Vorurteil

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Ein Vorurteil (eng. prejudice) ist im weitesten Sinn ein Urteil, das in einer gegebenen Situation nicht durch das aktuelle Denken nach einer gründlichen Untersuchung der Sachlage gefällt wird, sondern gewohnheitsmäßig mehr oder weniger fertig dem Gedächtnis entnommen ist. Da sie sehr fest im Ätherleib sitzen, sind sie entsprechend schwer zu ändern und werden als mehr oder weniger unverrückbare Tatsache gewertet. Sie prägen nicht nur das Denken sondern oft auch beinahe instinktiv das Verhalten. Eine mildere Form des Vorurteils, die einen weniger zwanghaften Charakter hat und weniger unmittelbar das Handeln impulsiert, ist die Voreingenommenheit oder Befangenheit. Vorurteile erleichtern oder ermöglichen überhaupt erst die rasche Orientierung im Alltagsleben, behindern aber umgekehrt auch jede tiefer gehende neue Erkenntnis. Jede geistige Entwicklung muss daher mit einer strengen Selbsterziehung zur Vorurteilslosigkeit verbunden sein.

„Was einmal gelernt und aufgenommen ist, wird in allgemeinen Vorstellungen aufgestapelt. Bewußt und halbbewußt, automatisch und absichtlich wird jeder neue Gegenstand mittels des so erworbenen Arsenals begrifflich eingeschätzt. Die Verhaltensweisen der Individuen in den Situationen des Alltags haben auf Grund von bruchstückhaftem Wissen sich eingeschliffen, sind Reaktionen aus Vorurteilen. Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen. Nur muß er imstande sein, die Generalisierung einzuschränken, wenn er nicht unter die Räder kommen will. Jenseits des Kanals fahren Autos auf der linken Straßenseite, und hierzulande wechseln die Kunden in immer rascherem Tempo den Geschmack. Man kann sie nicht stets nach demselben Schema zufriedenstellen. Solche Vorurteile näher zu bestimmen, zwingt das eigene Interesse.“

Max Horkheimer: Über das Vorurteil, S. 5f

Häufig sind Vorurteile auch mit einer positiven oder negativen Wertung verbunden und sind in diesem Sinn zugleich Werturteile. Im Wirtschaftsleben beispielsweise tragen positive Vorurteile entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens, einer Marke oder eines Produkts bei.

Wahrnehmungsurteile, durch die wir gegebene Wahrnehmungen rasch identifizieren, beruhen zumeist auf lange, oft schon seit der frühen Kindheit eingeübten, unbewusst bleibenden und daher kaum verrückbaren Vorurteilen, die gegebenenfalls auch zu typischen Wahrnehmungstäuschungen führen, die sich oft selbst dann nicht aufheben lassen, wenn wir sie mit dem wachen Verstand durchschauen. Bei den uns aus dem Alltagsleben gut vertrauten Dingen fließen Wahrnehmung und Begriff so selbstverständlich und rasch zusammen, dass wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst werden. Der zugehörige Begriff ist längst in uns vorgebildet und muss nicht erst mühsam suchend der Wahrnehmung entgegengebracht werden. Die Wahrnehmung wird dadurch unvermerkt mit Vorstellungen durchsetzt. Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten - und so für alle Sinne. Für die rasche routinierte Orientierung im Alltagsleben sind solche Begriffe und Vorstellungen unerlässlich. Allerdings beziehen sie sich heute, wo wir durch eine stark materialistische Denkweise geprägt sind, meist nur auf das rein gegenständliche räumlich-materielle Dasein. Wir erkennen auf diese Weise eine bestimmte Gruppe sinnlicher Wahrnehmungen sofort als Eiche, als Buche, als Bergkristall, als Löwe usw. Diese „Dinge“ erscheinen uns derart ganz unmittelbar als gegebene gegenständliche materielle Wirklichkeit und wir glauben ihr ganzes Wesen darin erschöpft. Das ist aber nicht der Fall. Ihr eigentliches, tieferes Wesen erschließt sich nur, wenn es gelingt, diesen „Erkenntnisautomatismus“ zu durchbrechen. Dazu muss einerseits die Wahrnehmung von den begrifflichen Elementen befreit und zu einer möglichst reinen Wahrnehmung geläutert werden und andererseits der Begriff geistig vertieft werden, was nur durch eine entsprechende geistige Schulung möglich ist.

„Nicht wahr, unser gewöhnliches Geistesleben im wachen Zustande verläuft ja so, daß wir wahrnehmen und eigentlich immer im Wahrnehmen schon das Wahrgenommene mit Vorstellungen durchtränken, im wissenschaftlichen Denken ganz systematisch das Wahrgenommene mit Vorstellungen verweben, durch Vorstellungen systematisieren und so weiter. Dadurch, daß man sich ein solches Denken angeeignet hat, wie es allmählich hervortritt im Verlaufe der «Philosophie der Freiheit», kommt man nun wirklich in die Lage, so scharf innerlich seelisch arbeiten zu können, daß man, indem man wahrnimmt, ausschließt das Vorstellen, daß man das Vorstellen unterdrückt, daß man sich bloß dem äußeren Wahrnehmen hingibt. Aber damit man die Seelenkräfte verstärke und die Wahrnehmungen im richtigen Sinne gewissermaßen einsaugt, ohne daß man sie beim Einsaugen mit Vorstellungen verarbeitet, kann man auch noch das machen, daß man nicht im gewöhnlichen Sinne mit Vorstellungen diese Wahrnehmungen beurteilt, sondern daß man sich symbolische oder andere Bilder schafft zu dem mit dem Auge zu Sehenden, mit dem Ohre zu Hörenden, auch Wärmebilder, Tastbilder und so weiter. Dadurch, daß man gewissermaßen das Wahrnehmen in Fluß bringt, dadurch, daß man Bewegung und Leben in das Wahrnehmen hineinbringt, aber in einer solchen Weise, wie es nicht im gewöhnlichen Vorstellen geschieht, sondern im symbolisierenden oder auch künstlerisch verarbeitenden Wahrnehmen, dadurch kommt man viel eher zu der Kraft, sich von der Wahrnehmung als solcher durchdringen zu lassen* Man kann sich ja schon gut vorbereiten für eine solche Erkenntnis bloß dadurch, daß man wirklich im strengsten Sinne sich heranerzieht zu dem, was ich charakterisiert habe als den Phänomenalismus, als das Durcharbeiten der Phänomene. Wenn man wirklich an der materiellen Grenze des Erkennens getrachtet hat, nicht in Trägheit durchzustoßen durch den Sinnesteppich und dann allerlei Metaphysisches da zu suchen in Atomen und Molekülen, sondern wenn man die Begriffe verwendet hat, um die Phänomene anzuordnen, um die Phänomene hin zu verfolgen bis zu den Urphänomenen, dann bekommt man dadurch schon eine Erziehung, die dann auch alles Begriffliche hinweghalten kann von den Phänomenen. Und symbolisiert man dann noch, verbildlicht man die Phänomene, dann bekommt man eine starke seelische Macht, um gewissermaßen die Außenwelt begriffsfrei in sich einzusaugen.“ (Lit.:GA 322, S. 113f)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Grenzen der Naturerkenntnis, GA 322 (1981), ISBN 3-7274-3220-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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