ist eine äußerst komplexe und bislang weitgehend ungeklärte Frage.


Müller definiert drei Typen von Innovationen.<ref name="MN-2005">Gerd B. Müller, Stuart A. Newman: ''The Innovation Triad. An Evo-Devo Agenda.'' In: ''Journal of Experimental Zoology.'' Band 304B, 2005, S. 487–503.</ref> Aus der Sicht von Evo-Devo ist besonders Novelty Typ-2 von Bedeutung: ''Eine phänotypische Innovation ist ein neues Konstruktionselement in einem Bauplan, das weder eine [[Homologie (Biologie)|homologe]] Entsprechung in der Vorgängerart noch im selben Organismus hat'' (Abb. 4 und 5). Es werden drei Phasen im Entstehen solcher evolutionärer Innovation unterschieden:<ref name="MN-2005" /><ref name="PM 2010-10">M. Pigliucci, G. Müller: ''Evolution – the Extended Synthesis.'' 2010 u. dort: G. Müller Kap. 12: ''Epigenetic Innovation.'' S. 314 ff.</ref> Initiierung (meist durch veränderte Umweltbedingungen), Realisierung (durch die Steuerung im Entwicklungsprozess ermöglichte Umstellungen im Körperbauplan) und Akkommodation.
Eine Übersicht von 2015 legte dar, dass bis dato eine große Zahl von genetischen Veränderungen identifiziert werden konnte, die jedoch – jede für sich allein – nur ein geringfügig erhöhtes Risiko für die Entwicklung von BAS bedeuteten. Durchgängiges Thema sei dabei, dass nur mehrere gemeinsame Veränderungen ([[Polygenie]]) zu einem Ausbruch der Krankheit führen könnten.<ref name="PMID25544106">B. M. Neale, P. Sklar: ''Genetic analysis of schizophrenia and bipolar disorder reveals polygenicity but also suggests new directions for molecular interrogation.'' In: ''Current opinion in neurobiology.'' Band 30, Februar 2015, S.&nbsp;131–138, {{DOI|10.1016/j.conb.2014.12.001}}, PMID 25544106 (Review).</ref>


Innerhalb der Theorie nimmt man an, dass neue phänotypische Elemente zunächst epigenetisch fixiert und anschließend ''assimiliert'' werden. „Das Innovationsmerkmal muss in das bereits bestehende Konstruktions-, Entwicklungs- und Genom-System akkommodiert werden, um Funktionalität und Vererbung sicherzustellen“.<ref name="MN-2005-91">Gerd B. Müller, Stuart A. Newman: ''The Innovation Triad. An Evo-Devo Agenda.'' 2005, S. 494.</ref> Dabei „scheint es die Regel zu sein, dass die epigenetische Integration der genetischen Integration vorausgeht“<ref name="MN-2005-91" /> oder wie West-Eberhard es ausdrückt: „Genes are followers in Evolution“.<ref name="WE-2003-64">M. J. West-Eberhard: ''Development Plasticity and Evolution.'' Oxford University Press, 2003, S. 157.</ref> „Die genetische Integration stabilisiert und überdeterminiert den generativen Prozess (Innovationsprozess) und resultiert in einem immer engeren Mapping zwischen Genotyp und Phänotyp“.<ref name="MN-2005-91">Gerd B. Müller, Stuart A. Newman: ''The Innovation Triad. An Evo-Devo Agenda.'' 2005, S. 494.</ref>
Die Vorläufigkeit des gegenwärtigen (2015) Kenntnisstands wird unter anderem dadurch deutlich, dass die bisher gefundenen genetischen Abweichungen – trotz ihrer großen Anzahl – nur einen kleinen Prozentsatz der in Verwandtschaftsstudien festgestellten Erblichkeit erklären können. Des Weiteren sind die identifizierten genetischen Veränderungen nicht spezifisch für BAS, sondern beinhalten auch erhöhte Risiken für andere Krankheiten. Überdies sind ihre genauen funktionellen Folgen im Organismus noch weitgehend unklar. Daher sind die Voraussetzungen für sinnvolle genetische Tests an Patienten- oder Risikogruppen bislang noch in keiner Weise gegeben.<ref name="PMID24683306">B. Kerner: ''Genetics of bipolar disorder.'' In: ''The application of clinical genetics.'' Band 7, 2014, S.&nbsp;33–42, {{DOI|10.2147/TACG.S39297}}, PMID 24683306, {{PMC|3966627}} (Review).</ref>


Kleine Ursachen (sowohl Umwelt wie Mutation) können phänotypisch starke Veränderung zur Folge haben. Für solche nicht-graduelle, diskontinuierliche Reaktionen sind die selbstorganisatorischen Eigenschaften des Entwicklungssystems verantwortlich. Ein Beispiel für eine spontane Konstruktion des Entwicklungssystems ist eine Hand mit sechs Fingern ([[Polydaktylie]]) (Abb. 5).<ref name="PM 2010-8">M. Pigliucci, G. Müller: ''Evolution – the Extended Synthesis.'' u. dort G. Müller Kap. 12: ''Epigenetic Innovation.'' 2010, S. 320 f.</ref> [[Datei:Polydactyly 01 Lhand AP.jpg|mini|Abb. 5 Sechs Finger (Postaxiale Polydaktylie): Knochen, Muskeln, Blutgefäße und Größe des zusätzlichen Fingers können durch die Entwicklung vollständig in die Anatomie der Hand integriert sein.]] Das Beispiel belegt, dass die embryonale Entwicklung in der Lage ist, solche phänotypische Variation zu erzeugen und dass sechs Finger an einer Hand oder an beiden Händen eine mögliche evolutionäre Variation darstellen könnten. Die Entwicklung kann hierbei ein vollständig integriertes Merkmal erzeugen: Nerven, Muskeln, Gelenk, Skelett des Fingers und seine Größe sind vollständig funktionsfähig in die Anatomie der Hand integriert.
Gleichwohl liegen vielversprechende Ergebnisse etwa bezüglich der [[Signaltransduktion]] durch [[Calcium]]ionen (Ca<sup>2+</sup>) in [[Nervenzelle]]n vor, und es zeichnet sich ab, dass die erblichen Veränderungen in hohem Maße Regulation und Ausprägung ([[Genexpression|Expression]]) von Genen betreffen.<ref name="PMID26210959">P. J. Harrison: ''Molecular neurobiological clues to the pathogenesis of bipolar disorder.'' In: ''Current opinion in neurobiology.'' [elektronische Veröffentlichung vor dem Druck] Juli 2015, {{DOI|10.1016/j.conb.2015.07.002}}, PMID 26210959 (freier Volltext) (Review).</ref>


== Verhältnis von genetischer und epigenetischer Dimension ==
[[Datei:DTI-sagittal-fibers.jpg|mini|Die DT-MRI ([[Diffusions-Tensor-Bildgebung|Diffusion-Tensor-Magnetic Resonance Imaging]]) ermöglicht eine Rekonstruktion von Nervenbahnen (weiße Substanz) im Gehirn (Traktografie).]]
Aufbauend auf fortschreitenden (vergleichenden) Genomsequenzierungen untersucht die evolutionäre Entwicklungsbiologie auch die umfangreichen Genregulationen während der Entwicklung.  


[[Sean B. Carroll]]<ref name="CAR 2008-2">Sean B Carroll: ''Evo-Devo – Das neue Bild der Evolution.'' Berlin 2008. (Orig.: ''Endless Forms Most Beautiful.'' USA 2006)</ref> oder [[Wallace Arthur]],<ref name="ART 2004">Wallace Arthur: ''Biased Embryos and Evolution.'' Cambridge University Press, 2004.</ref> aber auch [[Paul Layer]]<ref name="LAY-3">Paul G Layer: ''EvoDevo: Die molokulare Entwicklungsbiologie als Schlüssel zum Verständnis der Evolutionstheorie.'' 2009, S. 324f.</ref> sehen entsprechend die Genregulationsprozesse mit wechselnden Kombinationen von Genschaltern als vorherrschende Einflussfaktoren auf die Entwicklung des Organismus sowie auf sein Veränderungspotenzial. Nach dieser Sicht sind Mutationen im regulatorischen Genom wesentlicher für die organismische Evolution als Mutation von Strukturgenen.  
=== Neuroimaging ===
Eine Übersichtsstudie von 2014 fasste die Ergebnisse [[Neuroimaging|bildgebender Verfahren des Gehirns]] folgendermaßen zusammen. Es gebe bei BAS „klare Abweichungen“ in den [[Neuronales Netz|neuronalen Netzen]], die an der Verarbeitung von Gefühlen, der Regulierung von [[Emotion]]en und am [[Mesolimbisches System|Belohnungssystem]] beteiligt sind.


Andere Forscher wie [[Marc Kirschner]], [[Gerd B. Müller]], [[Massimo Pigliucci]] oder [[Mary Jane West-Eberhard]] gehen weiter und betrachten den gesamten Entwicklungsapparat als komplexes System, das auf den verschiedenen genetischen und epigenetischen Ebenen (DNA, Zellkern, Zellen, Proteine, Zellkommunikation, Zellaggregate, Organismus, Umwelt) auf komplexe Weise mit den vorgestellten Mechanismen agieren und reagieren kann.<ref>Komplex meint hier im Sinn der [[Komplexes System|Komplexitätsforschung]]: interdependent (Genom – Entwicklung – Evolution – Umwelt), multikausal, nicht-linear, offen usw. ([[Systemtheorie]])</ref>
Die funktionalen Abweichungen wurden folgenden [[Anatomie|anatomischen]] Veränderungen zugeordnet: vermindertes Volumen der [[Graue Substanz|grauen Substanz]] im [[Präfrontaler Cortex|präfrontalen]] und [[Temporallappen|temporalen]] Cortex, im [[Hippocampus]] (Gedächtnisfunktionen) und in der [[Amygdala]] (Gefühlsreaktionen) sowie Verminderung in Volumen und Funktion der [[Weiße Substanz|weißen Substanz]], die präfrontale und [[subkortikal]]e (wie Amygdala und Hippocampus) Regionen miteinander verbindet.<ref name="PMID24626773">M. L. Phillips, H. A. Swartz: ''A critical appraisal of neuroimaging studies of bipolar disorder: toward a new conceptualization of underlying neural circuitry and a road map for future research.'' In: ''The American journal of psychiatry.'' Band 171, Nummer 8, August 2014, S.&nbsp;829–843, {{DOI|10.1176/appi.ajp.2014.13081008}}, PMID 24626773, {{PMC|4119497}} (Review).</ref>


== Gerichtete Variation phänotypischer Merkmale ==
Eine weitere Übersichtsstudie von 2014 stellte fest, dass die Abweichungen bei der weißen Substanz auch bei Heranwachsenden mit BAS oder mit BAS-Risiko beobachtet wurden. Daraus ergebe sich möglicherweise die Perspektive, zukünftig diese Veränderung bei der [[Früherkennung von Krankheiten|Früherkennung]] und Vorbeugung ([[Krankheitsprävention|Prävention]]) von BAS zu nutzen.<ref name="PMID26237259">S. M. de Zwarte, J. A. Johnston, E. T. Cox Lippard, H. P. Blumberg: ''Frontotemporal White Matter in Adolescents with, and at-Risk for, Bipolar Disorder.'' In: ''Journal of clinical medicine.'' Band 3, Nummer 1, 2014, S.&nbsp;233–254, {{DOI|10.3390/jcm3010233}}, PMID 26237259, {{PMC|4449671}} (Review).</ref>
Gerichtete Entwicklung beschreibt, wie die Richtung des evolutionären Wandels durch die nicht zufällige Struktur der Variation beeinflusst wird.<ref>Ronald A. Jenner: ''Evo-devo´s identity: from model Organismus to developmental types.'' In: Alessandro Minelli, Giuseppe Fusco: ''Evolving Pathways.'' Cambridge University Press, 2008, S. 108.</ref> Es gibt zahlreiche Beispiele für gerichtete Variation. So zeigt etwa eine Gruppe von [[Tausendfüßer]]n mit mehr als 1000 Arten ausschließlich ungerade Zahlen von Beinpaaren. Die Tatsache, dass bei diesen Tieren keine gerade Zahl von Beinpaaren zustande kommt, liegt im Mechanismus der Segmentierung während der Embryonalentwicklung begründet, der das nicht zulässt.<ref>W. Arthur: ''Biased Embryos and Evolution.'' Cambridge Univ. Press, 2004.</ref> [[Skinke]], eine artenreiche Echsenfamilie, kommen in sehr unterschiedlichen Größen vor. Sie haben sehr kurze bis gar keine Extremitäten. Die Zehenreduktion bei zunehmender Körpergröße unterschiedlicher Arten vollzieht sich dabei in exakt umgekehrter Reihenfolge wie die Entstehung der Zehen in der Embryonalentwicklung. Der Zeh, der embryonal jeweils zuerst entwickelt wird, verschwindet bei evolutionärer Zehenreduktion auch als erster; der der zuletzt entwickelt wird als letzter. Das ist ein Belegbeispiel für eine nicht zufällig, gerichtete Variation.<ref>A. E. Greer: ''Limb reduction in the Scincid lizard genus Lerista 2. Variation in the bone complements  of the front an rear limb and the number of postsacral vertebrale.'' In: ''Journal of Herpetology.'' 24, 1990, S. 142–150.</ref>


[[Datei:Fig 5 29-11-2013-vereinfacht-deutsch.jpg|mini|links|Abb. 6 Präaxiale Polydaktylie, Hemingway-Mutant: Häufigkeit polydaktyler Zehenzahlen pro Individuum]]
=== Neurochemie ===
Störungen der [[Neurochemie|neurochemischen]] Signalübertragung betreffen in der Hauptsache vier der wichtigsten [[Neurotransmitter]]: die drei [[Monoamine]] [[Noradrenalin]], [[Dopamin]] und [[Serotonin]] sowie in besonderem Maße [[Glutaminsäure|Glutamat]].


Bei der [[Polydaktylie|Polydakylieform]] des Hemingway-Mutanten bei der [[Maine Coon]] Katze liegen variable zusätzliche Zehenzahlen vor. Die Variation ist [[Phänotyp#Phänotypische Plastizität|plastisch]]. Laut einer aktuellen Studie der polydaktylen Zehenzahlen von 375 Hemingway-Mutanten liegt eine gerichtete Entwicklungs-Variation in dem Sinne vor, dass die Anzahl zusätzlicher Zehen einer diskontinuierlichen statistischen Verteilung folgt und nicht zufällig gleichverteilt ist, wie bei der identischen Punktmutationen zu erwarten wäre. Die Gerichtetheit ist kein Ergebnis der natürlichen Selektion, da die Phänotypen bei der Geburt betrachtet werden, und die natürliche Selektion zu diesem Zeitpunkt noch keinen Angriffspunkt hat. Eine derartige Gerichtetheit der embryonalen Entwicklung ist der synthetischen Evolutionstheorie fremd. Allenfalls kann dort die natürliche Selektion eine Gerichtetheit herbeiführen.
Zusätzliche Abweichungen innerhalb der Nervenzellen bei den sekundären Botenstoffen ([[Second Messenger]]s) spielen eine entscheidende Rolle und sind notwendige Bestandteile der Theorien zu Entstehung und Verlauf bei BAS.


Die Variation ist ein [[Polyphänismus]]. Beim Hemingway-Mutanten der Maine Coon (Wildtyp: 18 Zehen) tritt Polydaktylie in einigen Fällen mit 18 Zehen durch Verlängerung des ersten Zehs zu einem dreigelenkigen Daumen auf; wesentlich häufiger jedoch finden sich 20 Zehen und abnehmend häufig 22, 24 oder 26 Zehen (Abb. 6), seltener auch ungerade Zehenkombinationen an den Füßen. Die Gerichtetheit der Zehenzahlen ist das Ergebnis von Entwicklungsmechanismen für die Ausbildung der Zehen. Während die zugrundeliegende genetische Mutation selbst zufällig sein kann, ist das phänotypische Ergebnis, also die statistische Zahl der Zehen nicht zufällig, sondern gerichtet (s. Abb. 6).<ref name="Lange">Axel Lange, Hans L. Nemeschkal, Gerd B. Müller: ''Biased polyphenism in polydactylous cats carrying a single point mutation: The Hemingway Model for digit novelty.'' In: ''Evolutionary Biology.'' Dez 2013.</ref> Eine weitere Gerichtetheit liegt in der Differenz der Zehenzahlen an Vorder- und Hinterfüßen vor. Auch eine leichte Links-rechts-Asymmetrie der Zehenzahl kann beobachtet werden.<ref name="Lange" />
Während die Kenntnisse zu Störungen bei den Neurotransmittersystemen bereits therapeutisch genutzt werden, bestehen gegenwärtig (Stand 2015) noch keine konkreten Aussichten, auch die wesentlich wichtigeren Abweichungen innerhalb der Nervenzellen therapeutisch zu beeinflussen.<ref name="PMID23998912">R. Machado-Vieira, M. G. Soeiro-De-Souza, E. M. Richards, A. L. Teixeira, C. A. Zarate: ''Multiple levels of impaired neural plasticity and cellular resilience in bipolar disorder: developing treatments using an integrated translational approach.'' In: ''The world journal of biological psychiatry : the official journal of the World Federation of Societies of Biological Psychiatry.'' Band 15, Nummer 2, Februar 2014, S.&nbsp;84–95, {{DOI|10.3109/15622975.2013.830775}}, PMID 23998912, {{PMC|4180367}} (Review).</ref>


== Methoden der empirischen Forschung ==
=== Psychosoziale Faktoren ===
[[Datei:MicroCT Mouse embryo.theora.ogv|mini|links|Abb. 7 (Video): Maus Embryo (microCT) Theiler stage 21, stained with iodine (IKI)]]
Neben [[Genetik|genetischen]] spielen unterschiedliche Faktoren aus der Umwelt eine große Rolle, die in der Lebensgeschichte wirken, wie [[Trauma (Psychologie)|traumatische]] Ereignisse (Trennungen, [[Mobbing]], Verlust des Arbeitsplatzes, [[Vertreibung]] und Verfolgung, [[Folter]], [[sexueller Missbrauch]]/Vergewaltigung und körperliche [[Misshandlung]] im Kindes- und Jugendalter sowie der Verlust eines geliebten Angehörigen). Ebenso verheerend wirken sich sonstiger Stress wie auch angstauslösende Veränderungen aus (so kann z.&nbsp;B. ein Wohnungswechsel Phasen auslösen), vor allem psychosozialer Stress, Konflikte in der Partnerschaft, in Familie und Beruf.
Die evolutionäre Entwicklungsbiologie bedient sich in der empirischen Forschung entwicklungsbiologischer und molekularbiologischer Labormethoden, um Faktoren und Steuerungsmechanismen für die Ausbildung und den evolutionären Wandel von Geweben, Organen und morphologischen Strukturen zu erkennen. Das Auftreten solcher Veränderungen wird im Verlauf der Stammesgeschichte der Organismen rekonstruiert.


Zunächst standen experimentelle Transplantationsversuchen an Embryonen im Mittelpunkt. Grafts wurden beispielsweise an den Wirbeltier-Extremitäten entfernt und an anderen Stellen wieder eingepflanzt. In jüngerer Zeit wird molekularbiologisch mit [[In-situ-Hybridisierung]] und vor allem mit [[Gen-Knockout]] operiert. Durch das Abschalten von Genen kann man auf deren Funktion bei der Entwicklung schließen. Man spricht auch von ''gain of function'' bzw. ''loss of function'' Experimenten. Einen wichtigen Beitrag für Evo-Devo haben bildgebende microCT-Verfahren (Abb. 7), Computertomografie im Mikro- und Nanometerbereich.<ref name="ANM-1">Anm.: Die besten Geräte haben nach Metscher (Metscher 2009) heute eine Auflösung von 60 Nanometer. 1 nm = 1 Milliardstel m bzw. 1 Millionstel mm (z.Vgl.: Eine menschliche Zelle hat im Durchschnitt eine Größe von 10 bis 20 Mikrometer, das ist um die Größenordnung 1000 größer.)</ref> Mit Kontrastmitteln lassen sich Genaktivitäten sichtbar machen, so dass der Beitrag eines Gens oder mehrerer beim raum-zeitlichen Entwicklungsvorgang beobachtbar wird.<ref name="TOM-2002">Pavel Tomancak u. a.: ''Patterns of gene expression in animal development.'' (Kurzfassung des Artikels: ''Global analysis of patterns of gene expression during Drosophila embryogenesis.'' In: ''Genome Biol.'' 8, 2007, no 145.1–145.34.</ref> Benötigt wird neben der Genexpressionsebene die „kalibrierte, dreidimensionale Darstellung anatomischer Strukturen in deren natürlichem Aussehen und räumlichen Beziehungen, so nahe am natürlichen Zustand wie für präparierte Specimen nur irgend möglich“ (Metscher).<ref name="MET-2009">Brian Metscher: ''MicroCT for comparative morphology: simple staining methods allow high contrast 3D imaging of diverse non-mineralized animal tissues.'' 2009. [http://www.biomedcentral.com/1472-6793/9/11 (online)]</ref>
=== Sozialisierungsfaktoren ===
Diskutiert wird auch eine Schwächung des [[Selbstwert]]gefühls, bei der eine tragende Säule des gesunden Zustandes wegfällt ([[Stavros Mentzos]]). Eine große Rolle bei auslösenden Faktoren spielt ein unregelmäßiger Tag-/Nacht-Rhythmus z.&nbsp;B. durch Schichtarbeit oder ein einschneidender Lebenswandel, Schlafmangel, Überarbeitung, Alkohol- und sonstiger Drogenmissbrauch. Schließlich können jegliche Veränderungen phasenauslösend wirken.  


Einen umfassenden Anspruch zur Kartierung des kompletten Embryonalverlaufs von Drosophila mit bildgebenden Verfahren hat das Projekt BDTNP (Berkeley Drosophila Transcription Network Project). Ziel ist dabei, vollständige Genexpressionsatlanten zu erstellen. Erzeugt wird ein Datensatz von 75.000 Bildern je Embryo mit sichtbar gemachten Aktivitäten von ca. 50 % der Gene. Das „repräsentiert eine solide Beobachtungsgrundlage für die Analyse der Beziehung zwischen Gensequenz, gewebespezifischer Genexpression und Entwicklung in der Tierwelt“ (Tomancak).<ref name="TOM-2002" /> Der komplette Atlas enthält die Daten aller Transkriptionsprodukte des Drosophila-Genoms in allen Phasen der Entwicklung. Das führt in Zukunft zur „automatisierten Erstellung und Speicherung der Expressionsmuster lebender Arten in vier Dimensionen“.<ref name="TOM-2002" /> Das Projekt BDTNP zeigt beim heutigen Stand im Internet mit Videostreams die computergestützte statistische Auswertung spezifischer Genexpressionen hunderter von Embryonalvergleichen von Drosophila (''virtuelle Embryonen''). Der Vergleich der Prozesse dient der Erzeugung statistischer Wahrscheinlichkeiten für das Entstehen phänotypischer Bandbreiten bestimmter Gewebe. Mit Stressoren (Hitze, Kälte, Ernährung etc.) lassen sich zukünftig Expressionsmuster verändern, statistisch auswerten und auf diese Weise mögliche evolutionäre Entwicklungspfade aufspüren.
Bis zu 75 % der Betroffenen berichten im reflektierenden Rückblick, dass sie unmittelbar vor der ersten spürbaren Krankheitsepisode intensiven Stress hatten – Stress allerdings, der bei nicht vulnerablen (solcherart verletzlichen, von [[Vulnerabilität]] betroffenen) Menschen keine manische oder depressive Episode ausgelöst hätte, da sie Stress körperlich besser verarbeiten. Spätere Störungs-Phasen können immer weniger mit stressenden Ereignissen erklärt werden, bzw. kann sie minimaler Stress bereits auslösen.


== Ausgewählte empirische Forschungsergebnisse ==
== Behandlung ==
Aufgrund mangelnder Einsicht der Betroffenen, insbesondere in manischen Episoden oder bei akuter [[Suizid]]gefahr, muss eine Behandlung in akuten Phasen der Manien oder schweren Depressionen manchmal gegen den Willen der Patienten als [[Zwangsbehandlung]] erfolgen. In den meisten Fällen zeigen Betroffene jedoch Einsicht und lassen sich auch wegen ihres hohen Leidensdrucks freiwillig behandeln. Wenn allerdings manische Phasen erstmals auftreten, können Betroffene keine Einsicht haben, da sie noch keine Erfahrungen über die schweren negativen Folgen gesammelt haben. Bei vielen kommt die Einsicht erst nach mehreren Phasen. Sehr hilfreich für eine erfolgreiche Behandlung ist, wenn sich die Betroffenen über ihre Störung informieren und viel darüber lesen, damit sie selbst nachvollziehen können, welche Behandlung in welcher Phase am besten ist. Dies gilt auch deshalb, damit sie ein rechtzeitiges Gegensteuern, welches für eine Minderung der Belastungen notwendig ist, erlernen können. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist die korrekte Diagnose.


=== Belege bei der Taufliege ===
In Abhängigkeit von Verlauf und Schwere kann bei leichten Fällen auch alleine mit Psychotherapie eine Stabilisierung erzielt werden. Hierbei ist das frühzeitige Erkennen der Störung ein wichtiger Faktor. Das kann bei Heranwachsenden in der Regel nur durch einen erfahrenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder -psychiater erfolgen, da die Symptome anderen Störungen stark ähneln und darum die Gefahr von Fehldiagnosen besteht. Zusätzlich kann eine medikamentöse Behandlung erfolgen, deren Verordnung in die Hände eines psychiatrisch erfahrenen Facharztes gehört. Eine bipolare Störung tritt nicht urplötzlich bei einem vorher völlig gesunden Menschen auf, sondern entwickelt sich schleichend. Auf Grund von mangelnden Kenntnissen in der Öffentlichkeit und mitunter auch bei Ärzten sowie auch der Scheu vor dem Umgang mit psychischen Störungen wird bei vergleichsweise milden Symptomen oftmals über Jahre hinweg nicht eingegriffen – möglicherweise auch aus Angst vor Medikamenten. Dabei kann der Verlauf durch das frühzeitige Stellen einer Diagnose und mit regelmäßigen Gesprächen stark positiv beeinflusst werden.
[[Datei:Wing suzukii.jpg|mini|links|Abb. 8 Flügeladern bei Drosophila]]
Erkenntnisse, dass Umweltfaktoren auf Vererbung und Evolution wirken, hatte bereits der Brite [[Conrad Hal Waddington]] (1942). Er konnte seine Theorie später (1953) anhand von Veränderungen an den Adern der Fruchtfliege (''[[Drosophila melanogaster]]'') empirisch belegen, indem er die Fliegeneier einige Generationen lang jeweils kurzen Hitzeschocks aussetzte. Dabei blieben nach einigen Generationen die Querverstrebungen an den Flügeln aus. Wurden die Hitzeschocks in Folgegenerationen als externer Stressor aufgehoben, blieben die durch sie induzierten Variationen am Flügeladersystem aber weiterhin erhalten, das heißt die Querverstrebungen erschienen nicht wieder. Die Hitzeschocks waren ein ausreichend starker Anstoß, dass bisherige Entwicklungspfade verlassen wurden. Bereits angelegte, aber bis dahin nicht genutzte, maskierte Pfade traten durch den äußeren Einfluss zu Tage. Die Entwicklung wurde mit Waddingtons Worten in einem neuen Pfad ''[[Kanalisierung (Entwicklung)|kanalisiert]]''. Der Umweltfaktor war nur so lange erforderlich, bis der neu kanalisierte Entwicklungsverlauf, wie Waddington es ausdrückte, nachträglich auch ''[[Genetische Assimilation|genetisch assimiliert]]'' ist.<ref name="WAD-1953-A">Conrad Hal Waddington: ''Genetic Assimilation of an Acquired Charakter.'' In: ''Evolution.'' Vol. 7, No. 2, 1953, S. 118–126.</ref> Hier bleibt er wieder so lange kanalisiert bzw. stabil, und zwar auch bei neuen auftretenden Mutationen, bis entweder eine Mutation oder aber neue Umwelteinflüsse stark genug sind, dass die Kanalisierung an ihre Grenzen stößt. Gegebenenfalls führt das dann unter Einwirkung von [[Schwellenwert (Entwicklung)|Schwellenwerteffekten]], wie oben erläutert, zu einer neuen Variation des Phänotyps.


Was Waddington mit den Laborversuchen nicht zeigen konnte, ist, wie ein adaptiver Weg entsteht, dass auf einen Umweltfaktor (hier: Hitze) geeignet reagiert wird. Die Variation der Flügeladern ist kein adaptives Merkmal auf Hitzeeinwirkung. „Es ist keineswegs sicher, dass er mit nennenswerter Häufigkeit auf irgendeine besondere adaptive Morphologie gestoßen wäre“.<ref name="KIGE-2005-41">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 316.</ref>
=== Medikamente ===
In den verschiedenen Episoden wird unterschiedliche Medikation verwendet. Man unterscheidet ferner zwischen Akuttherapie, Erhaltungstherapie und Prophylaxe. Dabei ist die Stimmungsstabilisierung durch Phasenprophylaktika das Grundgerüst jeder medikamentösen Therapie.


=== Veränderung der Schnäbel bei Darwin-Finkenarten ===
==== Manie ====
Bei akuten und starken Manien werden üblicherweise [[Neuroleptikum|Neuroleptika]] verabreicht. Typische Neuroleptika (z.&nbsp;B. [[Haloperidol]] oder [[Loxapin]]) wirken normalerweise recht zuverlässig, haben aber den Nachteil von Bewegungsstörungen ([[Extrapyramidalmotorisches System|extrapyramidaler]] Störungen) als Nebenwirkung. [[Atypisches Neuroleptikum|Atypische Neuroleptika]] wie [[Risperidon]], [[Quetiapin]], [[Olanzapin]], [[Aripiprazol]], [[Ziprasidon]] haben ein geringeres Risiko<ref name="PMID17705840">S. Derry, R. A. Moore: ''Atypical antipsychotics in bipolar disorder: systematic review of randomised trials.'' In: ''BMC psychiatry.'' Band 7, 2007, S.&nbsp;40, {{DOI|10.1186/1471-244X-7-40}}, PMID 17705840, {{PMC|2020469}} (Review).</ref> hinsichtlich extrapyramidaler Störungen und haben sich auch bei Heranwachsenden in akut manischen und gemischten Phasen bewährt.<ref name="PMID20205485">M. K. Singh, T. A. Ketter, K. D. Chang: ''Atypical antipsychotics for acute manic and mixed episodes in children and adolescents with bipolar disorder: efficacy and tolerability.'' In: ''Drugs.'' Band 70, Nummer 4, März 2010, S.&nbsp;433–442, {{DOI|10.2165/11534540-000000000-00000}}, PMID 20205485, {{PMC|2882025}} (Review).</ref> Die Gefahr von Nebenwirkungen bezieht sich hier eher auf Stoffwechselerkrankungen bis hin zu [[Diabetes mellitus|Diabetes]].


Sean B. Carroll konnte Veränderungen der Muster von Schmetterlingsflügeln im Labor vornehmen. Dabei gelang es durch Bestimmung der entsprechenden Genschalterkombinationen bei der Entwicklung des Schmetterlings, die Muster auf den Flügeln zu variieren.<ref>Sean B. Caroll: ''Evo-Devo.'' 2008, S. 192–209.</ref> 2007 haben Peter und Rosemary Grant<ref name="GRA">''Die Darwinfinken – Evolution im Zeitraffer. Erkenntnisse eines britischen Ehepaars aus mehr als 30 Jahren Forschung auf den Galapagosinseln.'' In: ''Neue Zürcher Zeitung.'' 12. Juli 2006.</ref> bei [[Darwinfinken|Darwin-Finkenarten]] auf den [[Galápagos-Inseln]] nachgewiesen, dass es in nur wenigen Generationen auf Grund von verändertem Nahrungsangebot (Initiator) zur Umbildung der Schnäbel kommt.<ref name="KiGe 2007">Mark C. Kirschner, John C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 321f.</ref>
Neuroleptika können auch verwendet werden, wenn sich eine manische Episode anbahnt, was den vollständigen Ausbruch oft verhindert.
[[Datei:Darwin's finches by Gould.jpg|mini|Abb. 9 Evolutionäre Veränderung der Schnabelgröße und -form bei Darwinfinken. Eine Variation des Schnabels erfordert die vollständige [[morphologische Integration]] in die Anatomie des Kopfes. Das leistet die Entwicklung.]]


In diesem Zusammenhang konnte man ein Wachstumsfaktor-Protein identifizieren, das an der Schnabelbildung im Embryo maßgeblich beteiligt ist, und konnte auch zeigen, dass dieses Protein bei verschiedenen Schnabelformen unterschiedlich stark oder unterschiedlich lange korreliert ausgebildet wird.<ref name="KIGE-2005-34">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 3121 mit Bezug auf Studien von [[Clifford Tabin]] an Darwinfinken</ref> Kirschner/Gerhart erwähnen zudem, dass besagtes Protein (es heißt [[Knochenmorphogenetische Proteine|BMP4]] und wird in [[Neuralleiste]]nzellen produziert) experimentell in die Neuralleiste eines Hühnchens eingepflanzt wurde, wo sich ebenfalls die Schnabelform veränderte. Das Hühnchen entwickelte breitere und größere Schnäbel als normal. Andere Wachstumsfaktoren haben nicht diese Wirkung.<ref name="KIGE-2005-34" /> Obgleich also der experimentell manipulierte Schnabel seine Größe bzw. Form ändert, wird er dennoch in die Anatomie des Vogelkopfes integriert. „Es kommt nicht zu einer monströsen Fehlentwicklung“ (Kirschner/Gerhart).
==== Mischzustände ====
Mischzustände sind kompliziert zu behandeln. Meist müssen mehrere Medikamente kombiniert werden. Sie können einerseits mit neueren atypischen Neuroleptika behandelt werden, andererseits muss auch die depressive Symptomatik behandelt werden. Es kann vorkommen, dass die Einnahme über einen längeren Zeitraum notwendig ist, falls psychotische Symptome beim Absetzen wiederkehren.


Die Schnabelbildung ist ein komplexer Entwicklungsprozess, an dem fünf Nester von Neuralzellen beteiligt sind. Die Nester empfangen Signale von Gesichtszellen an den fünf Orten und reagieren auf sie. Daher beeinflussen Merkmale, die die Neuralleistenzellen beeinflussen, das Schnabelwachstum in koordinierter Weise.<ref name="KIGE-2005-28">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 318.</ref> Die herrschende Synthetische Evolutionstheorie müsste an diesem und anderen Beispielen plausibel erklären können, wie in nur wenigen Generationen allein durch das Wechselspiel von zufälliger Mutation und Selektion eine derartig umfangreiche, koordinierte phänotypische Variation entstehen kann, die eines wechselseitigen Zusammenspiels vieler separater Entwicklungsparameter bedarf.
==== Depression ====
[[Antidepressivum|Antidepressiva]] bieten im Vergleich zu [[Stimmungsstabilisator]]en (''Mood stabilizers''; siehe Vorbeugung) keine zusätzlichen Vorteile, sondern eher Risiken wie Destabilisierung mit Zunahme von Manien, Phasenfrequenz (''cycling'') und belastender Missgelauntheit ([[Dysphorie]]).<ref name="PMID20675968">R. S. El-Mallakh, A. Z. Elmaadawi, M. Loganathan, K. Lohano, Y. Gao: ''Bipolar disorder: an update.'' In: ''Postgraduate medicine.'' Band 122, Nummer 4, Juli 2010, S.&nbsp;24–31, {{DOI|10.3810/pgm.2010.07.2172}}, PMID 20675968 (Review).</ref>


Evo-Devo zeigt an diesem Beispiel die erklärte Wirkungsweise: Kleine Ursache (eine oder ein paar quantitative, regulatorische Proteinänderungen, hervorgerufen) führt zu großer Wirkung (integrierte Veränderung der Schnabelform), gesteuert durch epigenetische Prozesse der Entwicklung, insbesondere durch ein breites adaptives Zellverhalten der Neuralleistenzellen des Schnabels und des Gesichtsumfelds.<ref name="KIGE-2005-27" /> Aus der gut erforschten Kenntnis der Entwicklung des Schnabels und seiner Modifikationen kann geschlossen werden, dass sich „recht umfangreiche Veränderungen der Schnabelgröße und Schnabelform mit ein paar regulatorischen Mutationen eher erreichen lassen als mit einer Summierung von langen Folgen kleiner Veränderungen“.<ref name="KIGE-2005-27">M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 319.</ref> Nicht final erforscht ist in diesem Beispiel, wodurch die Veränderungen des Bmp4-Spiegels in der Entwicklung ausgelöst werden. Eine Möglichkeit sind genetische Zufallsmutationen, wahrscheinlicher sind Reaktionswege der Entwicklung auf den Stress der Tiere, der durch die anhaltende Veränderung des Nahrungsangebots entsteht. Diese Veränderung wurde ja von den Grants im Zusammenhang mit der Variation der Schnäbel dokumentiert.<ref>M. C. Kirschner, J. C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma.'' 2007, S. 320ff.</ref><ref name="GRA-2">''Die Darwinfinken – Evolution im Zeitraffer.'' In: ''Neue Zürcher Zeitung.'' 12. Juli 2006; P. u. R. Grant sehen Rückkreuzungen (Introgression) als eine adaptive Ursache für die Variation der Schnäbel S. 3.</ref>
Für die Behandlung von depressiven Notfällen ([[Suizidgefährdung]]) bei BAS hat sich in der [[Klinische Forschung|klinischen Forschung]] seit 2010 die schnelle Wirkung von [[Ketamin#Gebrauch_bei_Depressionen|Ketamin]], einem [[Antagonist (Pharmakologie)|Antagonisten]] am [[Glutaminsäure|Glutamat]]-[[NMDA-Rezeptor]]komplex, bewährt.<ref name="PMID24103187">A. C. Nugent, N. Diazgranados, P. J. Carlson, L. Ibrahim, D. A. Luckenbaugh, N. Brutsche, P. Herscovitch, W. C. Drevets, C. A. Zarate: ''Neural correlates of rapid antidepressant response to ketamine in bipolar disorder.'' In: ''Bipolar disorders.'' Band 16, Nummer 2, März 2014, S.&nbsp;119–128, {{DOI|10.1111/bdi.12118}}, PMID 24103187, {{PMC|3949142}}.</ref>


=== Beljajews Zähmung von Silberfüchsen ===
Nach vorläufigen Ergebnissen von 2013 lässt sich mit einer sehr niedrigen Dosis von ''Ketamin'' unter der Zunge ([[sublingual]]) bei BAS-Depression sowohl eine schnelle als auch - bei regelmäßiger Einnahme - eine andauernde positive Wirkung bezüglich Stimmung, Stabilität, Wahrnehmung und Schlaf erreichen.<ref name="PMID23683309">D. R. Lara, L. W. Bisol, L. R. Munari: ''Antidepressant, mood stabilizing and procognitive effects of very low dose sublingual ketamine in refractory unipolar and bipolar depression.'' In: ''The international journal of neuropsychopharmacology / official scientific journal of the Collegium Internationale Neuropsychopharmacologicum.'' Band 16, Nummer 9, Oktober 2013, S.&nbsp;2111–2117, {{DOI|10.1017/S1461145713000485}}, PMID 23683309.</ref>
[[Datei:Abb 9-4 Belyaev Experiment 21-10-10-B.jpg|hochkant=1.8|mini|Abb. 11 Zusammenhang von Umwelt, Selektion, Kontrollgenen, physiologischen Prozessen, Entwicklung und Evolution im Experiment von Beljajew]]
Bekannt geworden ist der Versuch des russischen Genetikers [[Dmitri Konstantinowitsch Beljajew]],<ref name="TRUT 1999-A">Lyudmila N. Trut: ''Early Canid Domestication: The Farm-Fox Experiment.'' In: ''American Scientist.'' Vol 87, 1999.</ref> dessen Team über einen Zeitraum von 40 Jahren [[Rotfuchs|Silberfüchse]] auf Zahmheit selektierte. Man wollte erfahren, welche Konsequenzen die Selektion auf Zahmheit (bzw. gegen Aggression) nach sich zieht. Beljajews Hypothese war, dass es zu vielfältigen morphologischen, physiologischen und Verhaltensänderungen kommen könne, ähnlich wie es bei der über 10.000 Jahre zurückliegenden Domestikation des Wolfs zum Hund zu beobachten sei. Für das Experiment wurden besonders zahm wirkende Füchse aus Pelztierzuchten ausgewählt, eine Zuchtlinie begründet und im Folgenden auf Zahmheit (und nur darauf, nicht auf andere morphologische oder physiologische Änderungen) selektiert.


Beljajews Team hat sehr darauf geachtet, dass Mechanismen wie [[Inzucht]] oder [[Polygenie]] die Ergebnisse nicht beeinflussen konnten. Dennoch traten etwa von der vierten Generation an neben Verhaltensänderungen auch typische Haustiermerkmale, wie weiße Fellzeichnungen, hängende Ohren, kurze Beine und Schnauzen auch bei den Füchsen auf. Dies konnte Beljajew anhand paralleler Versuche an anderen Arten (Ottern, Ratten) im Kern reproduzieren.<ref name="TRUT 1999">Lyudmila N. Trut: ''Early Canid Domestication: The Farm-Fox Experiment.'' In: ''American Scientist.'' Vol 87(2), 1999, S. 165f.</ref>
Mitte 2015 berichteten die [[Pharmakologie]]-Professoren [[Lutz Hein]] (Universität Freiburg) und Roland Seifert (Medizinische Hochschule Hannover), dass Ketamin aus guten Gründen bereits [[Off-Label-Use|off-label]], d. h. ohne offizielle Zulassung durch die Arzneimittelbehörden (jedoch völlig legal), an depressive und suizidale Patienten verschrieben wird.<ref>Roland Seifert, [[Lutz Hein]]: ''[http://www.biospektrum.de/blatt/d_bs_pdf&_id=1350536 Ketamin zur Behandlung von Depression und Suizidalität,]'' (PDF) in: BIOspektrum 4/2015, 21. Jahrgang, Springer-Verlag, WISSENSCHAFT AKTUELL, S.&nbsp;419, abgerufen am 19. Oktober 2015.</ref>
[[Datei:Silberfuchs 10.jpg|mini|links|Abb. 10 Das Silberfuchs-Experiment in Sibirien hat eine Reihe zu erwartender evolutionärer Veränderungen in der Entwicklung hervorgerufen.]]


Mit Fortschreiten des Projekts konnten Veränderungen in den neurochemischen und neurohormonellen Mechanismen aufgedeckt werden, die für die genannten Bereiche eine wesentliche Rolle spielen, und zwar hauptsächlich der [[Cortisol]]-, [[Adrenalin]]- und [[Serotonin]]-Spiegel. Der stark abgesenkte Level der „Stresshormone“ Cortisol und Adrenalin und der abgesenkte Serotoninspiegel mit Zusammenhang zur Aggressivität sind plausible Erklärungsmuster für die zunehmende Zahmheit.<ref>Lyudmila Trut, Irina Oskina, Anastasiya Kharlamova: ''Animal evolution during domestication: the domesticated fox as a model.'' In: ''Bioessays.'' 31(3), 2009, S. 349–360.</ref> Diese Reaktionen in den Hormonenspiegeln können neben den Verhaltensänderungen auch zu den Entwicklungsänderungen in Beljajews Versuch beigetragen haben. Ein plausibles Modell geht davon aus, dass eine Verzögerung der angeborenen Furchtreaktion bei den Jungtieren die zunehmende Vertrautheit mit Menschen bewirkt. Diese Entwicklungsverzögerung ist durch entwicklungsbiologische Zwänge möglicherweise mit anderen Entwicklungsverzögerungen gekoppelt. Die typischen anatomischen Auswirkungen machen das Tier welpenähnlicher („Neotenie“), oft gekoppelt mit erhöhter Fruchtbarkeit. Besonders hat Trut darauf hingewiesen, dass der Fruchtbarkeitszyklus bei weiblichen Wildtieren genetisch normalerweise „fest verdrahtet“ ist und selbst in jahrzehntelangen direkten Züchtungsversuchen in der Vergangenheit nicht im Sinne der Züchter abgeändert werden konnte.<ref name="TRUT 1999-D">Lyudmila N. Trut: ''Early Canid Domestication: The Farm-Fox Experiment.'' In: ''American Scientist.'' Vol 87, 1999, S. 167.</ref> Solche Veränderungen gelangen aber im Versuch Beljajews als Beiprodukt, und zwar auf dem Weg ausschließlich über eine gezielte Verhaltensselektion, es kam zu einer Reihe koordinierter Veränderungen im weiblichen Zyklus (um ca. 1 Monat früherer Eintritt der Fruchtbarkeit). Trut weist darauf hin, dass auch Schwangerschaften außerhalb der normalen Tragzeiten auftraten, aber keine der Jungen überlebt haben, die in saisonalen Zyklen geboren wurden, die vom natürlichen Zyklus abwichen. Ein Grund dafür konnte nicht gefunden werden.
==== Vorbeugung gegen Episoden ====
Eine vorbeugende Behandlung ([[Prävention]]) zur Minderung der Wahrscheinlichkeit von Störungsepisoden bei BAS geschieht mit [[Stimmungsstabilisator]]en (''Mood stabilizers''; [[Phasenprophylaxe]]) wie [[Lithiumtherapie|Lithium]] oder [[Antikonvulsivum|Antiepileptika]] wie [[Valproinsäure]], [[Lamotrigin]] oder [[Carbamazepin]].


Die beobachteten Veränderungen zeigen eine überraschend schnell ablaufende Wandlung zum Haustier, wobei die meisten Merkmale unbeabsichtigt, als reines Beiprodukt der Selektion auf Zahmheit, auftraten. Für eine konventionelle genetische Erklärung über die Anhäufung von Punktmutationen ist der Wandel um ein Vielfaches zu schnell. Anzunehmen ist eine Änderung der Genexpression von (bisher nicht identifizierten) Mastergenen mit entwicklungssteuernder Wirkung. Möglich wäre ein rein epigenetischer Mechanismus über „Abschaltung“ (silencing) eines Entwicklungsgens durch DNA-Methylierung eines Entwicklungsgens bzw. seiner regulatorischen Sequenzen, die durch hormonelle Einflüsse möglich erscheint.
Etwa ein Drittel der BAS-Patienten, die mit Lithium behandelt werden, sprechen hervorragend darauf an (''excellent lithium responders''). Bei ihnen verhindert es – ohne andere zusätzliche Maßnahmen ([[Monotherapie]]) – weitere Episoden vollständig, und zwar über zehn Jahre und länger. Lithium bewirkt bei BAS außerdem Schutzwirkungen im Gehirn ([[Neuroprotektion]]), unter anderem durch die Auslösung einer erhöhten Produktion des [[Wachstumsfaktor BDNF|Wachstumsfaktors BDNF]]. Sowohl dieser Schutzeffekt als auch der Vorbeugungseffekt steht in Verbindung mit einer großen Zahl bereits identifizierter Gen-Eigenschaften, die vom ''Consortium on Lithium Genetics'' (ConLiGen), unter anderem auch speziell zu den Wirkungen bei BAS, kartiert und erforscht werden.<ref name="PMID25377609">J. K. Rybakowski: ''Factors associated with lithium efficacy in bipolar disorder.'' In: ''Harvard review of psychiatry.'' Band 22, Nummer 6, November-Dezember 2014, S.&nbsp;353–357, {{DOI|10.1097/HRP.0000000000000006}}, PMID 25377609 (Review).</ref><ref name="PMID24625017">J. K. Rybakowski: ''Response to lithium in bipolar disorder: clinical and genetic findings.'' In: ''ACS chemical neuroscience.'' Band 5, Nummer 6, Juni 2014, S.&nbsp;413–421, {{DOI|10.1021/cn5000277}}, PMID 24625017, {{PMC|4063501}} (Review).</ref>


=== Evolution des Auges ===
Unter den Antiepileptika gilt Lamotrigin als sehr wirksam gegen bipolare Depressionen, hat aber keine belegten Effekte gegen Manien. Carbamazepin und Valproinsäure wirken hingegen fast ausschließlich gegen Manien.<ref name="PMID16683963">C. L. Bowden, N. U. Karren: ''Anticonvulsants in bipolar disorder.'' In: ''The Australian and New Zealand journal of psychiatry.'' Band 40, Nummer 5, Mai 2006, S.&nbsp;386–393, {{DOI|10.1111/j.1440-1614.2006.01815.x}}, PMID 16683963 (Review).</ref>
Durch Analyse spontan entstandener Mutationen der Taufliege '''Drosophila''', denen die Augen fehlen, ist es Genetikern gelungen, ein Schlüsselgen aus der Regulationskaskade der Augenentwicklung zu identifizieren.<ref>Georg Halder, Pstrick Callaerts, Walter J. Gehring: ''Induction of ectopic eyes by targetes expression of the eyless gene in Drosophila.'' In: ''Science.'' 267, 1995, S. 1788–1792.</ref> Dieses Gen erwies sich als ein [[Transkriptionsfaktor]], das heißt es codiert ein Protein, welches an die DNA bindet und dadurch die Transkription anderer Gene verstärkt bzw. verhindert. Das pax6 genannte Gen gehört zu einer ganzen Familie regulatorischer Gene, die alle Entwicklungsvorgänge steuern. In einem aufsehenerregenden Versuch ist es den Forschern gelungen, durch künstlich induzierte Expression des Gens auch in anderen Körperteilen (funktionsfähige!) Augen zu erzeugen: An den Antennen, an der Flügelbasis, am Thorax usw. Durch heute fast routinemäßige Vergleiche mit dem Genom anderer Organismen erwies sich: Gene ähnlicher Sequenz, die aller Wahrscheinlichkeit nach [[Homologie (Biologie)|homolog]] sind, wurden bei Tierarten aus nahezu allen daraufhin untersuchten [[Stamm (Systematik)|Tierstämmen]] gefunden: z.&nbsp;B. bei Wirbeltieren (Maus, Mensch), [[Weichtiere]]n (Muscheln, Tintenfische), [[Fadenwürmer]]n u.v.&nbsp;a., und in allen Fällen war es (neben einigen anderen Aufgaben) an der Entwicklung von Augen beteiligt.<ref>Walter J. Gehring, Kazuho Ikeo: ''Pax6: mastering eye morphogenesis and eye evolution.'' In: ''[[Trends in Genetics]].'' 15(9), 1999, S. 371–377.</ref> Sogar die primitiven Augenflecken des Plattwurms ''Dugesia'' und die Linsenaugen am Schirmrand der [[Würfelquallen|Würfelqualle]] ''Tripedalia cystophora'' wurden von dem gleichen bzw. einem homologen Gen gesteuert.


Dies war deswegen unerwartet, weil sich diese Tiere in der Evolution mindestens seit dem [[Kambrium]] vor über 540 Millionen Jahren auseinanderentwickelt haben. Trotzdem war es möglich, mit dem Gen der Maus bei der Taufliege Augen zu induzieren. Die Augenentwicklung erfordert das fein abgestimmte Zusammenspiel einiger hundert Effektorgene.  
Der Abbruch einer erfolgreichen Behandlung mit Phasenprophylaktika sollte gut überlegt werden, da ein erneutes Auftreten von depressiven und manischen Phasen den Krankheitsverlauf insgesamt negativ beeinflussen und eine erneute Behandlung erheblich erschweren kann.


Dies lässt sich am ehesten dadurch erklären, dass diese Gene, die im Jargon der Genetiker „stromabwärts“ (engl: downstream) von pax6 liegen, Bindungsstellen (sog. [[Cis-Element|cis-regulatorischen Elemente]]) für das Pax6-Protein enthalten. Pax6 ist dabei nur ein einziger Faktor in einem fein austarierten Netzwerk von Signalketten und Steuerungswegen, welches im Detail noch kaum bekannt ist. Für solche in der Evolution über hunderte von Millionen Jahren konservierte Entwicklungswege hat Sean Carroll den Ausdruck '''Tiefenhomologie''' geprägt.<ref>Neil Shubin, [[Cliff Tabin]], Sean Carroll: ''Deep homology and the origins of evolutionary novelty.'' In: ''Nature.'' 457, 2009, S. 818–823.</ref>
=== Psychotherapie ===
==== Allgemeines ====
Sinnvoll ist eine auf die Störung abgestimmte [[kognitive Verhaltenstherapie]] und/oder [[Gesprächspsychotherapie]] und/oder [[Soziotherapie]] und/oder [[Psychoedukation]]. Empfehlenswert sind außerdem [[Selbsthilfegruppe]]n, wie sie sich etwa im [[Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen|Bipolar-Selbsthilfe-Netzwerk]] zusammengeschlossen haben.


Bei Betrachtung der Augen im Detail zeigt sich allerdings, dass es nicht unbedingt wahrscheinlich ist, dass eine einfache Weiterentwicklung eines einmal entstandenen Auges bereits die ganze Geschichte ausmacht. Zwar haben alle Augen aller Tiere dasselbe lichtempfindliche Molekül, eine Variante des Sehpigments [[Rhodopsin]] (welches bereits bei Einzellern und auch bei Prokaryonten vorkommt). Neben dem Sehpigment gehört bereits zu den einfachsten Augen ein lichtabschirmendes Pigment (zum Richtungssehen), außer bei den allereinfachsten Konstruktionen auch ein lichtdurchlässiger „Glaskörper“, der aus einem durchsichtigen Protein („Crystallin“ genannt) besteht. Beim Vergleich verschiedener Augentypen zeigt es sich, dass unterschiedliche Organismen unterschiedliche Pigmente (Melanin, Pterin, Ommochrom) und vor allem völlig unterschiedliche Crystalline verwenden. Beinahe alle Crystalline sind darüber hinaus Enzyme oder Abkömmlinge von solchen, die andernorts im Körper noch völlig andere, essenzielle Aufgaben zu erfüllen haben.<ref>Joram Piatigorsky, G.Wistow: ''The recruitment of crystallins: new functions precede gene duplication.'' In: ''Science.'' 252, 1991, S. 1078–1079.</ref> Außerdem gibt es die Rezeptorzellen in zwei Ausfertigungen, als „rhabdomerische“ und „ciliare“ Rezeptoren mit völlig unterschiedlichem Zellbauplan. Die rhabdomerische Ausfertigung findet sich bei den Arthropoden, die ciliare bei den Wirbeltieren, aber auch bei den Würfelquallen. Die wesentlichen Bestandteile des Auges sind also zwar unter in der Evolution hochgradig konservierter Entwicklungskontrolle, darunter aber beinahe zufällig „durcheinandergewürfelt“. Dies erscheint am ehesten dadurch erklärbar, dass beim Aufbau des immer komplexer werdenden Auges immer mehr ursprünglich unabhängig und für einen anderen Zweck entstandene Strukturen, aber auch Entwicklungspfade und Signalwege neben ihrer ursprünglichen Funktion auch bei der Augenentwicklung verwendet wurden. Dies ist am besten dadurch erklärbar, dass sie cis-regulatorische Sequenzen evolutiv neu erworben haben, die durch Kontrollgene der Augenentwicklung wie z.&nbsp;B. pax6 steuerbar sind<ref>Pavel Vopalensky, Zbynek Kozmik: ''Eye evolution: common use and independent recruitment of genetic components.'' In: ''Philosophical Transactions of the Royal Society.'' B 364, 2009, S. 2819–2832.</ref> (die Gene sind ja in allen Körperzellen identisch vorhanden!). Der Entwicklungsweg insgesamt ist also homolog, die weiteren Strukturen wie Pigmente, Glaskörper, Linse, etc. sind aber vermutlich konvergente Bildungen. Für ihre Entstehung sind aber weder neue Proteinfamilien oder auch nur neue Gene erfunden worden, sondern bereits bestehende wurden umfunktioniert („rekrutiert“ oder auch „ko-optiert“).<ref>Joram Piatigorsky: ''A Genetic Perspective on Eye Evolution: Gene Sharing, Convergence and Parallelism.'' In: ''Evolution: Education and Outreach.'' 1(4), 2008, S. 403–414.</ref>
Sinnvoll für Betroffene ist es, eigene Warnsysteme zu entwickeln, um nicht wieder in extreme Phasen zu geraten, mit [[Stressmanagement]], [[Selbstbeobachtung]], [[Selbstregulation]] und [[Selbstmanagement]]. Das Erkennen der persönlichen Frühwarnzeichen der depressiven, manischen oder gemischten Phasen und ein rechtzeitiges Gegensteuern durch entsprechendes Verhalten (z.&nbsp;B. antidepressive Tätigkeiten bei Gefahr einer Depression; antimanisches Verhalten wie genügend Schlaf, Beschränkung, Reizabschirmung bei der Gefahr einer Manie sowie die richtige Medikation zum richtigen Zeitpunkt) kann den Ausbruch einer neuen Episode verhindern. Ein geregeltes, stressfreies, erfülltes Leben mit ausreichend Schlaf, Bewegung (Sport) und Meditation oder Yoga kann neue Episoden verzögern oder seltener auch ganz verhindern. Voraussetzung dafür ist, dass sich Betroffene von den Folgen der letzten Episode erholt haben.


[[Datei:SmithTestudoSkeleton.png|mini|hochkant=1.5|Abb. 12 Die Entstehung des Schildkrötenpanzers erzwang eine komplizierte Verlagerung des Schultergürtels von außerhalb wie sonst bei [[Landwirbeltiere]]n üblich nach innerhalb der Rippenbögen, bzw. hier innerhalb des Panzers.]]
==== Wirksamkeit ====
In einer vergleichenden Übersicht von 2011 über neuere [[Randomisierte kontrollierte Studie|randomisierte kontrollierte Studien]] zur Wirksamkeit von Psychotherapie bei BAS wurden folgende Ergebnisse berichtet: Die Mehrheit der Studien zeigte bedeutende positive Resultate in Form von Minderung der Rückfallraten, erhöhter Lebensqualität, besserer Alltagsbewältigung oder günstigerer Entwicklung der Symptome.<ref name="PMID21918448">D. Schöttle, C. G. Huber, T. Bock, T. D. Meyer: ''Psychotherapy for bipolar disorder: a review of the most recent studies.'' In: ''Current opinion in psychiatry.'' Band 24, Nummer 6, November 2011, S.&nbsp;549–555, {{DOI|10.1097/YCO.0b013e32834b7c5f}}, PMID 21918448 (Review).</ref> Damit wurden die Trends zweier vergleichbarer Übersichten von 2007 und 2008<ref name="PMID18794208">D. J. Miklowitz: ''Adjunctive psychotherapy for bipolar disorder: state of the evidence.'' In: ''The American journal of psychiatry.'' Band 165, Nummer 11, November 2008, S.&nbsp;1408–1419, {{DOI|10.1176/appi.ajp.2008.08040488}}, PMID 18794208, {{PMC|2613162}} (Review).</ref><ref name="PMID17604972">M. Hautzinger, T. D. Meyer: ''Psychotherapie bei bipolaren affektiven Störungen: Ein systematischer Überblick kontrollierter Interventionsstudien.'' In: ''Der Nervenarzt.'' Band 78, Nummer 11, November 2007, S.&nbsp;1248–1260, {{DOI|10.1007/s00115-007-2306-0}}, PMID 17604972 (Review) ([http://link.springer.com/article/10.1007/s00115-007-2306-0#page-1 Leseprobe S.&nbsp;1248–1249]).</ref> bestätigt.


=== Veränderung des Skeletts bei der Entstehung des Schildkrötenpanzers ===
== Verbreitung und Verlauf ==
Die Wahrscheinlichkeit, während des Lebens eine bipolare affektive Störung zu entwickeln ([[Lebenszeitrisiko]]), liegt in den unterschiedlichsten Ländern bei 1,0 bis 1,6 %. Es besteht kein Unterschied des Risikos zwischen Männern und Frauen.


{{Siehe auch|Osteoderm#Ursprung des Schildkrötenpanzers|titel1=Abschnitt „Ursprung des Schildkrötenpanzers“ im Artikel „Osteoderm“}}
Das Risiko, eine hohe Phasenfrequenz (schneller Wechsel zwischen gehobener und gedrückter Stimmung) zu entwickeln, steigt mit der Dauer der Erkrankung. Etwa 10 % der Betroffenen entwickeln Störungsformen mit vier und mehr Episoden pro Jahr. Dies geht mit einer ernsteren Prognose einher. Ersten Untersuchungen zufolge scheinen 80 % der so genannten ''Rapid Cycler'' Frauen zu sein. Etwa ein Drittel der Patienten erreichen im Rahmen ihrer Störung keine Vollremission (symptomfreies Intervall).


Der Panzer der Schildkröten ist eine anatomisch äußerst komplexe Bildung, an der sowohl Knochen (v.&nbsp;a. die Rippen) als auch Hautverknöcherungen (Osteoderm) beteiligt ist. In jüngerer Zeit hat diese Struktur, die seit den anatomischen Studien des 19. Jahrhunderts als rätselhaft galt, erneut starke Aufmerksamkeit bei Evolutionsbiologen gefunden, weil eine einflussreiche Theorie postulierte, die bekannt gewordenen entwicklungsbiologischen Fakten würden eine Entstehung des Panzers durch eine Makromutation (auch Saltation genannt) nahelegen und dadurch die synthetische Evolutionstheorie partiell widerlegen.<ref>S. F. Gilbert, G. A. Loredo, A. Brukman, A. C. Burke: ''Morphogenesis of the turtle shell:the development of a novel structure in tetrapod evolution.'' In: ''Evolution and Development.'' 3, 2001, S. 47–58.</ref><ref>Olivier Rieppel: ''Turtles as hopeful monsters.'' In: ''BioEssays.'' 23(11), 2001, S. 987–991.</ref> Es hat sich allerdings gezeigt, dass eine plausible Erklärung auch ohne Saltation möglich ist. Neben neueren entwicklungsgenetischen Erkenntnissen war ein wichtiger Grund, dass in jüngster Zeit erstmals Fossilien von Schildkröten mit unvollständiger Panzerung neu entdeckt worden sind.<ref>Chun Li, Xiao-Chun Wu, Olivier Rieppel, Li-Ting Wang, Li-Jun Zhao: ''An ancestral turtle from the Late Triassic of southwestern China.'' In: ''Nature.'' 456(27), 2008, S. 497–501.</ref><ref>Walter G. Joyce, Spencer G. Lucas, Torsten M. Scheyer, Andrew B. Heckert, Adrian P. Hunt: ''A thin-shelled reptile from the Late Triassic of North America and the origin of the turtle shell.'' In: ''Proccedings of the Royal Society.'' B 276, 2009, S. 507–513.</ref>
75 % der Patienten erleiden ihre erste Episode bis zum 25. Lebensjahr. 10 % bis 15 % der Betroffenen durchleben mehr als zehn Episoden in ihrem Leben. 39 % der Patienten haben eine weitere psychiatrische Diagnose.


Die Entstehung des Panzers kann man sich demnach in etwa so vorstellen: Entscheidendes morphologisches Merkmal ist die Entwicklung der Rippen, die nicht wie bei allen anderen Wirbeltieren den Brustraum mehr oder weniger umschließen, sondern die in die obere (anatomisch: dorsale) Körperwand einwachsen. Hier verbinden sie sich mit Hautverknöcherungen, die vermutlich unabhängig entstanden sind (entsprechende Bildungen sind bei Wirbeltieren weit verbreitet<ref>Eine Übersicht in: Matthew K. Vickaryous, Jean-Yves Sire: ''The integumentary skeleton of tetrapods: origin, evolution, and development.'' In: ''[[Journal of Anatomy]].'' 214, 2009, S. 441–464.</ref>). In der Embryonalentwicklung werden beide Bildungen über einen zellulären Signalweg (den sog. wnt-Weg) gesteuert, der sonst z.&nbsp;B. an der Bildung von Gliedmaßen beteiligt ist.<ref>Shigehiro Kuraku, Ryo Usuda, Shigeru Kuratani: ''Comprehensive survey of carapacial ridge-specific genes in turtle implies co-option of some regulatory genes in carapace evolution.'' In: ''Evolution and Development.'' 7(1), 2005, S. 3–17.</ref> Eine entsprechende partielle Umbildung von bereits bestehenden Entwicklungspfaden (und ihren Genen) wird als „Kooptation“ bezeichnet und tritt offensichtlich häufiger auf, auch wenn die Einzelheiten nicht völlig geklärt sind. Wahrscheinlichste Erklärung ist die Umwandlung von „genetischen Schaltern“ (sog. cis-regulatorischen Sequenzen), durch die die Expression eines Gens in neuem Funktionszusammenhang möglich ist, ohne dass das Gen selbst sich verändert. Im Zuge dieser Umgestaltung faltete sich beim Schildkrötenembryo die seitliche Körperwand nach innen. Dadurch wurde der Schultergürtel, der sonst oberhalb der Rippen liegt, in das Innere verlagert (die ursprüngliche Lagebeziehung lässt sich an den an ihm ansetzenden Muskeln noch ablesen<ref>Shigeru Kuratani, Shigehiro Kuraku, Hiroshi Nagashima: [http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1525-142X.2010.00451.x/full ''Evolutionary developmental perspective for the origin of turtles: the folding theory for the shell based on the developmental nature of the carapacial ridge.''] In: ''Evolution and Development.'' 13(1), 2011, S. 1–14.</ref>). Der Bauchpanzer (das Plastron) ist parallel dazu auf noch nicht ganz geklärtem Wege entstanden. Vermutlich ist an seiner Entstehung ein zellulärer Signalweg beteiligt, der demjenigen entspricht, der zur Verknöcherung der Schädelknochen führt.<ref>Scott F. Gilbert, Gunes Bender, Erin Betters, Melinda Yin, Judith A. Cebra-Thomas: ''The contribution of neural crest cells to the nuchal bone and plastron of the turtle shell.'' In: ''Integrative and Comparative Biology.'' 47(3), 2007, S. 401–408.</ref> Interessanterweise besaß ein in China entdecktes, 220 Millionen Jahre altes Fossil einer Wasserschildkröte einen vollständigen Bauchpanzer, während ein Rückenpanzer fehlte.
== BAS bei Kindern und Jugendlichen ==
Bis jetzt wird die Häufigkeit des Auftretens einer manisch-depressiven Episode im Kindheits- und Jugendalter mit einem Wert von unter 0,1 % als relativ gering eingeschätzt. Es spricht allerdings einiges dafür, dass dieser Wert die tatsächliche Auftretens-Häufigkeit unterschätzt, da nach Vermutung einiger Psychiater in der kinderpsychiatrischen und psychologischen Praxis Fehlinterpretationen des Beschwerdebildes bei Hypomanie und Manie in Richtung [[Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung|ADHS]] und Verhaltensstörungen vorkommen. Häufige [[Komorbidität]]en sind [[Angststörung|Angststörungen]] und [[Störung des Sozialverhaltens|aggressive Verhaltensstörungen]].


Obwohl damit noch nicht alle Einzelheiten geklärt sind, existiert ein überzeugendes Modell der graduellen Entstehung damit auch für eine zunächst rätselhafte Struktur wie den Schildkrötenpanzer. Daran zeigt sich schön, wie durch intensive Zusammenarbeit aller Disziplinen (hier: Paläontologie, Embryologie, Entwicklungsgenetik) auch zunächst unlösbar erscheinende Probleme nach und nach enträtselt werden können.
Besonders jugendliche männliche Erkrankte weisen in 30 % der Fälle stimmungsinkongruente psychotische Merkmale auf. In Bezug auf ADHS überlappen sich viele Symptome. Hinweise auf die bipolare Störung ergeben sich vor allem aus: einem episodenhaften Verlauf, einer signifikant höheren Beeinträchtigung und –&nbsp;im Fall einer Manie&nbsp;– durch Größenideen und Selbstüberschätzung sowie rücksichtslosem Verhalten. Eine genaue Anamnese ist somit unerlässlich.


=== Flösselhechte: Experiment Landgang ===
Fehlbehandlung durch Stimulanzien wie [[Methylphenidat]] oder [[Modafinil]] können die Symptome der Hypomanien und Manien verstärken, was zu temporär ungünstigen Zuständen bis zu physischen Schädigungen führen kann. Gegenüber rein unipolar Depressiven besteht bei Jugendlichen mit bipolarer Störung ein höheres Suizidrisiko.
[[Datei:Polypterus senegalus.jpg|mini|[[Senegal-Flösselhecht]] (''Polypterus senegalus'')]]
In einem achtmonatigen Versuch mit juvenilen Flösselhechten der Gattung ''[[Polypterus]]'' aus dem tropischen Afrika (''Polypterus senegalus'') wurde 2014 erstmals eruiert, wie gut sich Flösselhechte an die Bedingungen an Land anpassen, wenn man ihnen die aquatische Lebensweise vollständig entzieht. Dabei zeigte sich, dass sich die Tiere überraschend schnell an die neuen Bedingungen anpassen konnten. Die Versuchstiere überlebten nicht nur, sondern blühten in der neuen Umgebung sogar auf. Ihre Anpassungen umfassten sowohl Änderungen der Muskulatur also auch der Knochenstruktur. Die Versuchsindividuen konnten signifikant besser auf dem Trockenen laufen als die aquatischen Kontrolltiere. Für Evolutionsbiologen der evolutionären Entwicklungsbiologie erlaubt diese unerwartet hohe Entwicklungsplastizität, Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie die ersten Meeresbewohner, etwa der [[Tiktaalik]], vor 400 Millionen Jahren an Land gingen und mit dem Übergang von Flossen zu Extremitäten allmählich [[Landwirbeltiere|Tetrapoden]] entstehen konnten. Dieser Versuch mit Flösselhechten bestätigte für einen evolutionär äußerst wichtigen Systemübergang des [[Landgang (Biologie)|Landgangs]], aus dem schließlich alle Landwirbeltiere hervorgingen, die Hypothese, dass Tiere in evolutionär kurzer Zeit sowohl ihre Anatomie als auch ihr Verhalten als Reaktion auf Umweltänderungen plastisch anpassen können.<ref name="Standen">Emily M. Standen, Trina Y. Du, Hans C. E. Larsson: ''Developmental plasticity and the origin of tetrapods.'' In: ''Nature.'' 513, 4. September 2014, S. 54–58.</ref><ref name="bichir on land">[http://www.nature.com/news/how-fish-can-learn-to-walk-1.15778 ''How fish can learn to walk.''] (Video)</ref> Genetische Mutationen könnten langfristig die durch die neue Umweltsituation geschaffenen Bedingungen unterstützen und für geeignete Vererbung sorgen. Die evolutionäre Abfolge wäre demnach nicht genetische Mutation, natürliche Selektion, Adaptation in der Population, sondern umgekehrt: Veränderung der Umweltbedingungen, dauerhafte, noch nicht genetisch vererbbare phänotypische Adaptation, unterstützende genetische Mutationen.


Evo-Devo liefert auch eine Erklärung für den Wegfall der Beine beim evolutionären Übergang von [[Echsen]] zu [[Schlangen]]. Nach Paul Layer war hierfür die Expressionshemmung von nur 2 Hox-Genen (c6 und c8) erforderlich, wie empirisch nachgewiesen wurde.<ref name="LAY-2">Paul G Layer: ''EvoDevo: Die molekulare Entwicklungsbiologie als Schlüssel zum Verständnis der Evolutionstheorie.'' 2009, S. 329.</ref>
== Forschungsgeschichte ==
=== Antike ===
Bipolare Störungen sind schon seit langem bekannt. Erste Schriftzeugnisse aus der [[Antike]] belegen bereits die Kenntnis der beiden Zustände, zunächst als gesonderte Krankheiten durch den berühmten Arzt [[Hippokrates von Kos]]. Bereits einige Jahrhunderte danach erkannte [[Aretaios|Aretaeus von Kappadokien]] die Zusammengehörigkeit von [[Depression]] und [[Manie]].


== Konsequenzen für die Evolutionstheorie ==
Hippokrates von [[Kos]] beschrieb im 5. Jahrhundert v. Chr. die [[Melancholie]] (konnte der heutigen Depression entsprechen). Er nahm an, dass sie durch einen Überschuss an ''schwarzer Galle'' entstehe, die von der organisch erkrankten [[Milz]] ins Blut ausgeschieden werde, den gesamten Körper überflute, ins Gehirn eindringe und Schwermut verursache. Mit dieser Vorstellung ist das [[Griechische Sprache|griechische]] Wort ''Melancholia'' eng verzahnt (griechisch: μελαγχολια von μελας: ''melas'': „schwarz“, χολη: ''cholé'': „[[Galle]]“). Hippokrates verwendete auch bereits den Ausdruck ''Mania'' (Manie), um einen Zustand der [[Ekstase]] und Raserei zu beschreiben. Diese Bezeichnung (griech. μανία: ''manía'': Raserei) hielt sich seitdem bis heute in der Wissenschaft. Statt des griechischen Wortes ''Melancholie'' wird heute das Fachwort ''Depression'' für den anderen Extrempol dieser Erkrankung verwendet, das aus der [[lateinisch]]en Sprache stammt (lat. ''depressio'' „Niederdrücken“).
Evo-Devo erklärt die Evolution organismischer Form mit den kausal-mechanistischen Änderungen des Gesamtsystems Entwicklung (bestehend aus den teilautonomen Subsystemen Genom, Zellen, Zellverbänden, Organismus) und der Wirkung von Umwelteinflüssen im Rahmen der [[Erweiterte Synthese (Evolutionstheorie)|Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie]]. Demgegenüber ist die [[Synthetische Evolutionstheorie|Standard-Evolutionstheorie]] eher statistisch-deskriptiv, da sie dem Organismus inhärente Faktoren für die Entstehung von Variation und Innovation nicht berücksichtigt. Vielmehr überlässt sie das evolutionäre Geschehen "ausschließlich" der zufälligen Mutation und der externalistisch wirkenden natürlichen Selektion. - Jedenfalls dann, wenn von ''systematisch'' erfolgenden Variationen bei der Fortpflanzung von Lebewesen durch sexuelle Reproduktion abgesehen wird (Variationen beziehen sich in der synthetischen Evolutionstheorie nicht auf individuelle Organismen, sondern auf Populationen. In sich sexuell reproduzierenden Arten erfolgen evolutionäre Variationen von daher ''systematisch''.). Richtung bekommt die Evolution aus klassischer Sicht somit durch das Zusammenwirken von (in sich sexuelle reproduzierenden Arten ''systematisierter'') Variation und Selektion. Von daher wird die außerordentliche evolutionäre Stabilität der [[Prokaryonten]] verständlich. Diese steht im Gegensatz zur evolutionären "Instabilität" sich sexuell reproduzierender Arten (vgl. [[Kambrische Explosion]]).


Die Bedeutung des Zufalls zur Erzeugung von morphologischer Variation wird von der evolutionären Entwicklungsbiologie neu bewertet. Es existieren erklärbare, vorhersehbare, regelhafte Gesetzmäßigkeiten der Entwicklungsprozesse, die die (im Kern immer noch zufällige) Variation stark beeinflussen. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Evo-Devo und Synthetischer Evolutionstheorie.
Der griechische Arzt [[Aretaios|Aretaeus von Kappadokien]] vermutete ähnliche körperliche Ursachen, erkannte aber bereits im 1. Jahrhundert nach Christus eine Zusammengehörigkeit der beiden extremen Zustände, die als Gegenpole so weit auseinanderliegen, und beschrieb somit als erster die bipolare Störung: ''Meiner Ansicht nach ist die Melancholie ohne Zweifel Anfang oder sogar Teil der Krankheit, die Manie genannt wird…''<ref name="WormerGeschichte">[[Eberhard J. Wormer]]: ''Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. – Ein Manual für Betroffene und Angehörige.'' München 2002, S. 47–54</ref> Die Entwicklung einer Manie stelle eher ein Zunehmen der Krankheit dar als einen Wechsel in eine andere Krankheit.
Die natürliche Selektion leistet nach wie vor ihren Beitrag (''survival of the fittest''), aber ihr Erklärungswert für die Entstehung organismischer Form und Komplexität wird relativiert und dem Erklärungswert von ''Konstruktion'' gegenübergestellt. Selektion bleibt dabei eine Rahmenbedingung der Evolution. Sie kann aber nur „digital entscheiden“ über das, was die Entwicklung ihr vorgibt.


Das von einigen Autoren als "genzentristisch" bezeichnete und das besonders durch [[Richard Dawkins]] forcierte, reduktionistische Denken wird von Evo-Devo kritisiert.<ref name="DUP 2009-1">John Dupré: ''Darwins Vermächtnis. Die Bedeutung der Evolution für die Gegenwart des Menschen.'' Suhrkamp, 2009 u. dort bes. Kap. ''Der genozentrische Fehlschluss.'' S. 89ff.</ref> Für Forscher wie Gilbert, Kirschner, Müller, Pigliucci, West-Eberhard und andere sind Gene nicht der ausschließliche und auch nicht der Hauptadressat der natürlichen Selektion. Es wird auch nicht von einer streng deterministischen Beziehung zwischen genotypischer und phänotypischer Evolution ausgegangen. Die epigenetischen Entwicklungsprozesse gelten im Zusammenhang mit der Evolution organismischer Form als unabdingbar für die Erzeugung des Phänotyps und die Generierung morphologischer Variation und Innovation. Das beseitigt nicht die überragende Bedeutung der Gene, relativiert sie aber bis zu einem gewissen Punkt.
=== Moderne ===
Das Konzept des Aretaeus von Kappadokien, das im [[Mittelalter]] und der [[Frühe Neuzeit|Frühen Neuzeit]] in Vergessenheit geraten war, wurde im 19. Jahrhundert wieder aufgegriffen: [[Jean-Pierre Falret]] beschrieb im Jahr 1851 „la folie circulaire“ (= zirkuläres Irresein) als einen Wechsel von Depressionen, Manien und einem gesunden Intervall, [[Jules Baillarger]] drei Jahre später sein Konzept der „folie à double forme“ als unterschiedliche Erscheinungsformen derselben Krankheit, wobei nicht unbedingt ein freies Intervall zwischen diesen beiden Extremzuständen liegen muss.


Die Evolutionstheorie befindet sich somit in einer post-genozentrischen Ära (Müller-Wille, Staffan und [[Hans-Jörg Rheinberger|Rheinberger]]<ref name="MWR 2009">S. Müller-Wille, H.-J. Rheinberger: ''Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme.'' Suhrkamp, 2009.</ref><ref name="DUP 2009-2">John Dupré: ''Darwins Vermächtnis.'' Suhrkamp 2009 u. dort bes. Kap.: ''Der genozentrische Fehlschluss.'' S. 89ff.</ref>), in der sie die komplexen, rekursiven, epigenetischen Zusammenhänge aufgreift und in einen kongruenten Theorierahmen einbinden muss. Als ein Beispiel wurde durch die [[Altenberg-16]]-Gruppe mit dem 2010 publizierten Konzept der "Erweiterten Synthese" ein neuer fächerübergreifender Ansatz vorgestellt<ref name="PM 2009-11">M. Pigliucci, G. Müller (Hrsg.): ''Evolution. The Extended Synthesis.'' 2010.</ref> und im Folgenden erweitert.<ref name="Laland-2015">Kevin N. Laland, Tobias Uller, Marcus W. Feldman, Kim Sterelny, Gerd B. Müller, Armin Moczek, Eva Jablonka, John Odling-Smee. The extended evolutionary synthesis: its structure, assumptions and predictions. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 282(1813). August 2015 [[DOI: 10.1098/rspb.2015.1019]]</ref>
Der deutsche Psychiater [[Emil Kraepelin]] nannte 1899 diese Erkrankung des „circulären Irreseins“ auch „manisch-depressives Irresein“, wobei er auch schon Mischzustände erkannte, bei denen manische und depressive Symptome gleichzeitig vorkommen. Auch für Kraepelin waren Manien und Depressionen Ausdrucksformen ein und derselben Krankheit.<ref name="WaldenGrunze1">Jörg Walden, Heinz Grunze: ''Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung.'' Stuttgart/New York 2003, ISBN 3-13-104993-6, S. 7 f.</ref>


=== Neue systemische Sicht auf die Entwicklung ===
Bei der [[Zeit des Nationalsozialismus|nationalsozialistischen]] [[Vernichtung lebensunwerten Lebens]]“, die von mehreren Psychiatern unterstützt –&nbsp;in einigen Fällen auch angestoßen&nbsp;– wurde, wurden Manisch-Depressive („zirkulär Irre“) als „[[Erbkrankheit|erbkrank]]“ eingestuft, [[Zwangssterilisation|zwangssterilisiert]] oder –&nbsp;dann mit der Diagnose „Schizophrenie“&nbsp;– in den Vergasungs-Anstalten der ''[[Aktion&nbsp;T4]]'' ermordet.
Einige Forscher, unter ihnen Brian K. Hall, Rudy Raff, [[Gerd B. Müller]], [[Walter Gilbert]], [[Marc Kirschner]], [[Massimo Pigliucci]], [[Mary Jane West-Eberhard]], gehen heute über die Analyse der Genregulationen hinaus und erweitern die Untersuchung auf das gesamte System Entwicklung als einen komplexen genetisch/epigenetisch evoluierten Apparat, der mit der Umwelt als ein integriertes, multikausales, nicht-lineares, offenes System interagiert.  


Kausale Erklärungen für die Entstehung und Variation organismischer Formen werden von diesen Forschern nicht ausschließlich auf der Gen-/Genregulationsebene gesucht, sondern auch bzw. primär in den epigenetischen Eigenschaften von Zellen, Zellaggregaten, Selbstorganisation, Organismus und Umwelt (s. Abb. 5).  
Im Jahre 1949 traf [[Karl Kleist (Neurologe)|Karl Kleist]] eine erbbiologische Unterscheidung unipolarer und bipolarer Krankheitsformen, und 1966 unterschieden [[Jules Angst]] und [[Carlo Perris]] bipolare Erkrankungen und unipolare Depressionen. „Bi-“ ist eine Vorsilbe lateinischen Ursprungs mit der Bedeutung „zwei“, unter „Pol“ versteht man eines von zwei (äußersten) Enden. Das eine Ende wird hierbei als das extreme Gegenteil des anderen betrachtet.


''Epigenese'' wird von Evo-Devo nicht synonym mit [[Epigenetik]] gebraucht, d. h. es sind nicht genregulatorische Aspekte wie ''DNA-Methylierungen'' gemeint, sondern die Summe der nicht programmierten Faktoren in der Embryonalentwicklung, wie z.&nbsp;B. chemische, physikalische oder dynamische Faktoren, die den Entwicklungsprozess organisatorisch beeinflussen.
== Leben mit der bipolaren affektiven Störung ==
Wie bei anderen Krankheiten gibt es leichtere oder schwerere Verläufe. Je früher die Krankheit erkannt wird, desto besser. Mit Erkennen der Frühwarnzeichen und Gegensteuern und Medikation kann man ein erfülltes Leben führen. Bei einem großen Teil der Patienten wird die berufliche und soziale Mobilität nicht wesentlich beeinträchtigt.


=== Eco-Evo-Devo ===
=== Auswirkungen ungünstiger Verläufe ===
Die '''Ökologische Evolutionäre Entwicklungsbiologie''' (kurz: '''Eco-Evo-Devo'''<ref name="GIL-2003-E" />) erweiterte mit der Einbeziehung der Umwelt die Disziplin maßgeblich (s. Abb. 1). [[w:Leigh Van Valen|Leigh Van Valen]] definierte 1973 Evolution als „die Kontrolle der Entwicklung durch die Umwelt“.
Menschen mit einer bipolaren Störung sind in ihrem Alltag starken Beeinträchtigungen und Leiden ausgesetzt. Aber auch Angehörige der Betroffenen haben stark unter einer, meistens jedoch mehrerer der angeführten Folgen zu leiden:
* Fremdgehen
* finanziellem Ruin
* distanzlosem, ruhelosem oder auffälligem Verhalten im Rahmen einer Manie
* Berufsunfähigkeit
* Wegfall partnerschaftlich-unterstützender Verhaltensweisen in Phasen der Depression sowie der zermürbenden Wiederkehr solcher Phasen
* [[Komorbidität]]en wie [[Alkoholkrankheit|Alkoholmissbrauch]]
* [[Stigmatisierung]] und Ausgrenzung


In dieses Feld fallen Überlegungen zur phänotypischen Plastizität oder Entwicklungsplastizität, d.&nbsp;h. die Fähigkeit des Organismus, in Abhängigkeit von wechselnden Umweltbedingungen unterschiedliche Phänotypen auszubilden. Zu nennen sind hier neben dem schon zitierten C. H. Waddington das Buch von Mary Jane West-Eberhard ''Development Plasticity and Evolution'' (2003) sowie das interdisziplinäre Buch von Scott F. Gilbert und David Epel ''Ecological Developmental Biology'' (2009). Die Einbeziehung der Umwelt und damit die Interaktionsfähigkeit der Evolution mit der Umwelt auf dem Weg über die Entwicklung wird zu einem wachsenden Forschungsthema (siehe ''[[#Die Evo-Devo-Forschungsthemen|Die Evo-Devo-Forschungsthemen]]'').
Wenn Betroffene eine akute Bedrohung oder Gefährdung für sich und/oder andere darstellen, können sie auch gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, entweder im Kontext einer öffentlich-rechtlichen [[Unterbringungsverfahren|Unterbringung]] bei Gefahr im Verzug oder im Zusammenhang einer betreuungsrechtlichen Unterbringung, die im Vorfeld beim [[Vormundschaftsgericht]] beantragt und von einem unabhängigen psychiatrischen Gutachter, der vom Gericht beauftragt wird, befürwortet werden muss. Der zuständige Richter des Vormundschaftsgerichtes hat im Vorfeld einer Unterbringung gegen den Willen des Betroffenen die Pflicht, diesen persönlich anzuhören. Ist die Unterbringung im Wege der [[Einstweilige Anordnung|einstweiligen Anordnung]] erfolgt, ist die Anhörung kurzfristig nachzuholen. Da die Manie für Betroffene persönlich eine Hochphase der Gefühle bedeutet, weigern sie sich häufig, freiwillig Medikamente einzunehmen, die diese Hochphase bekämpfen würden. Wenn die strengen Voraussetzungen, die der Gesetzgeber an eine Zwangsunterbringung stellt, die ja eine massive Einschränkung der Freiheitsrechte bedeutet, nicht erfüllt sind, müssen oft Angehörige die Phase „aussitzen“, was mehrere Wochen dauern und von gravierenden psychosozialen Problemen begleitet sein kann. Hilfen bieten in diesem Fall [[Sozialpsychiatrischer Dienst|sozialpsychiatrische Dienste]], [[Angehörigengruppe]]n oder auch der [[Allgemeiner Sozialer Dienst|Allgemeine Sozialdienst]] des zuständigen [[Jugendamt]]es an.
 
Kinder und Jugendliche leiden beispielsweise darunter, dass Mütter oder Väter in ihren akuten Phasen ganz oder teilweise bei der Erziehung und im Haushalt ausfallen. Für Kinder kann es schwierig sein, zu verarbeiten, dass ein Elternteil während dieser Zeit nicht dem Rollenbild, das üblicherweise mit der [[Soziale Rolle|Rolle]] der Mutter oder des Vaters verknüpft ist, entspricht. Ängste, die Störung geerbt zu haben, treten häufig auf und erfordern professionelle Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit der Eigenart des Elternteils und ihrer Bedeutung im eigenen Leben.
Als sehr wichtig hat sich erwiesen, dass Angehörige, die häufig so sehr unterstützend tätig sein müssen, nicht vergessen, immer wieder auch einmal ''an sich'' zu denken. Positiv und entlastend haben sich psychotherapeutische Schonräume erwiesen, in denen Angehörige ermutigt werden, auch negative Emotionen dem betroffenen Familienmitglied gegenüber sich selber einzugestehen und in der therapeutischen Situation auszudrücken.
 
=== Entstigmatisierung ===
Die Betroffenen haben nicht nur mit den Problemen zu kämpfen, dass sie oft die Unterstützung der Freunde und der Familienmitglieder verlieren, sondern dass sie aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Gegen die Diskriminierung kämpfen zahlreiche Prominente, die selber betroffen sind, dazu stehen und öffentlich darüber sprechen. Es gibt auch Projekte, die diesen oft sehr kreativen Leuten helfen sollen, Selbstvertrauen zu gewinnen und so ihre Anerkennung in der Gesellschaft zu erkämpfen. Ein solches Projekt war z.&nbsp;B. in Deutschland [[BipolArt]] von Magdalena Maya Ben, das unter der Schirmherrschaft von [[Kay Redfield Jamison]] 2005 mit einer Internetplattform wirkte.
 
=== Vorsorge ===
Für Bipolare ist das Thema [[Vorsorgevollmacht]] von entscheidender Bedeutung. In einer „normalen“ Phase sollte man sich bereits klar werden, was man im Falle einer Eigen- oder Fremdgefährdung wünscht.
Als Muster für diese Willenserklärung kann man sich an der sog. ''Bochumer Willenserklärung'' orientieren.<ref>{{Internetquelle | url=http://www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/WILLEN7.htm | titel=Bochumer Willenserklärung | zugriff=2013-12-11 | offline=ja | archiv-url=https://web.archive.org/web/20131218170811/http://www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/WILLEN7.htm | archiv-datum=2013-12-18}}</ref>
 
=== Kreativität ===
Während einer Manie kommt es schnell zu einem seelischen Chaos. Durch die Überdrehtheit während dieser Phase richten Betroffene Schaden an und sind nicht mehr in der Lage, Vernünftiges zu leisten. Depressionen und gemischte Episoden, die bei bipolar Erkrankten besonders quälend sind, werfen Betroffene regelrecht aus der Bahn und lähmen diese. Rechtsgeschäfte, die im Kontext einer manischen Phase zum Schaden des Betroffenen von diesem getätigt worden sind, können bei festgestellter [[Geschäftsunfähigkeit]] rückgängig gemacht werden (z.&nbsp;B. der Abschluss mehrerer Mietverträge oder der Kauf mehrerer Kraftfahrzeuge, die nicht benötigt werden).
 
Die Kreativitätsschübe erfolgen vorwiegend in der hypomanen Phase. Durch moderne Behandlungsmethoden (Medikation, Therapien wie kognitive Verhaltenstherapie, [[Gestaltungstherapie]], Kreativ-Atelier, manchmal auch nur einfache Betreuung als Ausgleich für evtl. erlittene Schockerlebnisse in der Kindheit und Jugend) kann die Kreativität meist erhalten bleiben, so dass sie als positiver Aspekt dieser Störung wirken kann.
 
Manisch-depressive Menschen sind in ihrem manisch anmutenden Arbeiten bei entsprechender Therapie und Betreuung dann zu Werken fähig, die Menschen ohne manische Erfahrung oftmals für unmöglich halten. Visionen zu verwirklichen, setzt in diesem Sinn allgemein einen manischen Antrieb voraus. Die kreative Umsetzung der manisch anmutenden Energie ist somit jeweils ein Glücksfall und ist in diesem Sinne auch anzustreben, wobei dann die körperliche Konstitution wiederum Grenzen setzt, z.&nbsp;B. [[Sehnenscheidenentzündung]]en an Armen und Händen oder [[Rückenschmerzen|Rückenbeschwerden]].
 
Nach einer Untersuchung von [[Kay Redfield Jamison]] von 1994 beträgt die Häufigkeit bipolarer Störungen bei kreativen Persönlichkeiten das 10-fache der Häufigkeit bei der Allgemeinbevölkerung. Mehr als ein Drittel aller zwischen 1705 und 1805 geborenen englischen und irischen Dichter sollen laut Jamison an bipolaren Störungen gelitten haben, mehr als die Hälfte an Stimmungsstörungen.<ref name="Wormer">[[Eberhard J. Wormer]]: ''Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. – Ein Manual für Betroffene und Angehörige.'' München 2002, S. 131–138.</ref>


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Evolutionäre Entwicklungsbiologie}}
* {{WikipediaDE|Bipolare Störung}}
* {{WikipediaDE|Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen}}


== Literatur ==
== Literatur ==
=== Konzeptionelle Grundlagen ===
'''Leitlinien'''
* Ron Amundson: ''The Changing Role of the Embryo in Evolutionary Thought.'' 2005, ISBN 0-521-80699-2.
* S3-Leitlinie [http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-020.html Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen] In AWMF online (Stand 25. Oktober 2012)
* Wallace Arthur: ''Biased Embryos and Evolution.'' Cambridge University Press, 2004, ISBN 0-521-54161-1.
 
* Ingo Brigandt: ''Jenseits des Neodarwinismus? Neuere Entwicklungen in der Evolutionsbiologie.'' In: [[Philipp Sarasin]], Marianne Sommer: ''Evolution – Ein interdisziplinäres Handbuch.'' J. B. Metzler, 2010, S. 115–126.
'''Psychiatrie'''
* Sean B. Carroll: ''EvoDevo – Das neue Bild der Evolution.'' Berlin 2008, ISBN 978-3-940432-15-5. (Orig.: Endless Forms Most Beautiful, USA 2006)
* Hans-Jörg Assion, Wolfgang Vollmoeller: ''Handbuch bipolare Störungen.'' Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-17-018450-3.
* Scott F. Gilbert: ''The morphogenesis of evolutionary development biology.'' 2003.
* Jörg Walden, Heinz Grunze: ''Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung.'' Thieme, Stuttgart/New York 2003, ISBN 3-13-104993-6.
* Mark C. Kirschner, John C. Gerhart: ''Die Lösung von Darwins Dilemma Wie Evolution komplexes Leben schafft.'' Rowohlt, 2007, ISBN 978-3-499-62237-3. (Orig.: The Plausibility of Life (2005))
* Michael Bauer (Hrsg.): ''Weißbuch Bipolare Störungen in Deutschland, Stand des Wissens – Defizite Was ist zu tun?'' 2. Auflage. Norderstedt 2006, ISBN 978-3-8334-4781-5.
* Alessandro Minelli, Giuseppe Fusco (Hrsg.): ''Evolving pathways - key themes in evolutionary developmental biology.'' Cambridge University Press, Cambridge/ New York 2008.
* Frederick K. Goodwin und Kay Refield Jamison: ''Manic depressive illness.'' Oxford University Press, 1990, ISBN 0-19-503934-3.
* Alessandro Minelli: ''Forms of Becoming - The Evolutionary Biology of Development.'' Princeton University Press, 2009, ISBN 978-0-691-13568-7.
* Kay Redfield Jamison: ''Touched with fire. Manic-depressive illness and the artistic temperament''. New York 1993, ISBN 0-684-83183-X (englisch).
* Gerd B. Müller, Stuart A. Newman: ''Origination of Organismal Form – Beyond the Gene in Development and Evolutionary Biology.'' MIT-Press, 2003, ISBN 0-262-13419-5.
* Volker Faust: ''Manie. Eine allgemeine Einführung in die Diagnose, Therapie und Prophylaxe der krankhaften Hochstimmung.'' Enke, Stuttgart 1997, ISBN 3-432-27861-6.
* Gerd B. Müller: ''Evodevo as a discipline in Minelli & Fusco.'' 2008.
* Klaus Dörner, Ursula Plog, Christine Teller, Frank Wendt: ''Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie.'' 3. Auflage. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2007, ISBN 978-3-88414-440-4.
* Christiane Nüsslein-Volhard: ''Das Werden des Lebens – Wie Gene die Entwicklung steuern.'' dtv, 2006, ISBN 3-423-34320-6.
* Christian Scharfetter: ''Allgemeine Psychopathologie. Eine Einführung.'' Thieme, Stuttgart/New York 2002, ISBN 978-3-13-531505-8.
* Massimo Pigliucci, Gerd Müller: ''Evolution – the Extended Synthesis.'' MIT Press, 2010, ISBN 978-0-262-51367-8.
* M. Hatzinger (Hrsg.), J. M. Aubry, F. Ferrero, Schaad: ''Pharmakotherapie bipolarer Störungen.'' Hans Huber Verlag, Bern 2006, ISBN 978-3-456-84326-1.
* Andreas Sentker: [http://www.zeit.de/2005/40/N-Evolution?page=all ''Darwins kluge Erben.''] In: ''Die Zeit.'' Nr. 40, 29. September 2005.
* Mary Jane West-Eberhard: ''Development Plasticity and Evolution.'' Oxford University Press, 2003.


=== Weiterführende Literatur und Internetartikel ===
'''Psychotherapie'''
* BDTNP Berkeley Transcription Drosophila Network Project
* Thomas D. Meyer, Martin Hautzinger: ''Manisch-depressive Störungen''. Beltz Psychologie Verlags Union, 2004, ISBN 3-621-27551-7. Auf die Bipolare affektive Störung abgestimmte kognitive Verhaltenstherapie.
* Scott F. Gilbert, David Epel: ''Ecological Development Biology. Integrating Epigenetics, Medicine and Evolution.'' Sinauer Ass. USA, 2009.
* Stavros Mentzos: ''Depression und Manie. Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen''. Göttingen 2001, ISBN 3-525-45775-8. Ein alternativer Ansatz, mit dem der Autor affektive psychische Störungen psychodynamisch zu erklären sucht, insbesondere einen hohen Stellenwert der Art des Selbstwertgefühls postuliert.
* Eva Jablonka, Marion J. Lamb: ''Evolution in four Dimensions. Genetic, Epigenetic, Behavioral and Symbolic Variation in the History of Lfe.'' MIT Press, 2005. [http://www.explorelifeonearth.org/cursos/JablonkaLamb2005.pdf (PDF; 6,2&nbsp;MB)]
* Thomas Bock, Andreas Koesler: ''Bipolare Störungen. Manie und Depression verstehen und behandeln''. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2005, ISBN 978-3-88414-392-6.
* Gerd B. Müller, Stuart A. Newman: ''The Innovation Triad. An EvoDevo Agenda.'' In: ''Journal of Experimental Zoology.'' 304B, 2005, S. 487–503.
* M. Neukamm: ''Evolutionäre Entwicklungsbiologie: Neues Paradigma.'' In: ''Laborjournal.'' 15(11), 2009, S. 24–27. [http://www.ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2009/lj_1109_evodevo.pdf (pdf)]
* Frederic Nihjout: ''Researchers evolve a komplex genetic trait in the labratory.'' 2006.
* Massimo Pigliucci: ''What, if anything, Is an Evolutionary Novelty?'' In: ''Philosophy of Science.'' 75, 12/2008, S.&nbsp;887–898.
* Pavel Tomancak u. a.: ''Patterns of gene expression in animal development.'' 2007.
* Lyudmila N. Trut: ''Early Canid Domestication: The Farm-Fox Experiment.'' In: ''American Scientist.'' Band 87, 1999.
* Emma Young: ''Rewriting Darwin. The new non-genetic inheritance.'' In: ''New Scientist magazine.'' 2008.


=== Anthoposophische Literatur ===
'''Aufsätze'''
* Heinz Grunze, Emanuel Severus: ''Bipolare Störungen erkennen. Die Kunst der korrekten Diagnose''. In: ''Der Neurologe & Psychiater'', Sonderheft 1/2005.
* David J. Miklowitz, Michael W. Otto et al.: ''Psychosocial Treatments for Bipolar Depression. A 1-Year Randomized Trial From the Systematic Treatment Enhancement Program''. In: ''Archives of General Psychiatry'', Bd. 64, Nr. 4, April 2007, S.&nbsp;419–426 (englisch; [http://archpsyc.ama-assn.org/cgi/content/full/64/4/419 Volltext]).


* Friedrich A. Kipp: ''Die Evolution des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit'', 2. Aufl., Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1991, ISBN 978-3772507182
== Weblinks ==
*[[Ernst-Michael Kranich]]: ''Von der Gewissheit zur Wissenschaft der Evolution'', Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1989, ISBN 978-3-772-50580-5 (in überarbeiteter Fassung: Thinking beyond Darwin, Hudson N. Y. 1999. ISBN 0-940262-93-2)
{{Commonscat|Bipolar disorder|Bipolare Störung}}
*Christoph J. Hueck: ''Evolution im Doppelstrom der Zeit: Die Erweiterung der naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre durch die Selbstanschauung des Erkennens'', Verlag am Goetheanum, Dornach 2012, ISBN 978-3723514689
* Volker Faust: [http://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/manie-internet.pdf ''Manie: Krankhafte Hochstimmung mit Folgen''] (PDF; 486 kB)
* Axel Ziemke: ''Alle Schöpfung ist Werk der Natur: Die Wiedergeburt von Goethes Metamorphosenidee in der Evolutionären Entwicklungsbiologie'', Info3 Verlag 2015, ISBN 978-3957790309
* [http://www.nimh.nih.gov/health/topics/bipolar-disorder/index.shtml Informationen zur bipolaren Störung] auf der Website des National Institute of Mental Health (NIMH) der USA
* Jochen Paulus: [http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/bipolare-stoerung/-/id=660374/nid=660374/did=8969586/1ofvclx/index.html ''Glück und Pein des Wahns – Die bipolare Störung und ihre Behandlung''.] SWR2 Wissen; Sendung mit MP3 und Download des Manuskriptes.


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


{{Normdaten|TYP=s|GND=7663051-1}}
{{Gesundheitshinweis}}
{{Normdaten|TYP=s|GND=4037350-2}}


[[Kategorie:Entwicklungsbiologie]]
{{SORTIERUNG:Bipolare Storung}}
[[Kategorie:Evolution]]
[[Kategorie:Affektive Störung]]
[[Kategorie:Wikipedia:Artikel mit Video]]
[[Kategorie:Psychische Störung]]


{{Wikipedia}}
{{Wikipedia}}

Version vom 3. August 2019, 19:08 Uhr

Klassifikation nach ICD-10
F31 Bipolare affektive Störung
F31.0 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig hypomanische Episode
F31.1 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische Episode ohne psychotische Symptome
F31.2 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische Episode mit psychotischen Symptomen
F31.3 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradige depressive Episode
F31.4 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome
F31.5 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
F31.6 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig gemischte Episode
F31.7 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig remittiert
F31.8 Sonstige bipolare affektive Störungen
F31.9 Bipolare affektive Störung, nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2016)

Bipolare Störung ist die etablierte Kurzbezeichnung für die bipolare affektive Störung (BAS). Früher wurde sie auch als manische Depression oder manisch-depressive Erkrankung bezeichnet. Bei der BAS handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die zu den Stimmungsstörungen (Affektstörungen) gehört.

Die Krankheit zeigt sich durch phasenhafte, zweipolig entgegengesetzte (= bipolare) Extremschwankungen der Stimmung, des Antriebs und der Aktivität. Die Auslenkungen reichen weit über das Normalniveau hinaus und die Betroffenen pendeln dabei zwischen Depression und Manie hin und her, ohne diese Wechsel willentlich noch kontrollieren zu können.

Zwischen diesen Episoden kehren Menschen mit bipolarer Störung in der Regel in einen unauffälligen Normalzustand zurück. Antrieb und Gemüt unterliegen dann wieder den normalen Schwankungen. Die BAS tritt in unterschiedlichsten Schweregraden auf. Personen mit bipolarer Störung erscheinen in der manischen Episode leicht als charismatische Persönlichkeit. Die Störung sollte jedoch sehr ernst genommen werden, insbesondere wegen möglicher negativer sozialer Folgen für den Patienten.

Die sozioökonomischen Auswirkungen dieser Erkrankung auf die Volkswirtschaft beliefen sich 1991 allein in den USA auf 45 Milliarden Dollar. Bipolare Störungen gehören laut der Weltgesundheitsorganisation zu den zehn Krankheiten, die weltweit am meisten zu dauernder Behinderung führen. Nicht zu unterschätzen ist auch das erhöhte Suizidrisiko: Ungefähr 25 % bis 50 % aller Menschen mit bipolarer Störung unternehmen mindestens einen Suizidversuch. Etwa 15 % bis 30 % der Patienten töten sich.[1]

Bezeichnungen

Bis vor einigen Jahren wurde die bipolare Störung meist manisch-depressive Erkrankung, manisch-depressive Psychose oder manisch-depressives Irresein (von dem Psychiater Emil Kraepelin Ende des 19. Jahrhunderts geprägt) genannt. Umgangssprachlich wird sie mitunter als manische Depression bezeichnet, was missverständlich ist.

Auch die Bezeichnungen manisch-depressive Erkrankungen oder manisch-depressive Krankheit sind als Synonyme gebräuchlich und werden in der Öffentlichkeit in der Regel besser verstanden. Sie legen allerdings nahe, es handle sich um eine vorübergehende und heilbare Veränderung, was wiederum missverständlich ist. Ein unter Ärzten und Behörden oft verbreiteter Ausdruck für die bipolare Störung ist bipolare Psychose oder affektive Psychose.

Das Wort Psychose wird in der Fachwelt unterschiedlich verwendet: Einige subsumieren nur Wahn darunter, andere verwenden den Begriff für alle gravierenden psychischen Störungen (zu denen bipolare Störungen sicher gehören).

Beschreibung

Die bipolare affektive Störung ist durch einen episodischen Verlauf mit depressiven, manischen, hypomanischen oder gemischten Episoden gekennzeichnet:

  • Depressive Phasen zeichnen sich durch überdurchschnittlich gedrückte Stimmung und verminderten Antrieb aus. Bei starken Depressionen kann es zu Suizidgedanken kommen.
  • Eine manische Episode ist durch gesteigerten Antrieb und Rastlosigkeit gekennzeichnet, was oft mit inadäquat überschwänglicher oder gereizter Stimmung einhergeht. Dabei ist die Fähigkeit zur Prüfung der Realität mitunter stark eingeschränkt, und die Betroffenen können sich in große Schwierigkeiten bringen.
  • Unter einer Hypomanie versteht man eine nicht stark ausgeprägte Manie, typischerweise ohne gravierende soziale Konsequenzen. Eine Hypomanie liegt jedoch bereits deutlich über einem normalen Aktivitäts- und/oder Stimmungsausschlag.
  • Eine gemischte Episode ist gekennzeichnet durch gleichzeitiges oder rasch wechselndes Auftreten von Symptomen der Manie und der Depression. Beispielsweise trifft ein verstärkter Antrieb mit einer gedrückten Grundstimmung zusammen.[2]

Meist beginnt eine bipolare Störung in der Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenenalter. Oftmals wird sie sowohl von Betroffenen als auch von Medizinern erst viele Jahre nach Ausbruch erkannt. Häufig hat also bereits eine lange Leidenszeit bestanden, bevor eine Behandlung beginnt.

Da die Symptome starke Auswirkungen auf Entscheidungen und Beziehungen haben, können zum Zeitpunkt der Diagnose die Lebenswege schon erheblich durch sie beeinflusst sein, zumal sie meist in jungen Jahren beginnen, in denen die Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist. Häufig kommt es zu Problemen in der Ausbildung, im Arbeits- und Familienleben oder zu jähen Wechseln im Lebenslauf. Ist die Störung erkannt, können die Auswirkungen mit einer entsprechenden Behandlung durch Spezialisten möglicherweise gemildert werden.

Die bipolare Störung wird oft mit Kreativität in Verbindung gebracht. Zu den Betroffenen zählen viele erfolgreiche Menschen. Der gesteigerte Antrieb in hypomanen Phasen kann für ungewöhnliche und gewagte Projekte begeistern, und Ziele werden oft mit großem Engagement verfolgt.

Die bipolare Störung ist eine recht häufige Störung: Werden auch leichtere Fälle berücksichtigt, so sind laut einigen Untersuchungen in den Industrieländern drei bis vier Prozent der Bevölkerung zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens von ihr betroffen.

Diagnostik

Hypomanien werden von Ärzten oft nicht zur Kenntnis genommen, oder sie erfahren in der Anamnese nichts davon, so dass bipolare Störungen dann nicht angemessen behandelt werden. Aber auch Depressionen werden oft nicht erkannt. Noch weniger bekannt sind die Symptome manisch-depressiver Krankheiten in der Öffentlichkeit. Daher wird nur ein geringer Teil aller Betroffenen derzeit korrekt diagnostiziert.

Folgende Umstände erschweren eine Diagnose:[3]

  • 30 % Mischzustand: Lediglich knapp die Hälfte aller Manien ist entgegen weit verbreiteter Ansicht und Darstellung durch Euphorie (himmelhoch-jauchzend) gekennzeichnet. Oft gehen gleichzeitig depressive Symptome mit einher, die letztlich (zu 40 %) in einen Mischzustand münden können. Wenn diese Mischsymptomatik nicht als solche erkannt wird, kommt es schnell zu Fehldiagnosen.
  • Verbreitete Beschreibungen nennen finanziellen Ruin, Bedenkenlosigkeit bei Trennungen und Wahn bei Manien als typische Elemente, so dass Manien, die diese Phänomene nicht aufweisen, nicht als solche wahrgenommen werden.
  • In der Manie kommt es vielfach zu exzessivem Alkohol- oder Drogenkonsum, so dass eine bipolare Störung vorschnell als Alkohol- oder Drogenabhängigkeit eingeordnet wird.
  • Wenn Suchtkrankheiten als Komorbidität vorkommen, besteht eine erhöhte Gefahr, dass die Grunderkrankung verschleiert wird.
  • Depression: Eine rezidivierende unipolare Depression ist die häufigste Fehldiagnose bei bipolaren Störungen. Dies kommt daher, weil hypomane Phasen meist nicht als solche erkannt, berichtet oder erfragt werden.
  • ADHS: Bei Kindern und Jugendlichen ist die Abgrenzung zum Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) manchmal schwierig.
  • Schizophrenie: Psychotische Symptome, die bei schweren Manien auf deren Höhepunkt vorkommen können, führen oft zur Fehldiagnose einer Schizophrenie oder einer schizoaffektiven Störung.

Kriterien nach ICD-10 oder DSM-IV

Für die Diagnose von manischen, hypomanischen, depressiven und gemischten Episoden gibt es Kataloge mit genauen Kriterien, welche die Symptome und andere Bedingungen (z. B. Anhalten der Symptome über eine definierte Zeit lang) beschreiben, die für eine Diagnose erfüllt sein müssen.

Eine solche Auflistung von Symptomen findet sich beispielsweise in der ICD-10, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die verschiedenen Formen der bipolaren affektiven Störung werden dort unter dem Schlüssel F31 klassifiziert, dabei wird zwischen zehn verschiedenen Ausprägungen unterschieden.[4]

Die folgenden Kriterien stammen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (einem viel verwendeten US-amerikanischen Klassifikationssystem, abgekürzt als DSM-IV).[5]

Manische Episode

A. Eine ausgeprägte Periode abnormer und ständiger gehobener, überschwänglicher oder gereizter Stimmung, die über eine Woche dauert (oder Krankenhausaufenthalt).

B. Während der Periode der Stimmungsstörung halten drei (oder mehr) der folgenden Symptome bis zu einem bedeutsamen Grad beharrlich an:

  1. übertriebenes Selbstbewusstsein oder Größenwahn
  2. verringertes Schlafbedürfnis (z. B. Erholungsgefühl nach nur drei Stunden Schlaf)
  3. gesprächiger als üblich oder Drang zum Reden
  4. Ideenflucht oder subjektives Gefühl, dass die Gedanken rasen
  5. Zerstreutheit (Aufmerksamkeit wird zu leicht zu unwichtigen oder belanglosen externen Reizen gezogen)
  6. Zunahme zielgerichteter Aktivitäten (entweder sozial, am Arbeitsplatz oder in der Schule oder sexuell) oder psychomotorische Unruhe
  7. exzessive Beschäftigung mit angenehmen Tätigkeiten, die höchstwahrscheinlich negative Folgen hat (z. B. ungehemmter Kaufrausch, sexuelle Taktlosigkeiten oder törichte geschäftliche Investitionen)

C. Die Symptome werden nicht besser durch die Kriterien der gemischten Episode beschrieben.

D. Die Stimmungsstörung ist hinlänglich schwer, um eine ausgeprägte Beeinträchtigung in beruflichen Aufgabengebieten oder unübliche soziale Aktivitäten oder Beziehungen mit anderen zu bewirken oder sie erfordern einen Krankenhausaufenthalt, um Selbst- oder Fremdschädigung zu verhindern, oder es gibt andere psychotische Merkmale.

E. Die Symptome sind nicht durch direkte physiologische Effekte einer Substanz (z. B. Drogenkonsum, Medikamente oder andere Behandlungen) oder eine generelle medizinische Verfassung (z. B. Überfunktion der Schilddrüse) verursacht.

Schwere depressive Episode

A. Fünf (oder mehr) der folgenden Symptome sind während einer Zwei-Wochen-Periode vorhanden und bedeuten eine Änderung des bisherigen Verhaltens, Gefühlslebens oder Leistungsfähigkeit, wobei mindestens eines der Symptome eine depressive Verstimmung oder der Verlust von Interesse und Freude ist:

  1. depressive Stimmung fast den ganzen Tag, beinahe jeden Tag, angezeigt entweder durch subjektiven Bericht (fühlt sich z. B. traurig oder leer) oder durch Beobachtung anderer (erscheint z. B. weinerlich). Anmerkung: Bei Kindern und Heranwachsenden kann eine gereizte Stimmung vorliegen;
  2. deutlich vermindertes Interesse oder Freude bei allen oder beinahe allen Aktivitäten fast den ganzen Tag, beinahe jeden Tag (wird entweder durch eigenen Bericht oder Beobachtungen anderer festgestellt);
  3. erheblicher Gewichtsverlust ohne Diät oder Gewichtszunahme (z. B. eine Veränderung des Körpergewichts um mehr als fünf Prozent in einem Monat) oder Ab- oder Zunahme des Appetits beinahe jeden Tag;
  4. Schlaflosigkeit oder übersteigertes Schlafbedürfnis beinahe jeden Tag;
  5. psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung fast jeden Tag (beobachtet durch andere, nicht nur subjektive Gefühle der Ruhelosigkeit oder der Erschöpfung);
  6. Erschöpfung oder Verlust der Energie beinahe jeden Tag;
  7. Gefühl der Wertlosigkeit oder ausgeprägte und unangemessene Schuldgefühle (die auch wahnhaft sein können), beinahe jeden Tag (nicht nur Selbstvorwurf oder Schuldgefühle, weil man krank ist);
  8. verminderte Fähigkeit, zu denken oder sich zu konzentrieren, oder Entscheidungsunfähigkeit beinahe jeden Tag (entweder durch subjektiven Bericht oder Beobachtung Anderer festgestellt);
  9. wiederkehrende Todesgedanken (nicht nur Furcht zu sterben), wiederkehrende Suizidgedanken ohne spezifischen Plan oder ein Suizidversuch oder eine konkrete Planung eines Suizids.

B. Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien für eine gemischte Episode.

C. Die Symptome verursachen klinisch bedeutsames Leiden oder eine Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Aufgabengebieten.

D. Die Symptome beruhen nicht auf einem direkten physiologischen Effekt einer Substanz (z. B. einem Drogenkonsum, einer Medikation) oder einer generellen medizinischen Verfassung (z. B. Überfunktion der Schilddrüse).

E. Die Symptome werden nicht besser durch Trauer erklärt, z. B. über den Verlust einer geliebten Person. Oder: Die Symptome dauern länger als zwei Monate an oder sind gekennzeichnet durch eine ausgeprägte funktionale Beeinträchtigung, krankhafte Beschäftigung mit Wertlosigkeit, Suizidgedanken, psychotische Symptome oder psychomotorische Verlangsamung.

Hypomanische Episode

A. Eine mindestens vier Tage andauernde, ausgeprägte Periode ständig gehobener, überschwänglicher oder gereizter Stimmung, die eindeutig verschieden von der üblichen nichtdepressiven Stimmung ist.

B. Während der Phase der Stimmungsstörung sind drei (oder mehr) der folgenden Symptome (vier, wenn die Stimmung nur gereizt ist) bis zu einem gewissen Grad ständig vorhanden:

  1. überhöhtes Selbstwertgefühl oder Größenwahn
  2. vermindertes Schlafbedürfnis (z. B. Erholungsgefühl nach nur drei oder weniger Stunden Schlaf)
  3. gesprächiger als üblich oder Rededrang
  4. Ideenflucht oder subjektive Erfahrung des Gedankenrasens
  5. Zerstreutheit (das bedeutet Fokussierung auf unwichtige oder unerhebliche externe Reize)
  6. Zunahme zielgerichteter Aktivitäten (entweder sozial, beruflich oder in der Schule, oder sexuelle oder psychomotorische Unruhe)
  7. übertriebenes Engagement bei Vergnügungen, die in einem hohen Maße schmerzhafte Konsequenzen nach sich ziehen (z. B. hemmungsloser Kaufrausch, sexuelle Indiskretionen oder leichtsinnige geschäftliche Investitionen)

C. Die Episode wird begleitet von Veränderungen der Leistungsfähigkeit oder des Verhaltens, die für die Person in symptomfreien Phasen uncharakteristisch ist.

D. Die Stimmungsstörung und der Wechsel des Auftretens werden durch Andere beobachtet.

E. Die Episode ist nicht schwer genug, um eine ausgeprägte Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen Aufgabenbereichen zu verursachen oder einen Krankenhausaufenthalt zu erfordern, und es gibt keine psychotischen Merkmale.

F. Die Symptome sind nicht durch direkte physiologische Effekte einer Substanz (z. B. Drogenkonsum, Medikamente oder andere Behandlungen) oder eine generelle medizinische Verfassung (z. B. Überfunktion der Schilddrüse) verursacht.

Anmerkung: Hypomaniegleiche Episoden, die eindeutig durch somatische antidepressive Behandlung verursacht sind (Medikamente, Elektroschocktherapie, Lichttherapie), sollten nicht einer Diagnose Bipolare II Störung zugerechnet werden.

Gemischte Phase

A. Für mindestens eine Woche werden fast jeden Tag sowohl die Kriterien für eine manische Phase als auch für eine depressive Phase erfüllt (abgesehen vom Kriterium der Dauer).

B. Die Störung der Stimmung ist schwer genug, um eine ausgeprägte Beeinträchtigung in beruflichen Aufgabengebieten oder unübliche soziale Aktivitäten oder Beziehungen mit anderen zu bewirken, oder sie erfordert einen Krankenhausaufenthalt, um Selbst- oder Fremdschädigung zu verhindern, oder es gibt andere psychotische Merkmale.

C. Die Symptome sind nicht durch direkte physiologische Effekte einer Substanz (z. B. Drogenkonsum, Medikamente oder andere Behandlungen) oder eine generelle medizinische Verfassung (z. B. Überfunktion der Schilddrüse) verursacht. Anmerkung: Der gemischten Phase vergleichbare Episoden, die eindeutig durch somatische antidepressive Behandlung verursacht sind (Medikamente, Elektroschocktherapie, Lichttherapie), sollten nicht einer Diagnose: Bipolare I Störung zugerechnet werden.

Begleiterkrankungen (Komorbidität)

Bei Erwachsenen ist Alkohol- und sonstiger Drogenmissbrauch mit 2/3 die häufigste Komorbidität, gefolgt von Panikstörungen und Persönlichkeitsstörungen. Medikamentenmissbrauch tritt vor allem in postmanischen Mischzuständen und den darauf folgenden schweren Depressionen auf.

Krankheitsphasen

Manie (manische Episode)

Hauptartikel: Manie

Während einer Manie konzentriert der Betroffene oft seine volle Kapazität auf meist angenehme Teilaspekte seines Lebens, wobei andere Aspekte vernachlässigt oder völlig ignoriert werden. So kann es vorkommen, dass der Betroffene seine gesamte Energie auf sein berufliches oder freiwilliges Engagement, für einen neuen Partner oder auf Sexualität fokussiert, gleichzeitig aber wichtige oder wichtigere Dinge wie z. B. seinen Haushalt oder seinen Beruf oder seine Familie völlig vernachlässigt. Die vermehrte Leistungsbereitschaft kann zunächst auch zu Erfolgen führen. So kann der Betroffene während einer Manie, mehr noch aber bei einer Hypomanie, bei vorhandener Begabung sehr respektable Leistungen vollbringen. Auch die übersteigerte Geselligkeit und Schlagfertigkeit kann gut ankommen. Der Schlaf reduziert sich jedoch extrem und der Körper wird entsprechend überanstrengt.

Bei stärkeren Ausprägungen kann es zu Realitätsverlust und Wahn kommen. Dies ist in postmanischen Mischzuständen häufig der Fall. Die Selbstüberschätzung und die Grandiositätsgefühle während der Manie können in einen Größenwahn (Megalomanie oder Cäsarenwahnsinn) umschlagen. Dabei kann ein religiöser Wahn, auch religiöser Größenwahn auftreten. Auch wegen des durch die Manie hervorgerufenen teils extremen Schlafmangels können Halluzinationen hervorgerufen werden.

Vielen Betroffenen fällt es schwer, einen Normalzustand oder Normalität als erstrebenswert anzusehen. Es kommt deshalb nicht selten zu einer Bevorzugung des hypomanischen Zustands, was häufig zu Compliance-Problemen bei der Phasenprophylaxe führt.

Hypomanie

Hauptartikel: Hypomanie

Die Hypomanie ist die abgeschwächte Form der Manie. Besondere Merkmale sind die gehobene Grundstimmung und gesteigerter Antrieb, die mit gleichzeitigen Veränderungen im Denken im Sinne eines sprunghafteren, unkonzentrierteren Denkens (Ideenflucht) und einer Veränderung der Psychomotorik verbunden sein können. Durch die gehobene Stimmung kommt es zu einem größeren Selbstbewusstsein, einer erhöhten Risikofreudigkeit und zu Grenzverletzungen. Die Leistungsfähigkeit ist in diesem Zustand am höchsten.

Depression (depressive Episode)

Hauptartikel: Depression

Die Depression verkehrt alle Aspekte der Manie ins Gegenteil und zwingt den Betroffenen zu Apathie und Lustlosigkeit. Bei dieser Erkrankungsphase höchsten Leidens erscheint sehr oft der Tod als besserer Zustand. Auch beschämen dann oft Taten aus der manischen Phase. Eine Depression wird als viel schlimmer empfunden als eine depressive Stimmung, die auch viele gesunde Menschen gelegentlich erleben. Depressive Episoden kommen im fortgeschrittenen Alter häufiger vor.

Verlaufsformen

Manische oder depressive Episoden treten häufig, aber nicht ausschließlich, nach einem belastenden Lebensereignis auf. Das erstmalige Auftreten der Störung kann in jedem Alter geschehen. Die ersten Symptome treten jedoch meist zwischen 15 und 30 Jahren auf. Die Betroffenen durchleben in den ersten 10 Jahren meist vier verschiedene Phasen. Häufigkeit und Dauer der einzelnen Phasen sind sehr unterschiedlich. Generell lässt sich jedoch sagen, dass manische Phasen in der Regel etwas kürzer dauern als depressive Episoden, dass die Intervalle zwischen den Phasen im Laufe der Zeit kürzer werden und dass mit zunehmendem Lebensalter häufiger depressive Phasen auftreten und diese länger andauern. Nach einigen Phasen der Störung können sich innere Rhythmen ausbilden, die auch unabhängig von äußeren Ereignissen wirken. Mitunter, wenn nach der ersten oder den ersten Episoden keine weiteren mehr auftreten, sie also nicht schnell genug erkannt und adäquat behandelt werden, tritt die bipolare Störung dann bei vielen als eine lebenslange, chronische Störung in Erscheinung.

Es gibt eine Rückkoppelung zwischen den Erlebnissen und dem Handeln einer Person auf der einen Seite und seiner Biochemie und Symptomatik auf der anderen Seite. Mangelnde Einsicht (in den manischen Phasen) ist ein Symptom der Störung, ohne dieses Element wäre das selbstschädigende Verhalten nicht möglich. Je mehr Zeit vergeht, bevor Einsicht erlangt wird, desto stärker werden Hirnstrukturen geprägt, was die Prognose negativ beeinflusst. Hinzu kommt der Einfluss von störungsbedingten Entscheidungen (Probleme am Arbeitsplatz und in Beziehungen, Schulden) auf die Lebensoptionen.

Gemäß den neuesten Studien erreichen bis zu 40 % nach Phasen von Manie oder Depression ihr ursprüngliches Funktionsniveau nicht mehr. 40 % der Betroffenen haben einen günstigen psychosozialen Verlauf bzw. können ihr soziales Umfeld bzw. ihre Position in der Gesellschaft erhalten. Im Fall bleibender Symptome wie Konzentrationsschwäche oder Müdigkeit spricht man von residualen Symptomen. Dauert die Störung länger mit mehreren längeren Klinikaufenthalten, besteht die Gefahr, dass der betroffenen Person vielfach der soziale Halt verloren geht, oft auch der Arbeitsplatz. Mitunter zerbricht die Familie.

Bipolar I – Bipolar II

Die bipolaren Störungen werden unterteilt in Bipolar I und Bipolar II.

Bipolar-I-Störung. Die x-Achse ist die Zeit-Achse. Die oszillierenden Schwankungen stehen für die Ausschläge von Antrieb, Aktivität und Stimmung in Richtung der extremen Pole Manie bzw. Depression.

Als Bipolar I wird eine 7 bis 14 Tage oder seltener auch länger andauernde manische Episode (Hochphase) bezeichnet, gefolgt von mindestens einer depressiven Episode. Die Bipolar-I-Störung kommt bei etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung vor. Frauen und Männer sind gleich häufig betroffen.

Bipolar II beinhaltet eine mindestens 14 Tage andauernde depressive Episode, gefolgt von mindestens einer Hypomanie (leichtere Form der Manie). Die Bipolar-II-Störung kommt bei rund vier Prozent der Bevölkerung vor. Bipolar-II-Störungen können mit rezidivierenden depressiven Störungen (Depressionen, die nach einem Zwischenzustand des Normalen immer wieder auftreten) verwechselt werden, wenn die hypomanen Phasen nicht erkannt werden.

Switching – Zyklothymia

Bipolar-II-Störung

Switching (Polaritätswechsel) wird der übergangslose Wechsel zwischen Manie (oder Hypomanie) und Depression genannt.

Bei einer Zyklothymia sind die Betroffenen mindestens zwei Jahre lang leichten manischen und depressiven Schwankungen ausgesetzt, die allerdings immer noch deutlich über den normalen Stimmungsschwankungen liegen. Nach ICD-10 wird die Zyklothymia nicht zur bipolaren Störung gerechnet.

Rapid Cycling

Von Rapid Cycling wird bei mindestens vier Stimmungsumschwüngen im Jahr gesprochen, Ultra Rapid Cycling beschreibt Stimmungsumschwünge innerhalb von wenigen Tagen und Ultradian Rapid Cycling (Ultra-Ultra Rapid Cycling) die Umschwünge innerhalb von wenigen Stunden. Patienten mit einem Rapid-Cycling-Verlauf werden häufig in einer Klinik behandelt. Sie benötigen eine spezielle Therapie, weil der häufige Episodenwechsel mit klassischen Medikamenten oftmals nicht ausreichend behandelbar ist und daher üblicherweise zu Stimmungsstabilisatoren gegriffen wird. Die Ursachen sind bis zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt. Das Selbsttötungs-Risiko ist bei Rapid Cycling hoch und die Prognose schlechter.

Mischzustände (dysphorische Manien)

Wenn während einer bipolaren Episode depressive und manische Symptome in rascher Aufeinanderfolge auftreten, oder wenn sich depressive und manische Symptome durch gleichzeitiges Auftreten mischen, nennt man das einen manisch-depressiven Mischzustand oder eine gemischte Episode. Die betroffenen Patienten können z. B. sehr schnell denken oder sprechen, wie es für eine manische Episode typisch ist. Gleichzeitig können sie aber sehr ängstlich sein, Selbstmordgedanken haben und unter gedrückter Stimmung leiden; auch Ultra- und Ultradian Rapid Cycling lassen sich in diesen Episoden bei Patienten feststellen, die sonst nicht von dieser Art des Switchings betroffen sind. Mischzustände treten häufig in der postmanischen Phase auf und sind auch darin begründet, dass Betroffene in der manischen Phase nicht mehr fähig sind, richtig zu schlafen. Sie sind häufig und kommen mindestens so oft vor wie klassische Manien. Der erhöhte Antrieb kann verursachen, dass depressive Gedanken in die Tat umgesetzt werden, so dass das Suizidrisiko in diesen Zuständen wesentlich höher ist als in der reinen Depression, in welcher der Antrieb gelähmt ist. Wie bei Rapid Cycling finden hier oft stimmungsstabilisierende Psychopharmaka Anwendung. Es handelt sich um schwere Episoden, die schwieriger zu behandeln sind als die klassischen Phasen der bipolaren Störung.

Suizidrisiko

An bipolaren Störungen Leidende haben generell ein um ein Vielfaches erhöhtes Suizidrisiko. Durchschnittlich nahmen sich 15 bis 30 % das Leben. In manchen Gegenden – wie für Schottland nachgewiesen – ist die Suizidrate von Betroffenen 23 Mal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt, und in manchem Lebensabschnitt – beispielsweise im Zeitraum von zwei bis fünf Jahren nach der Erstmanifestation – ereignen sich besonders viele Suizide.[6][7][8]

Besonders riskant sind Depressionen, bei denen die Lähmung des Antriebs noch nicht vorhanden oder bereits wieder etwas verbessert ist, so dass die Selbsttötung umgesetzt werden kann. Auch gemischte Phasen (Mischzustände), bei denen in quälender Weise manische und depressive Symptome zugleich auftreten, bergen infolge der dysphorischen bzw. verzweifelten Stimmung und des enorm hohen Antriebsniveaus ein Selbsttötungsrisiko. Ein weiterer Grund kann sich auch bei klarer Überlegung zwischen den Phasen halten: Menschen, die unter bipolaren Störungen mit ungünstiger Prognose und vielen bereits durchlebten Phasen leiden, wissen, dass wieder und wieder Depressionen kommen werden und wie qualvoll diese sind.

Psychoaktive Substanzen

Neben Stress und Schlafmangel wirken sich auch psychoaktive Substanzen wie Koffein, Alkohol, Tabakrauch und andere Drogen bei bipolaren affektiven Störungen ungünstig aus. Oftmals sind zudem Wechselwirkungen mit den verordneten Medikamenten zu erwarten, weswegen ein vollständiger Verzicht darauf meist von Vorteil sein kann.

  • Koffein wirkt sich ungünstig auf die Schlafdauer aus und fördert Nervosität und Unruhe; Betroffene können in besonderer Weise dafür anfällig sein und könnten eine Manie dadurch auslösen.
  • Alkohol wirkt sich – neben der Gefahr einer Abhängigkeit – entgegen populären Ansichten negativ auf Schlaftiefe und Schlafdauer aus und wirkt enthemmend, was einer antimanischen Prophylaxe entgegensteht. Auf der anderen Seite verstärkt Alkohol Depressivität.
  • Cannabis wird von einigen Betroffenen als Eigenmedikation angewandt. Trotz der möglichen positiven Wirkungen sollte nicht vergessen werden, dass gerade Zurückgezogenheit und Trägheit als depressive Merkmale sowie Verfolgungswahn (Paranoia) als manisches Merkmal durch Cannabis um ein Vielfaches gesteigert werden können, was der Genesung wiederum entgegenwirkt.
  • Kokain steht ebenfalls im Verdacht, Manien auszulösen, und in der Tat gibt es Verhaltensähnlichkeiten zwischen einem Maniker und einer Person, die Kokain als Rauschdroge missbraucht.
  • Amphetamin (Speed) kann in seinem Wirkungsverlauf sowohl manische Symptome auf dem Höhepunkt des Rausches als auch depressive Muster beim Nachlassen der Euphorie auslösen. Amphetamine verursachen oder verstärken Stimmungsschwankungen, wobei u. a. Ruhelosigkeit, Schlafmangel und eintretende Unsicherheit die wohl langfristigsten Auswirkungen auf die Psyche haben können.

Ursachen

Die Entstehung einer bipolaren Störung ist höchstwahrscheinlich multifaktoriell bedingt (Vulnerabilität). Sowohl genetische Faktoren als auch psychosoziale Auslöser dürften eine Rolle spielen, das heißt, das Erbgut setzt einen Rahmen für die Wahrscheinlichkeit (Prädisposition), und die Umfeldfaktoren beeinflussen Entstehung, Verlauf und Ende der Störung.

Erblichkeit und Genetik

Aufgrund von Zwillingsstudien wurde die Erblichkeit eines erhöhten Risikos von BAS auf über 80 % geschätzt.[9] Ob allerdings – und unter welchen Bedingungen – erbliche Risikofaktoren tatsächlich zu einer Erkrankung führen, ist eine äußerst komplexe und bislang weitgehend ungeklärte Frage.

Eine Übersicht von 2015 legte dar, dass bis dato eine große Zahl von genetischen Veränderungen identifiziert werden konnte, die jedoch – jede für sich allein – nur ein geringfügig erhöhtes Risiko für die Entwicklung von BAS bedeuteten. Durchgängiges Thema sei dabei, dass nur mehrere gemeinsame Veränderungen (Polygenie) zu einem Ausbruch der Krankheit führen könnten.[10]

Die Vorläufigkeit des gegenwärtigen (2015) Kenntnisstands wird unter anderem dadurch deutlich, dass die bisher gefundenen genetischen Abweichungen – trotz ihrer großen Anzahl – nur einen kleinen Prozentsatz der in Verwandtschaftsstudien festgestellten Erblichkeit erklären können. Des Weiteren sind die identifizierten genetischen Veränderungen nicht spezifisch für BAS, sondern beinhalten auch erhöhte Risiken für andere Krankheiten. Überdies sind ihre genauen funktionellen Folgen im Organismus noch weitgehend unklar. Daher sind die Voraussetzungen für sinnvolle genetische Tests an Patienten- oder Risikogruppen bislang noch in keiner Weise gegeben.[11]

Gleichwohl liegen vielversprechende Ergebnisse etwa bezüglich der Signaltransduktion durch Calciumionen (Ca2+) in Nervenzellen vor, und es zeichnet sich ab, dass die erblichen Veränderungen in hohem Maße Regulation und Ausprägung (Expression) von Genen betreffen.[12]

Die DT-MRI (Diffusion-Tensor-Magnetic Resonance Imaging) ermöglicht eine Rekonstruktion von Nervenbahnen (weiße Substanz) im Gehirn (Traktografie).

Neuroimaging

Eine Übersichtsstudie von 2014 fasste die Ergebnisse bildgebender Verfahren des Gehirns folgendermaßen zusammen. Es gebe bei BAS „klare Abweichungen“ in den neuronalen Netzen, die an der Verarbeitung von Gefühlen, der Regulierung von Emotionen und am Belohnungssystem beteiligt sind.

Die funktionalen Abweichungen wurden folgenden anatomischen Veränderungen zugeordnet: vermindertes Volumen der grauen Substanz im präfrontalen und temporalen Cortex, im Hippocampus (Gedächtnisfunktionen) und in der Amygdala (Gefühlsreaktionen) sowie Verminderung in Volumen und Funktion der weißen Substanz, die präfrontale und subkortikale (wie Amygdala und Hippocampus) Regionen miteinander verbindet.[13]

Eine weitere Übersichtsstudie von 2014 stellte fest, dass die Abweichungen bei der weißen Substanz auch bei Heranwachsenden mit BAS oder mit BAS-Risiko beobachtet wurden. Daraus ergebe sich möglicherweise die Perspektive, zukünftig diese Veränderung bei der Früherkennung und Vorbeugung (Prävention) von BAS zu nutzen.[14]

Neurochemie

Störungen der neurochemischen Signalübertragung betreffen in der Hauptsache vier der wichtigsten Neurotransmitter: die drei Monoamine Noradrenalin, Dopamin und Serotonin sowie in besonderem Maße Glutamat.

Zusätzliche Abweichungen innerhalb der Nervenzellen bei den sekundären Botenstoffen (Second Messengers) spielen eine entscheidende Rolle und sind notwendige Bestandteile der Theorien zu Entstehung und Verlauf bei BAS.

Während die Kenntnisse zu Störungen bei den Neurotransmittersystemen bereits therapeutisch genutzt werden, bestehen gegenwärtig (Stand 2015) noch keine konkreten Aussichten, auch die wesentlich wichtigeren Abweichungen innerhalb der Nervenzellen therapeutisch zu beeinflussen.[15]

Psychosoziale Faktoren

Neben genetischen spielen unterschiedliche Faktoren aus der Umwelt eine große Rolle, die in der Lebensgeschichte wirken, wie traumatische Ereignisse (Trennungen, Mobbing, Verlust des Arbeitsplatzes, Vertreibung und Verfolgung, Folter, sexueller Missbrauch/Vergewaltigung und körperliche Misshandlung im Kindes- und Jugendalter sowie der Verlust eines geliebten Angehörigen). Ebenso verheerend wirken sich sonstiger Stress wie auch angstauslösende Veränderungen aus (so kann z. B. ein Wohnungswechsel Phasen auslösen), vor allem psychosozialer Stress, Konflikte in der Partnerschaft, in Familie und Beruf.

Sozialisierungsfaktoren

Diskutiert wird auch eine Schwächung des Selbstwertgefühls, bei der eine tragende Säule des gesunden Zustandes wegfällt (Stavros Mentzos). Eine große Rolle bei auslösenden Faktoren spielt ein unregelmäßiger Tag-/Nacht-Rhythmus z. B. durch Schichtarbeit oder ein einschneidender Lebenswandel, Schlafmangel, Überarbeitung, Alkohol- und sonstiger Drogenmissbrauch. Schließlich können jegliche Veränderungen phasenauslösend wirken.

Bis zu 75 % der Betroffenen berichten im reflektierenden Rückblick, dass sie unmittelbar vor der ersten spürbaren Krankheitsepisode intensiven Stress hatten – Stress allerdings, der bei nicht vulnerablen (solcherart verletzlichen, von Vulnerabilität betroffenen) Menschen keine manische oder depressive Episode ausgelöst hätte, da sie Stress körperlich besser verarbeiten. Spätere Störungs-Phasen können immer weniger mit stressenden Ereignissen erklärt werden, bzw. kann sie minimaler Stress bereits auslösen.

Behandlung

Aufgrund mangelnder Einsicht der Betroffenen, insbesondere in manischen Episoden oder bei akuter Suizidgefahr, muss eine Behandlung in akuten Phasen der Manien oder schweren Depressionen manchmal gegen den Willen der Patienten als Zwangsbehandlung erfolgen. In den meisten Fällen zeigen Betroffene jedoch Einsicht und lassen sich auch wegen ihres hohen Leidensdrucks freiwillig behandeln. Wenn allerdings manische Phasen erstmals auftreten, können Betroffene keine Einsicht haben, da sie noch keine Erfahrungen über die schweren negativen Folgen gesammelt haben. Bei vielen kommt die Einsicht erst nach mehreren Phasen. Sehr hilfreich für eine erfolgreiche Behandlung ist, wenn sich die Betroffenen über ihre Störung informieren und viel darüber lesen, damit sie selbst nachvollziehen können, welche Behandlung in welcher Phase am besten ist. Dies gilt auch deshalb, damit sie ein rechtzeitiges Gegensteuern, welches für eine Minderung der Belastungen notwendig ist, erlernen können. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist die korrekte Diagnose.

In Abhängigkeit von Verlauf und Schwere kann bei leichten Fällen auch alleine mit Psychotherapie eine Stabilisierung erzielt werden. Hierbei ist das frühzeitige Erkennen der Störung ein wichtiger Faktor. Das kann bei Heranwachsenden in der Regel nur durch einen erfahrenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder -psychiater erfolgen, da die Symptome anderen Störungen stark ähneln und darum die Gefahr von Fehldiagnosen besteht. Zusätzlich kann eine medikamentöse Behandlung erfolgen, deren Verordnung in die Hände eines psychiatrisch erfahrenen Facharztes gehört. Eine bipolare Störung tritt nicht urplötzlich bei einem vorher völlig gesunden Menschen auf, sondern entwickelt sich schleichend. Auf Grund von mangelnden Kenntnissen in der Öffentlichkeit und mitunter auch bei Ärzten sowie auch der Scheu vor dem Umgang mit psychischen Störungen wird bei vergleichsweise milden Symptomen oftmals über Jahre hinweg nicht eingegriffen – möglicherweise auch aus Angst vor Medikamenten. Dabei kann der Verlauf durch das frühzeitige Stellen einer Diagnose und mit regelmäßigen Gesprächen stark positiv beeinflusst werden.

Medikamente

In den verschiedenen Episoden wird unterschiedliche Medikation verwendet. Man unterscheidet ferner zwischen Akuttherapie, Erhaltungstherapie und Prophylaxe. Dabei ist die Stimmungsstabilisierung durch Phasenprophylaktika das Grundgerüst jeder medikamentösen Therapie.

Manie

Bei akuten und starken Manien werden üblicherweise Neuroleptika verabreicht. Typische Neuroleptika (z. B. Haloperidol oder Loxapin) wirken normalerweise recht zuverlässig, haben aber den Nachteil von Bewegungsstörungen (extrapyramidaler Störungen) als Nebenwirkung. Atypische Neuroleptika wie Risperidon, Quetiapin, Olanzapin, Aripiprazol, Ziprasidon haben ein geringeres Risiko[16] hinsichtlich extrapyramidaler Störungen und haben sich auch bei Heranwachsenden in akut manischen und gemischten Phasen bewährt.[17] Die Gefahr von Nebenwirkungen bezieht sich hier eher auf Stoffwechselerkrankungen bis hin zu Diabetes.

Neuroleptika können auch verwendet werden, wenn sich eine manische Episode anbahnt, was den vollständigen Ausbruch oft verhindert.

Mischzustände

Mischzustände sind kompliziert zu behandeln. Meist müssen mehrere Medikamente kombiniert werden. Sie können einerseits mit neueren atypischen Neuroleptika behandelt werden, andererseits muss auch die depressive Symptomatik behandelt werden. Es kann vorkommen, dass die Einnahme über einen längeren Zeitraum notwendig ist, falls psychotische Symptome beim Absetzen wiederkehren.

Depression

Antidepressiva bieten im Vergleich zu Stimmungsstabilisatoren (Mood stabilizers; siehe Vorbeugung) keine zusätzlichen Vorteile, sondern eher Risiken wie Destabilisierung mit Zunahme von Manien, Phasenfrequenz (cycling) und belastender Missgelauntheit (Dysphorie).[18]

Für die Behandlung von depressiven Notfällen (Suizidgefährdung) bei BAS hat sich in der klinischen Forschung seit 2010 die schnelle Wirkung von Ketamin, einem Antagonisten am Glutamat-NMDA-Rezeptorkomplex, bewährt.[19]

Nach vorläufigen Ergebnissen von 2013 lässt sich mit einer sehr niedrigen Dosis von Ketamin unter der Zunge (sublingual) bei BAS-Depression sowohl eine schnelle als auch - bei regelmäßiger Einnahme - eine andauernde positive Wirkung bezüglich Stimmung, Stabilität, Wahrnehmung und Schlaf erreichen.[20]

Mitte 2015 berichteten die Pharmakologie-Professoren Lutz Hein (Universität Freiburg) und Roland Seifert (Medizinische Hochschule Hannover), dass Ketamin aus guten Gründen bereits off-label, d. h. ohne offizielle Zulassung durch die Arzneimittelbehörden (jedoch völlig legal), an depressive und suizidale Patienten verschrieben wird.[21]

Vorbeugung gegen Episoden

Eine vorbeugende Behandlung (Prävention) zur Minderung der Wahrscheinlichkeit von Störungsepisoden bei BAS geschieht mit Stimmungsstabilisatoren (Mood stabilizers; Phasenprophylaxe) wie Lithium oder Antiepileptika wie Valproinsäure, Lamotrigin oder Carbamazepin.

Etwa ein Drittel der BAS-Patienten, die mit Lithium behandelt werden, sprechen hervorragend darauf an (excellent lithium responders). Bei ihnen verhindert es – ohne andere zusätzliche Maßnahmen (Monotherapie) – weitere Episoden vollständig, und zwar über zehn Jahre und länger. Lithium bewirkt bei BAS außerdem Schutzwirkungen im Gehirn (Neuroprotektion), unter anderem durch die Auslösung einer erhöhten Produktion des Wachstumsfaktors BDNF. Sowohl dieser Schutzeffekt als auch der Vorbeugungseffekt steht in Verbindung mit einer großen Zahl bereits identifizierter Gen-Eigenschaften, die vom Consortium on Lithium Genetics (ConLiGen), unter anderem auch speziell zu den Wirkungen bei BAS, kartiert und erforscht werden.[22][23]

Unter den Antiepileptika gilt Lamotrigin als sehr wirksam gegen bipolare Depressionen, hat aber keine belegten Effekte gegen Manien. Carbamazepin und Valproinsäure wirken hingegen fast ausschließlich gegen Manien.[24]

Der Abbruch einer erfolgreichen Behandlung mit Phasenprophylaktika sollte gut überlegt werden, da ein erneutes Auftreten von depressiven und manischen Phasen den Krankheitsverlauf insgesamt negativ beeinflussen und eine erneute Behandlung erheblich erschweren kann.

Psychotherapie

Allgemeines

Sinnvoll ist eine auf die Störung abgestimmte kognitive Verhaltenstherapie und/oder Gesprächspsychotherapie und/oder Soziotherapie und/oder Psychoedukation. Empfehlenswert sind außerdem Selbsthilfegruppen, wie sie sich etwa im Bipolar-Selbsthilfe-Netzwerk zusammengeschlossen haben.

Sinnvoll für Betroffene ist es, eigene Warnsysteme zu entwickeln, um nicht wieder in extreme Phasen zu geraten, mit Stressmanagement, Selbstbeobachtung, Selbstregulation und Selbstmanagement. Das Erkennen der persönlichen Frühwarnzeichen der depressiven, manischen oder gemischten Phasen und ein rechtzeitiges Gegensteuern durch entsprechendes Verhalten (z. B. antidepressive Tätigkeiten bei Gefahr einer Depression; antimanisches Verhalten wie genügend Schlaf, Beschränkung, Reizabschirmung bei der Gefahr einer Manie sowie die richtige Medikation zum richtigen Zeitpunkt) kann den Ausbruch einer neuen Episode verhindern. Ein geregeltes, stressfreies, erfülltes Leben mit ausreichend Schlaf, Bewegung (Sport) und Meditation oder Yoga kann neue Episoden verzögern oder seltener auch ganz verhindern. Voraussetzung dafür ist, dass sich Betroffene von den Folgen der letzten Episode erholt haben.

Wirksamkeit

In einer vergleichenden Übersicht von 2011 über neuere randomisierte kontrollierte Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie bei BAS wurden folgende Ergebnisse berichtet: Die Mehrheit der Studien zeigte bedeutende positive Resultate in Form von Minderung der Rückfallraten, erhöhter Lebensqualität, besserer Alltagsbewältigung oder günstigerer Entwicklung der Symptome.[25] Damit wurden die Trends zweier vergleichbarer Übersichten von 2007 und 2008[26][27] bestätigt.

Verbreitung und Verlauf

Die Wahrscheinlichkeit, während des Lebens eine bipolare affektive Störung zu entwickeln (Lebenszeitrisiko), liegt in den unterschiedlichsten Ländern bei 1,0 bis 1,6 %. Es besteht kein Unterschied des Risikos zwischen Männern und Frauen.

Das Risiko, eine hohe Phasenfrequenz (schneller Wechsel zwischen gehobener und gedrückter Stimmung) zu entwickeln, steigt mit der Dauer der Erkrankung. Etwa 10 % der Betroffenen entwickeln Störungsformen mit vier und mehr Episoden pro Jahr. Dies geht mit einer ernsteren Prognose einher. Ersten Untersuchungen zufolge scheinen 80 % der so genannten Rapid Cycler Frauen zu sein. Etwa ein Drittel der Patienten erreichen im Rahmen ihrer Störung keine Vollremission (symptomfreies Intervall).

75 % der Patienten erleiden ihre erste Episode bis zum 25. Lebensjahr. 10 % bis 15 % der Betroffenen durchleben mehr als zehn Episoden in ihrem Leben. 39 % der Patienten haben eine weitere psychiatrische Diagnose.

BAS bei Kindern und Jugendlichen

Bis jetzt wird die Häufigkeit des Auftretens einer manisch-depressiven Episode im Kindheits- und Jugendalter mit einem Wert von unter 0,1 % als relativ gering eingeschätzt. Es spricht allerdings einiges dafür, dass dieser Wert die tatsächliche Auftretens-Häufigkeit unterschätzt, da nach Vermutung einiger Psychiater in der kinderpsychiatrischen und psychologischen Praxis Fehlinterpretationen des Beschwerdebildes bei Hypomanie und Manie in Richtung ADHS und Verhaltensstörungen vorkommen. Häufige Komorbiditäten sind Angststörungen und aggressive Verhaltensstörungen.

Besonders jugendliche männliche Erkrankte weisen in 30 % der Fälle stimmungsinkongruente psychotische Merkmale auf. In Bezug auf ADHS überlappen sich viele Symptome. Hinweise auf die bipolare Störung ergeben sich vor allem aus: einem episodenhaften Verlauf, einer signifikant höheren Beeinträchtigung und – im Fall einer Manie – durch Größenideen und Selbstüberschätzung sowie rücksichtslosem Verhalten. Eine genaue Anamnese ist somit unerlässlich.

Fehlbehandlung durch Stimulanzien wie Methylphenidat oder Modafinil können die Symptome der Hypomanien und Manien verstärken, was zu temporär ungünstigen Zuständen bis zu physischen Schädigungen führen kann. Gegenüber rein unipolar Depressiven besteht bei Jugendlichen mit bipolarer Störung ein höheres Suizidrisiko.

Forschungsgeschichte

Antike

Bipolare Störungen sind schon seit langem bekannt. Erste Schriftzeugnisse aus der Antike belegen bereits die Kenntnis der beiden Zustände, zunächst als gesonderte Krankheiten durch den berühmten Arzt Hippokrates von Kos. Bereits einige Jahrhunderte danach erkannte Aretaeus von Kappadokien die Zusammengehörigkeit von Depression und Manie.

Hippokrates von Kos beschrieb im 5. Jahrhundert v. Chr. die Melancholie (konnte der heutigen Depression entsprechen). Er nahm an, dass sie durch einen Überschuss an schwarzer Galle entstehe, die von der organisch erkrankten Milz ins Blut ausgeschieden werde, den gesamten Körper überflute, ins Gehirn eindringe und Schwermut verursache. Mit dieser Vorstellung ist das griechische Wort Melancholia eng verzahnt (griechisch: μελαγχολια von μελας: melas: „schwarz“, χολη: cholé: „Galle“). Hippokrates verwendete auch bereits den Ausdruck Mania (Manie), um einen Zustand der Ekstase und Raserei zu beschreiben. Diese Bezeichnung (griech. μανία: manía: Raserei) hielt sich seitdem bis heute in der Wissenschaft. Statt des griechischen Wortes Melancholie wird heute das Fachwort Depression für den anderen Extrempol dieser Erkrankung verwendet, das aus der lateinischen Sprache stammt (lat. depressio „Niederdrücken“).

Der griechische Arzt Aretaeus von Kappadokien vermutete ähnliche körperliche Ursachen, erkannte aber bereits im 1. Jahrhundert nach Christus eine Zusammengehörigkeit der beiden extremen Zustände, die als Gegenpole so weit auseinanderliegen, und beschrieb somit als erster die bipolare Störung: Meiner Ansicht nach ist die Melancholie ohne Zweifel Anfang oder sogar Teil der Krankheit, die Manie genannt wird…[28] Die Entwicklung einer Manie stelle eher ein Zunehmen der Krankheit dar als einen Wechsel in eine andere Krankheit.

Moderne

Das Konzept des Aretaeus von Kappadokien, das im Mittelalter und der Frühen Neuzeit in Vergessenheit geraten war, wurde im 19. Jahrhundert wieder aufgegriffen: Jean-Pierre Falret beschrieb im Jahr 1851 „la folie circulaire“ (= zirkuläres Irresein) als einen Wechsel von Depressionen, Manien und einem gesunden Intervall, Jules Baillarger drei Jahre später sein Konzept der „folie à double forme“ als unterschiedliche Erscheinungsformen derselben Krankheit, wobei nicht unbedingt ein freies Intervall zwischen diesen beiden Extremzuständen liegen muss.

Der deutsche Psychiater Emil Kraepelin nannte 1899 diese Erkrankung des „circulären Irreseins“ auch „manisch-depressives Irresein“, wobei er auch schon Mischzustände erkannte, bei denen manische und depressive Symptome gleichzeitig vorkommen. Auch für Kraepelin waren Manien und Depressionen Ausdrucksformen ein und derselben Krankheit.[29]

Bei der nationalsozialistischenVernichtung lebensunwerten Lebens“, die von mehreren Psychiatern unterstützt – in einigen Fällen auch angestoßen – wurde, wurden Manisch-Depressive („zirkulär Irre“) als „erbkrank“ eingestuft, zwangssterilisiert oder – dann mit der Diagnose „Schizophrenie“ – in den Vergasungs-Anstalten der Aktion T4 ermordet.

Im Jahre 1949 traf Karl Kleist eine erbbiologische Unterscheidung unipolarer und bipolarer Krankheitsformen, und 1966 unterschieden Jules Angst und Carlo Perris bipolare Erkrankungen und unipolare Depressionen. „Bi-“ ist eine Vorsilbe lateinischen Ursprungs mit der Bedeutung „zwei“, unter „Pol“ versteht man eines von zwei (äußersten) Enden. Das eine Ende wird hierbei als das extreme Gegenteil des anderen betrachtet.

Leben mit der bipolaren affektiven Störung

Wie bei anderen Krankheiten gibt es leichtere oder schwerere Verläufe. Je früher die Krankheit erkannt wird, desto besser. Mit Erkennen der Frühwarnzeichen und Gegensteuern und Medikation kann man ein erfülltes Leben führen. Bei einem großen Teil der Patienten wird die berufliche und soziale Mobilität nicht wesentlich beeinträchtigt.

Auswirkungen ungünstiger Verläufe

Menschen mit einer bipolaren Störung sind in ihrem Alltag starken Beeinträchtigungen und Leiden ausgesetzt. Aber auch Angehörige der Betroffenen haben stark unter einer, meistens jedoch mehrerer der angeführten Folgen zu leiden:

  • Fremdgehen
  • finanziellem Ruin
  • distanzlosem, ruhelosem oder auffälligem Verhalten im Rahmen einer Manie
  • Berufsunfähigkeit
  • Wegfall partnerschaftlich-unterstützender Verhaltensweisen in Phasen der Depression sowie der zermürbenden Wiederkehr solcher Phasen
  • Komorbiditäten wie Alkoholmissbrauch
  • Stigmatisierung und Ausgrenzung

Wenn Betroffene eine akute Bedrohung oder Gefährdung für sich und/oder andere darstellen, können sie auch gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, entweder im Kontext einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung bei Gefahr im Verzug oder im Zusammenhang einer betreuungsrechtlichen Unterbringung, die im Vorfeld beim Vormundschaftsgericht beantragt und von einem unabhängigen psychiatrischen Gutachter, der vom Gericht beauftragt wird, befürwortet werden muss. Der zuständige Richter des Vormundschaftsgerichtes hat im Vorfeld einer Unterbringung gegen den Willen des Betroffenen die Pflicht, diesen persönlich anzuhören. Ist die Unterbringung im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgt, ist die Anhörung kurzfristig nachzuholen. Da die Manie für Betroffene persönlich eine Hochphase der Gefühle bedeutet, weigern sie sich häufig, freiwillig Medikamente einzunehmen, die diese Hochphase bekämpfen würden. Wenn die strengen Voraussetzungen, die der Gesetzgeber an eine Zwangsunterbringung stellt, die ja eine massive Einschränkung der Freiheitsrechte bedeutet, nicht erfüllt sind, müssen oft Angehörige die Phase „aussitzen“, was mehrere Wochen dauern und von gravierenden psychosozialen Problemen begleitet sein kann. Hilfen bieten in diesem Fall sozialpsychiatrische Dienste, Angehörigengruppen oder auch der Allgemeine Sozialdienst des zuständigen Jugendamtes an.

Kinder und Jugendliche leiden beispielsweise darunter, dass Mütter oder Väter in ihren akuten Phasen ganz oder teilweise bei der Erziehung und im Haushalt ausfallen. Für Kinder kann es schwierig sein, zu verarbeiten, dass ein Elternteil während dieser Zeit nicht dem Rollenbild, das üblicherweise mit der Rolle der Mutter oder des Vaters verknüpft ist, entspricht. Ängste, die Störung geerbt zu haben, treten häufig auf und erfordern professionelle Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit der Eigenart des Elternteils und ihrer Bedeutung im eigenen Leben. Als sehr wichtig hat sich erwiesen, dass Angehörige, die häufig so sehr unterstützend tätig sein müssen, nicht vergessen, immer wieder auch einmal an sich zu denken. Positiv und entlastend haben sich psychotherapeutische Schonräume erwiesen, in denen Angehörige ermutigt werden, auch negative Emotionen dem betroffenen Familienmitglied gegenüber sich selber einzugestehen und in der therapeutischen Situation auszudrücken.

Entstigmatisierung

Die Betroffenen haben nicht nur mit den Problemen zu kämpfen, dass sie oft die Unterstützung der Freunde und der Familienmitglieder verlieren, sondern dass sie aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Gegen die Diskriminierung kämpfen zahlreiche Prominente, die selber betroffen sind, dazu stehen und öffentlich darüber sprechen. Es gibt auch Projekte, die diesen oft sehr kreativen Leuten helfen sollen, Selbstvertrauen zu gewinnen und so ihre Anerkennung in der Gesellschaft zu erkämpfen. Ein solches Projekt war z. B. in Deutschland BipolArt von Magdalena Maya Ben, das unter der Schirmherrschaft von Kay Redfield Jamison 2005 mit einer Internetplattform wirkte.

Vorsorge

Für Bipolare ist das Thema Vorsorgevollmacht von entscheidender Bedeutung. In einer „normalen“ Phase sollte man sich bereits klar werden, was man im Falle einer Eigen- oder Fremdgefährdung wünscht. Als Muster für diese Willenserklärung kann man sich an der sog. Bochumer Willenserklärung orientieren.[30]

Kreativität

Während einer Manie kommt es schnell zu einem seelischen Chaos. Durch die Überdrehtheit während dieser Phase richten Betroffene Schaden an und sind nicht mehr in der Lage, Vernünftiges zu leisten. Depressionen und gemischte Episoden, die bei bipolar Erkrankten besonders quälend sind, werfen Betroffene regelrecht aus der Bahn und lähmen diese. Rechtsgeschäfte, die im Kontext einer manischen Phase zum Schaden des Betroffenen von diesem getätigt worden sind, können bei festgestellter Geschäftsunfähigkeit rückgängig gemacht werden (z. B. der Abschluss mehrerer Mietverträge oder der Kauf mehrerer Kraftfahrzeuge, die nicht benötigt werden).

Die Kreativitätsschübe erfolgen vorwiegend in der hypomanen Phase. Durch moderne Behandlungsmethoden (Medikation, Therapien wie kognitive Verhaltenstherapie, Gestaltungstherapie, Kreativ-Atelier, manchmal auch nur einfache Betreuung als Ausgleich für evtl. erlittene Schockerlebnisse in der Kindheit und Jugend) kann die Kreativität meist erhalten bleiben, so dass sie als positiver Aspekt dieser Störung wirken kann.

Manisch-depressive Menschen sind in ihrem manisch anmutenden Arbeiten bei entsprechender Therapie und Betreuung dann zu Werken fähig, die Menschen ohne manische Erfahrung oftmals für unmöglich halten. Visionen zu verwirklichen, setzt in diesem Sinn allgemein einen manischen Antrieb voraus. Die kreative Umsetzung der manisch anmutenden Energie ist somit jeweils ein Glücksfall und ist in diesem Sinne auch anzustreben, wobei dann die körperliche Konstitution wiederum Grenzen setzt, z. B. Sehnenscheidenentzündungen an Armen und Händen oder Rückenbeschwerden.

Nach einer Untersuchung von Kay Redfield Jamison von 1994 beträgt die Häufigkeit bipolarer Störungen bei kreativen Persönlichkeiten das 10-fache der Häufigkeit bei der Allgemeinbevölkerung. Mehr als ein Drittel aller zwischen 1705 und 1805 geborenen englischen und irischen Dichter sollen laut Jamison an bipolaren Störungen gelitten haben, mehr als die Hälfte an Stimmungsstörungen.[31]

Siehe auch

Literatur

Leitlinien

Psychiatrie

  • Hans-Jörg Assion, Wolfgang Vollmoeller: Handbuch bipolare Störungen. Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-17-018450-3.
  • Jörg Walden, Heinz Grunze: Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung. Thieme, Stuttgart/New York 2003, ISBN 3-13-104993-6.
  • Michael Bauer (Hrsg.): Weißbuch Bipolare Störungen in Deutschland, Stand des Wissens – Defizite – Was ist zu tun? 2. Auflage. Norderstedt 2006, ISBN 978-3-8334-4781-5.
  • Frederick K. Goodwin und Kay Refield Jamison: Manic depressive illness. Oxford University Press, 1990, ISBN 0-19-503934-3.
  • Kay Redfield Jamison: Touched with fire. Manic-depressive illness and the artistic temperament. New York 1993, ISBN 0-684-83183-X (englisch).
  • Volker Faust: Manie. Eine allgemeine Einführung in die Diagnose, Therapie und Prophylaxe der krankhaften Hochstimmung. Enke, Stuttgart 1997, ISBN 3-432-27861-6.
  • Klaus Dörner, Ursula Plog, Christine Teller, Frank Wendt: Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. 3. Auflage. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2007, ISBN 978-3-88414-440-4.
  • Christian Scharfetter: Allgemeine Psychopathologie. Eine Einführung. Thieme, Stuttgart/New York 2002, ISBN 978-3-13-531505-8.
  • M. Hatzinger (Hrsg.), J. M. Aubry, F. Ferrero, Schaad: Pharmakotherapie bipolarer Störungen. Hans Huber Verlag, Bern 2006, ISBN 978-3-456-84326-1.

Psychotherapie

  • Thomas D. Meyer, Martin Hautzinger: Manisch-depressive Störungen. Beltz Psychologie Verlags Union, 2004, ISBN 3-621-27551-7. Auf die Bipolare affektive Störung abgestimmte kognitive Verhaltenstherapie.
  • Stavros Mentzos: Depression und Manie. Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen. Göttingen 2001, ISBN 3-525-45775-8. Ein alternativer Ansatz, mit dem der Autor affektive psychische Störungen psychodynamisch zu erklären sucht, insbesondere einen hohen Stellenwert der Art des Selbstwertgefühls postuliert.
  • Thomas Bock, Andreas Koesler: Bipolare Störungen. Manie und Depression verstehen und behandeln. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2005, ISBN 978-3-88414-392-6.

Aufsätze

  • Heinz Grunze, Emanuel Severus: Bipolare Störungen erkennen. Die Kunst der korrekten Diagnose. In: Der Neurologe & Psychiater, Sonderheft 1/2005.
  • David J. Miklowitz, Michael W. Otto et al.: Psychosocial Treatments for Bipolar Depression. A 1-Year Randomized Trial From the Systematic Treatment Enhancement Program. In: Archives of General Psychiatry, Bd. 64, Nr. 4, April 2007, S. 419–426 (englisch; Volltext).

Weblinks

Commons: Bipolare Störung - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema

Einzelnachweise

  1.  Robert M. A. Hirschfeld, Lana A. Vornik: Bipolar disorder--costs and comorbidity. In: The American Journal of Managed Care. 11, Nr. 3 Suppl, June 2005, S. S85–90, PMID 16097719 (http://www.ajmc.com/journals/supplement/2005/2005-06-vol11-n3suppl/jun05-2074ps85-s90?p=2).
  2. Österreichische Ärztezeitung 5/2013, S. 31 – PDF, 5,9 MB
  3. Heinz Grunze, Emanuel Severus: Bipolare Störungen erkennen. Die Kunst der korrekten Diagnose. In: Der Neurologe & Psychiater, Sonderheft 1/2005.
  4. Klassifikation der Bipolaren Störung in der ICD-10
  5. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) (Memento vom 17. Mai 2008 im Internet Archive)
  6. Jörg Walden, Heinz Grunze: Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung. Stuttgart/New York 2003, S. 11, ISBN 3-13-104993-6
  7. lichtblick-newsletter.de
  8. de.brainexplorer.org (Memento vom 18. Januar 2012 im Internet Archive)
  9. N. Craddock, P. Sklar: Genetics of bipolar disorder. In: Lancet. Band 381, Nummer 9878, Mai 2013, S. 1654–1662, doi:10.1016/S0140-6736(13)60855-7, PMID 23663951 (Review).
  10. B. M. Neale, P. Sklar: Genetic analysis of schizophrenia and bipolar disorder reveals polygenicity but also suggests new directions for molecular interrogation. In: Current opinion in neurobiology. Band 30, Februar 2015, S. 131–138, doi:10.1016/j.conb.2014.12.001, PMID 25544106 (Review).
  11. B. Kerner: Genetics of bipolar disorder. In: The application of clinical genetics. Band 7, 2014, S. 33–42, doi:10.2147/TACG.S39297, PMID 24683306, PMC 3966627 (freier Volltext) (Review).
  12. P. J. Harrison: Molecular neurobiological clues to the pathogenesis of bipolar disorder. In: Current opinion in neurobiology. [elektronische Veröffentlichung vor dem Druck] Juli 2015, doi:10.1016/j.conb.2015.07.002, PMID 26210959 (freier Volltext) (Review).
  13. M. L. Phillips, H. A. Swartz: A critical appraisal of neuroimaging studies of bipolar disorder: toward a new conceptualization of underlying neural circuitry and a road map for future research. In: The American journal of psychiatry. Band 171, Nummer 8, August 2014, S. 829–843, doi:10.1176/appi.ajp.2014.13081008, PMID 24626773, PMC 4119497 (freier Volltext) (Review).
  14. S. M. de Zwarte, J. A. Johnston, E. T. Cox Lippard, H. P. Blumberg: Frontotemporal White Matter in Adolescents with, and at-Risk for, Bipolar Disorder. In: Journal of clinical medicine. Band 3, Nummer 1, 2014, S. 233–254, doi:10.3390/jcm3010233, PMID 26237259, PMC 4449671 (freier Volltext) (Review).
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  18. R. S. El-Mallakh, A. Z. Elmaadawi, M. Loganathan, K. Lohano, Y. Gao: Bipolar disorder: an update. In: Postgraduate medicine. Band 122, Nummer 4, Juli 2010, S. 24–31, doi:10.3810/pgm.2010.07.2172, PMID 20675968 (Review).
  19. A. C. Nugent, N. Diazgranados, P. J. Carlson, L. Ibrahim, D. A. Luckenbaugh, N. Brutsche, P. Herscovitch, W. C. Drevets, C. A. Zarate: Neural correlates of rapid antidepressant response to ketamine in bipolar disorder. In: Bipolar disorders. Band 16, Nummer 2, März 2014, S. 119–128, doi:10.1111/bdi.12118, PMID 24103187, PMC 3949142 (freier Volltext).
  20. D. R. Lara, L. W. Bisol, L. R. Munari: Antidepressant, mood stabilizing and procognitive effects of very low dose sublingual ketamine in refractory unipolar and bipolar depression. In: The international journal of neuropsychopharmacology / official scientific journal of the Collegium Internationale Neuropsychopharmacologicum. Band 16, Nummer 9, Oktober 2013, S. 2111–2117, doi:10.1017/S1461145713000485, PMID 23683309.
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  22. J. K. Rybakowski: Factors associated with lithium efficacy in bipolar disorder. In: Harvard review of psychiatry. Band 22, Nummer 6, November-Dezember 2014, S. 353–357, doi:10.1097/HRP.0000000000000006, PMID 25377609 (Review).
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  24. C. L. Bowden, N. U. Karren: Anticonvulsants in bipolar disorder. In: The Australian and New Zealand journal of psychiatry. Band 40, Nummer 5, Mai 2006, S. 386–393, doi:10.1111/j.1440-1614.2006.01815.x, PMID 16683963 (Review).
  25. D. Schöttle, C. G. Huber, T. Bock, T. D. Meyer: Psychotherapy for bipolar disorder: a review of the most recent studies. In: Current opinion in psychiatry. Band 24, Nummer 6, November 2011, S. 549–555, doi:10.1097/YCO.0b013e32834b7c5f, PMID 21918448 (Review).
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  27. M. Hautzinger, T. D. Meyer: Psychotherapie bei bipolaren affektiven Störungen: Ein systematischer Überblick kontrollierter Interventionsstudien. In: Der Nervenarzt. Band 78, Nummer 11, November 2007, S. 1248–1260, doi:10.1007/s00115-007-2306-0, PMID 17604972 (Review) (Leseprobe S. 1248–1249).
  28. Eberhard J. Wormer: Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. – Ein Manual für Betroffene und Angehörige. München 2002, S. 47–54
  29. Jörg Walden, Heinz Grunze: Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung. Stuttgart/New York 2003, ISBN 3-13-104993-6, S. 7 f.
  30. Bochumer Willenserklärung. (Nicht mehr online verfügbar.) Archiviert vom Original am 18. Dezember 2013; abgerufen am 11. Dezember 2013.
  31. Eberhard J. Wormer: Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. – Ein Manual für Betroffene und Angehörige. München 2002, S. 131–138.
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