Massenquarantäne

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Abgeriegelte Straße während des Lockdowns im Rahmen der COVID-19-Pandemie in Indien (Bhopal 14. April 2020)

Eine Massenquarantäne, im Zuge der COVID-19-Pandemie 2019/2020 auch eng. Lockdown („Abriegelung“, „Ausgangssperre“)[1] oder Shutdown („Stilllegung“, „Abschaltung“),[2][3][4] ist eine temporäre staatlich verordnete und durchgesetzte Quarantäne mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens, um eine Epidemie oder Pandemie einzudämmen. Sie umfasst die von einer Regierung oder Behörde erlassenen Anordnungen an die Bevölkerung, „zuhause zu bleiben“ oder sich an einen „sichereren Ort im Gebäude“ (shelter in place) zu begeben, um durch zeitweilige Begrenzung oder vollständige Aufhebung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung räumliche Distanzierung innerhalb und außerhalb eines bestimmten Gebiets durchzusetzen. Die Massenquarantäne zur Krankheitsbekämpfung wurde zwar im 20. Jahrhundert im Wesentlichen aufgegeben,[5] jedoch im Rahmen der COVID-19-Pandemie weltweit wieder angewendet.

Massenquarantäne ist kein scharf definierter Begriff, sondern beschreibt zusammenfassend unterschiedliche Maßnahmen des Infektionsschutzes, wie die Schließung von Geschäften, Bildungseinrichtungen und öffentlicher Einrichtungen, Versammlungsverbote, Ausgangssperren oder die Ausrufung des Katastrophen- oder Ausnahmezustandes.[6]

Zweck und Funktionsweise

Die Anordnung einer Massenquarantäne für ein Gebiet ist eine Strategie, um durch Kontaktreduzierung einem anhaltenden Ausbruch etwa einer Epidemie oder Pandemie entgegenzuwirken. Die betroffenen Menschen sind verpflichtet, ihre Häuser nur noch dann zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist. Von Regelungen dieser Art ausgenommen ist im Allgemeinen die Durchführung grundlegender Aktivitäten (z. B. Arztbesuche, Pflege einer schutzbedürftigen Person, Kauf von Medikamenten, Nahrungsmitteln und Getränken etc.) oder die Bereitstellung von Arbeit in systemrelevanten Berufen (z. B. in der Gesundheitsversorgung, Sozialfürsorge, Polizei und bei den Streitkräften, bei der Brandbekämpfung, Wasser- und Stromversorgung oder in der kritischen Infrastruktur). Alle anderen nicht systemrelevanten Aktivitäten sollen bei einer Massenquarantäne zeitweilig unterbrochen und/oder von zu Hause aus ausgeführt werden (Teleheimarbeit).[7] Um Maßnahmen einer Massenquarantäne durchzusetzen, werden Polizei, Sicherheitskräfte und unter Umständen das Militär bzw. die Armee eingesetzt.

Massenquarantänen bedingen erhebliche soziale, wirtschaftliche, psychologische und auch gesundheitliche Konsequenzen, sodass ihr Einsatz sorgsam abgewogen werden muss.[8] Wochenlange Ausgangssperren stören soziale Gewohnheiten und Beziehungen, Teile der Bevölkerung stehen unter dem Risiko, Erkrankungen wie Insulinresistenz, Muskelatrophie, einen erhöhten Blutdruck und Herzfrequenz, eine Fettlebererkrankung, nichtalkoholische Steatohepatitis oder Fettstoffwechselstörung (Dyslipidämie) zu erleiden.[9] Stress, Frust, Schlafmangel und sozialer Isolation sind psychische Folgen solcher Maßnahmen.[4] Überproportional stark sind die Folgen für Angehörige niederen gesellschaftlichen Schichten, für die der dauernde Aufenthalt in ihren kleinen Wohnungen deutlich belastender erscheint als für die Bessergestellten, welche oft Häuser mit Gärten bewohnen.[10]

Beispiele

Spanische Grippe

In den Vereinigten Staaten wurde während der Spanische-Grippe-Epidemie von 1918–19 eine Massenquarantäne angeordnet. Die Regierung schloss Schulen, Geschäfte, ließ Gottesdienste ausfallen, unterbrach den Zug- und Schiffsverkehr und begann, Menschen in Quarantänelager zu bringen.[11]

SARS

Während der SARS-Pandemie 2003 wurden in den schwer betroffenen Regionen Bildungseinrichtungen, Restaurants und Kinos geschlossen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Ebola

In der liberianischen Hauptstadt Monrovia wurde zur Zeit der westafrikanischen Ebolaepidemie 2014 der Slum West Point mit ca. 75.000 Bewohnern abgeriegelt. Die Maßnahme wurde nach zwei Wochen aufgehoben, weil die uninformierten und sich selbst überlassenen Bewohner dagegen rebellierten.[12][13]

COVID-19-Pandemie

Von links nach rechts und von oben nach unten die Entwicklung der Massenquarantäne-Maßnahmen im Rahmen der COVID-19-Pandemie 2020 in mehreren Ländern: Krankentragen in einem medizinischen Zentrum in Wuhan (Volksrepublik China), menschenleere Straßen in Lima (Peru) und Madrid (Spanien) und Reinigungsmaßnahmen in Teheran (Iran) und Manila (Philippinen)

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden (Stand 30. März 2020) in über 50 Ländern weltweit landesweite Beschränkungen zur Begrenzung der Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen festgelegt, darunter in Großbritannien, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Südafrika, Indien, Kolumbien, Neuseeland und mehreren US-Bundesstaaten. Eine Schätzung ergibt, dass europaweit über 280 Millionen Menschen unter Massenquarantäne sind, 150 Millionen in den Vereinigten Staaten, fast 1,3 Milliarden in Indien und 50 bis 60 Millionen in China.[14] Mehr als ein Drittel der Menschheit ist aufgrund der COVID-19-Pandemie einschränkenden Maßnahmen unterworfen.

Die Volksrepublik China hat im Rahmen der COVID-19-Pandemie als erstes Land Gebiete unter Massenquarantäne gestellt, zunächst die Stadt Wuhan und anschließend die gesamte Provinz Hubei. Nach 76 Tagen Isolation wurde die Massenquarantäne am 8. April 2020 für Wuhan beendet.[15]

Im Gegensatz zu vielen Ländern Europas, die im Rahmen der COVID-19-Pandemie auf Massenquarantänen mit wochenlangen Ausgangssperren setzen, verzichten einige Staaten Ostasiens, wie zum Beispiel Japan, Singapur, Taiwan und Südkorea auf Massenquarantänen und setzen auf digitales „Contact Tracing(Rückverfolgung von Infektionsketten), Abstand halten und auf vermehrte Hygiene.[16]

Unterschiedliche Massenquarantäne-Szenarien

Zu unterscheiden sind im Allgemeinen die Anordnung einer unmittelbaren Massenquarantäne und ein graduelles Vorgehen. Bei einem graduellen Vorgehen wird auf eine politische Reaktion in Form von Beratung und Sensibilisierung für mögliche Strafen für Verstöße gegen ausgewählte Anweisungen gesetzt. Das schließt nicht aus, dass mit Fortschreiten der Krise eine spätere Massenquarantäne unvermeidbar wird. Die Absicht eines graduellen Vorgehens ist es, möglichst viele Menschen für eine möglichst lange Zeit in Arbeit zu halten, damit die Wirtschaft weiterhin funktioniert.[1]

Eine am 5. April 2020 veröffentlichte Analyse kam unter Zuhilfenahme der Verwendung eines Entscheidungsbaums zu dem Schluss, dass unter den getroffenen Annahmen für die angenommenen Wahrscheinlichkeiten im Entscheidungsbaum lediglich eine Chance von eins zu vier bestehe, dass die negativen wirtschaftlichen und Isolationseffekte der Aufrechterhaltung einer graduellen Politik weniger gravierend seien als die bei einer Politik der unmittelbaren Massenquarantäne. Ebenso sei die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer Politik der graduellen Maßnahmen weniger COVID-19-Fälle auftreten, gleich null. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass unter den getroffenen Annahmen eine unmittelbare Massenquarantäne einem graduellen Vorgehen vorzuziehen sei. Entscheidungstheoretische Ansätze haben laut dem Autor möglicherweise dazu geführt, dass viele Länder inzwischen verbindliche Massenquarantänerichtlinien eingeführt haben.[17]

Nutzen

Die Strategie der Massenquarantäne hat sich als wirksam erwiesen, um den COVID-19-Ausbruch in China einzudämmen und den Verlauf der Pandemie zu verlangsamen.[18] Laut einer Studie ließe sich ebenso durch ein sogenanntes digitales „Contact Tracing(Rückverfolgung von Infektionsketten) die COVID-19-Pandemie eindämmen. Somit ließen sich Massenquarantänen vermeiden, die mit negativen gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung verbunden sein können.[19][20] Im Unterschied zur Massenquarantäne, bei der eine große Anzahl von Personen (die möglicherweise infiziert sind oder nicht) unter Quarantäne gestellt werden, kann die Rückverfolgung von Infektionsketten („Contact Tracing“) die Quarantäne einer gezielteren Gruppe von Personen ermöglichen.[21]

Ein Argument der Befürworter von Massenquarantänen ist, dass sich durch eine Verkürzung der Dauer der Krise die Anzahl der COVID-19-Fälle verringern würde und sich somit die Phase, in der die Wirtschaft Störungen unterliegt, verkürzen lasse.[1]

Siehe auch

Weblinks

 Wiktionary: Lockdown – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wiktionary: Shutdown – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 Jonathan Karnon: A Simple Decision Analysis of a Mandatory Lockdown Response to the COVID-19 Pandemic. In: Applied Health Economics and Health Policy. 5. April 2020, S. 1–3, hier S. 1, PMC 7130451 (freier Volltext).
  2. Eva Quadbeck: Weltärztepräsident Montgomery: „Ein Lockdown ist eine politische Verzweiflungsmaßnahme“. In: RP-online.de. Abgerufen am 20. März 2020 (hinter einer Paywall).
  3.  Brandon Michael Henry, Giuseppe Lippi u. a.: Health risks and potential remedies during prolonged lockdowns for coronavirus disease 2019 (COVID-19). In: Diagnosis. 7. April 2020, S. 1 (Volltext, https://www.degruyter.com/view/journals/dx/ahead-of-print/article-10.1515-dx-2020-0041/article-10.1515-dx-2020-0041.xml).
  4. 4,0 4,1 Ralph Hertwig, Mattea Dallacker, Jutta Mata: Isolation: Was Massenquarantäne mit uns macht. In: Zeit Online. 1. April 2020, abgerufen am 20. April 2020 (Gastbeitrag).
  5. Richard Schabas: Commentary: Severe acute respiratory syndrome: Did quarantine help? In: Canadian Journal of Infectious Diseases and Medical Microbiology. Band 15, Nr. 4, Juli–August 2004, S. 204 (englisch; PDF: 1,1 MB auf hindawi.com).
  6. David Ruch: Kampf gegen Coronavirus: Wie extrem kann es noch werden? In: T-online.de. 17. März 2020, abgerufen am 19. April 2020.
  7.  Brandon Michael Henry, Giuseppe Lippi u. a.: Health risks and potential remedies during prolonged lockdowns for coronavirus disease 2019 (COVID-19). In: Diagnosis. 7. April 2020, S. 1, doi:10.1515/dx-2020-0041 (https://www.degruyter.com/view/journals/dx/ahead-of-print/article-10.1515-dx-2020-0041/article-10.1515-dx-2020-0041.xml).
  8. Troy Day et al.: When is quarantine a useful control strategy for emerging infectious diseases?., In: American Journal of Epidemiology (2006).
  9.  Brandon Michael Henry, Giuseppe Lippi u. a.: Health risks and potential remedies during prolonged lockdowns for coronavirus disease 2019 (COVID-19). In: Diagnosis. 7. April 2020, S. 2, doi:10.1515/dx-2020-0041 (https://www.degruyter.com/view/journals/dx/ahead-of-print/article-10.1515-dx-2020-0041/article-10.1515-dx-2020-0041.xml).
  10. @1@2Vorlage:Toter Link/www.zeit.de (Seite nicht mehr abrufbar; Suche in Webarchiven) zeit.de
  11. Apoorva Mandavilli: SARS epidemic unmasks age-old quarantine conundrum. (2003).
  12. @1@2Vorlage:Toter Link/www.zeit.de (Seite nicht mehr abrufbar; Suche in Webarchiven) zeit.de
  13. @1@2Vorlage:Toter Link/www.zeit.de (Seite nicht mehr abrufbar; Suche in Webarchiven) zeit.de
  14. Deutsche Welle: China setzt auf Massen-Quarantäne gegen Corona-Virus. abgerufen am 9. April 2020.
  15. KBS World: China beendet Isolation von Wuhan, 8. April 2020, Abruf am 13. April 2020.
  16. Wolfram Weimer: Person der Woche: Stefan Löfven – Macht Schweden es klüger? n-tv.de, 31. März 2020, Abruf am 13. April 2020.
  17. Jonathan Karnon: A Simple Decision Analysis of a Mandatory Lockdown Response to the COVID-19 Pandemic. In: Applied Health Economics and Health Policy (2020), S. 2. PMC 7130451 (freier Volltext)
  18.  Brandon Michael Henry, Giuseppe Lippi u. a.: Health risks and potential remedies during prolonged lockdowns for coronavirus disease 2019 (COVID-19). In: Diagnosis. 7. April 2020, S. 1, doi:10.1515/dx-2020-0041 (https://www.degruyter.com/view/journals/dx/ahead-of-print/article-10.1515-dx-2020-0041/article-10.1515-dx-2020-0041.xml).
  19. Deutsches Ärzteblatt: Digitales „Contact Tracing“ könnte SARS-CoV-2 aufhalten. abgerufen am 9. April 2020.
  20. Luca Ferretti, Chris Wymant u. a.: Quantifying SARS-CoV-2 transmission suggests epidemic control with digital contact tracing. 31 März 2020
  21. Selena Simmons-Duffin: How Contact Tracing Works And How It Can Help Reopen The Country., In: NPR, abgerufen am 15. April 2020.


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