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[[Datei:Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury.jpg|miniatur|Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury]]
{{Textbox|<poem>Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.
'''Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury''' (* 26. Februar 1671 in London; † 4. Februar 1713 in Neapel) war ein englischer Politiker, [[Moralphilosophie|Moralphilosoph]], Schriftsteller und [[Philanthrop]] der frühen [[Aufklärung]].
                  <small>[[Goethe]]: ''Maximen und Reflexionen''<ref>[[Johann Wolfgang von Goethe]]: ''Maximen und Reflexionen'', Werke - Hamburger Ausgabe Bd. 12, 9. Aufl. München: dtv, 1981, S. 408, ISBN 3423590386</ref></small></poem>}}
Ein '''Urteil''' ([[Latein|lat.]] ''iudicium'', {{ELSalt|αποφανσις}}, ''apophansis'', als Glied des Schlusses ''propositio'' bzw. {{polytonisch|προτασις}}, ''protasis'' genannt) ist eine [[Aussage (Logik)|logische Aussage]], welche die durch das [[Denken]] vollzogene Verbindung zweier [[Begriff]]e bezeichnet.  


== Leben ==
== Kategorisches Urteil ==
=== Kindheit und Jugend ===
Anthony Ashley-Cooper wurde im Exeter House in London als Enkel von [[Anthony Ashley-Cooper, 1. Earl of Shaftesbury]], geboren. Die Ehe seiner Eltern wurde angeblich von [[John Locke]] vermittelt, einem Freund seines Großvaters. Der zweite Lord Shaftesbury scheint geistig und körperlich behindert gewesen zu sein. Im Alter von drei Jahren wurde sein Sohn in die Obhut des Großvaters gegeben. John Locke, der als medizinischer Betreuer der Familie bereits bei der Geburt geholfen hatte, wurde nun mit der Erziehung des jungen Shaftesbury beauftragt. Locke orientierte sich dabei an den Prinzipien, die er in seinem Werk ''Thoughts concerning Education'' formuliert hatte. Seine Methode, [[Latein]] und (klassisches) [[Altgriechische Sprache|Griechisch]] gesprächsweise unterrichten zu lassen, war so erfolgreich, dass Ashley mit elf Jahren beide Sprachen fließend lesen konnte.


Im November 1683, einige Monate nach dem Tod seines Großvaters, kam Ashley auf das [[Winchester College]], wo er jedoch keine guten Erfahrungen machte. 1686 verließ er die Schule, um eine [[Grand Tour|erzieherische Auslandsreise]] zu unternehmen. Dabei geriet er in Kontakt zu künstlerischen und klassischen Vereinigungen, die seinen Charakter und seine Ansichten stark beeinflussen sollten. Auf seiner Reise scheint er weniger das Gespräch mit gleichaltrigen Engländern, sondern eher mit ihren Lehrern gesucht zu haben, mit denen er sich auf gleicher Ebene unterhielt.
Ein '''kategorisches Urteil''' (von {{ELSalt|κατηγορία}} ''kategoria'' „Kategorie, Klasse“; [[lat.]] ''categoria'' „Grundaussage“) spricht einer Klasse von Gegenständen, dem ''Subjekt'' (S), mittels einer '''Kopula''' ([[lat.]] ''copula'' „Verbindendes, Verknüpfendes, Band“) ein ''Prädikat'' (P), z.B. eine bestimmte [[Eigenschaft]], zu oder ab. Nach ihrer [[Quantität]] kann man dabei '''allgemeine''' und '''partikuläre Urteile''' unterscheiden. Damit sind insgesamt folgende vier ''Typen'' von Urteilen möglich:


=== Beginn der politischen Laufbahn ===
{| width="450px" |
1689, ein Jahr nach der [[Glorious Revolution]], kehrte Lord Ashley nach England zurück und führte fünf Jahre lang ein zurückgezogenes Leben. Zweifellos widmete er sich in dieser Zeit vor allem dem Studium klassischer Autoren und bemühte sich, den wahren Geist des klassischen Altertums zu verstehen. Dennoch hatte er keineswegs die Absicht sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen: Er wurde Parlamentskandidat für den Wahlkreis Poole und entschied am 21. Mai 1695 die Wahl für sich. In seiner ersten Parlamentsrede setzte er sich dafür ein, dass auch Personen, die des Landesverrats angeklagt werden, Anspruch auf einen Rechtsanwalt haben sollten. Obwohl er sich als [[Whig]] verstand, wollte er sich doch keiner Parteidisziplin unterordnen, und er war stets bereit, auch Vorschläge anderer Parteien zu unterstützen, wenn sie die Freiheit der Bürger und die Unabhängigkeit des Parlaments förderten. Seine gefährdete Gesundheit zwang ihn jedoch im Juli 1698, sich aus dem Parlament zurückzuziehen. Er litt an [[Asthma]], einer Erkrankung, die durch den Londoner [[Smog]] noch verschlimmert wurde.
|-
| A || allgemein bejahendes Urteil || alle '''S''' sind '''P''' || (SaP)
|-
| E || allgemein verneinendes Urteil || kein '''S''' ist '''P''' || (SeP)
|-
| I || partikulär bejahendes Urteil || einige '''S''' sind '''P''' || (SiP)
|-
| O || partikulär verneinendes Urteil || einige '''S''' sind nicht '''P''' || (SoP)
|}


Lord Ashley zog sich nun in die [[Niederlande]] zurück. Dort machte er die Bekanntschaft von [[Georges-Louis Leclerc de Buffon]], [[Pierre Bayle]], [[Benjamin Furly]] (1636–1714) und anderer Mitglieder des literarischen Zirkels, in dem John Locke rund zehn Jahre zuvor in [[Rotterdam]] gefeiert worden war. Für Lord Ashley war diese Gesellschaft wahrscheinlich anregender als seine Umgebung in England, denn uneingeschränkte Diskussionen über die ihn interessierenden Gegenstände Philosophie, Politik, Moral und Religion waren zu dieser Zeit in den Niederlanden in größerem Umfang und mit geringerem Risiko möglich als in jedem anderen Land der Welt. Während seines Aufenthalts in den Niederlanden wurde in England ohne seine Einwilligung durch [[John Toland (Philosoph)|John Toland]] sein Frühwerk ''Inquiry concerning Virtue'' veröffentlicht.<ref>[[Wolfgang Röd]]: ''Die Philosophie der Neuzeit 2: Von Newton bis Rousseau'' (= ''Geschichte der Philosophie'', Bd. 8). C.H. Beck, München 1984, S. 133.</ref>
== Vorurteil ==


Nach über einem Jahr kehrte Lord Ashley nach England zurück. 1699, beim Tode seines Vaters, erbte  er dessen Titel eines Earl of Shaftesbury. Bei den Wahlen der Jahre 1700 und 1701 setzte er sich für die Whigs ein. [[Wilhelm III. (Oranien)|William III.]] soll ihm ein Amt als Staatssekretär angeboten haben, was Shaftesbury aus Gesundheitsgründen ablehnte. Als Königin [[Anne (Großbritannien)|Anne]] die Regierung antrat, zog Shaftesbury sich aus dem aktiven politischen Leben zurück.
{{Hauptartikel|Vorurteil}}


=== Die Jahre als Schriftsteller ===
Urteile, die in einer gegebenen Situation nicht unmittelbar durch das aktuelle Denken gefällt werden, sondern [[gewohnheit]]smäßgig mehr oder weniger fertig dem [[Gedächtnis]] entnommen werden, sind ganz allgemein als [[Vorurteil]]e zu werten. Tatsächlich ist unser Alltagsleben weitgehend durch derartige Vorurteile geprägt. Sie erleichtern die Orientierung im täglichen Leben, sind dafür geradezu unverzichtbar, verhindern derart aber auch sehr leicht das Streben nach einer tiefer gehenden [[Erkenntnis]].
Im August 1703 ging Shaftesbury aus gesundheitlichen Gründen wieder für ein Jahr in die Niederlande. Doch konnte er seine Leiden dort nicht vollständig auskurieren. Deswegen betätigte er sich nach seiner Rückkehr nach England fast ausschließlich literarisch. Von dieser Zeit an schrieb oder überarbeitete er die Abhandlungen, die später gesammelt als ''Characteristics'' veröffentlicht wurden. Dennoch verfolgte Shaftesbury weiterhin interessiert die politischen Ereignisse, besonders den Krieg gegen Frankreich, den er befürwortete.


Ab 1708 begann Shaftesbury, anonym verschiedene Essays zu veröffentlichen, z.&nbsp;B. ''Sensus Communis, an Essay on the Freedom of Wit and Humour'' oder ''The Moralists, a Philosophical Rhapsody''. 1711 erschienen diese und andere Essays (darunter auch die überarbeitete ''Inquiry concerning Virtue''), wiederum anonym, in der dreibändigen Sammlung ''Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times''.
== Der Astralleib als Träger der Urteilskraft ==


[[Datei:Anthony Ashley-Cooper 3rd Earl of Shaftesbury.jpg|miniatur|Kupferstich von Anthony Ashley-Cooper im ersten Band der ''Characteristics'']]
Träger der [[Urteilskraft]] ist der [[Astralleib]] des [[Mensch]]en; die logische Urteilskraft erwacht darum auch erst so richtig etwa mit dem [[12. Lebensjahr]], wenn sich mit der nahenden [[Geschlechtsreife]] die Geburt des eigenständigen Astralleibs ankündigt. Eben weil das Urteil eigentlich im Astralleib sitzt und dieser nicht über ein ganz [[wach]]es, sondern über ein [[Traumbewusstsein]] verfügt, können Urteile sehr gut in die träumende [[Seele]] hinuntersteigen. Darauf ist in der [[Waldorfpädagogik]] besonders Rücksicht zu nehmen.
Shaftesburys Gesundheitszustand verschlechterte sich, so dass er sich genötigt sah, Erholung in einem wärmeren Klima zu suchen: Im Juli 1711 reiste er nach [[Italien]], ließ sich in [[Neapel]] nieder und blieb dort länger als ein Jahr. In Italien bereitete er die zweite Auflage der ''Characteristics'' vor, die bald nach seinem Tod erschien, und schrieb weitere Essays, darunter ''A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules'' und den ''Letter Concerning Design''.


In seinen letzten Lebensmonaten war Shaftesbury beunruhigt durch die Ereignisse, die dem [[Frieden von Utrecht]] vorausgingen, und die er als Wegbereitung für den Abfall der englischen Verbündeten betrachtete. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages am 31. März 1713 erlebte Shaftesbury nicht mehr, denn er starb einen Monat vorher, am 4. Februar 1713. Seine sterblichen Überreste wurden nach England zurückgebracht und am Familiensitz in [[Dorset]] bestattet.
<div style="margin-left:20px">
"Das Urteil entwickelt sich ja zunächst auch, selbstverständlich, im
vollwachenden Leben. Aber das Urteil kann schon hinuntersteigen in
die Untergründe der menschlichen Seele, da, wo die Seele träumt. Der
Schluß sollte nicht einmal in die träumende Seele hinunterziehen, sondern
nur das Urteil kann in die träumende Seele hinunterziehen. Also
alles, was wir uns als Urteil über die Welt bilden, zieht in die träumende
Seele hinunter.


Sein gleichnamiger Sohn folgte ihm als vierter Earl of Shaftesbury nach. Sein Ur-Ur-Enkel, der siebte Earl, war ein berühmter [[Philanthrop]].
Ja, was ist denn diese träumende Seele eigentlich? Sie ist mehr das
Gefühlsmäßige, wie wir gelernt haben. Wenn wir also im Leben Urteile
gefällt haben und dann über die Urteilsfällung hinweggehen und das
Leben weiterführen, so tragen wir unsere Urteile durch die Welt; aber
wir tragen sie im Gefühl durch die Welt. Das heißt aber weiter: das
Urteilen wird in uns eine Art Gewohnheit. Sie bilden die Seelengewohnheiten
des Kindes aus durch die Art, wie Sie die Kinder urteilen
lehren. Dessen müssen Sie sich durchaus bewußt sein. Denn der Ausdruck
des Urteils im Leben ist der Satz, und mit jedem Satze, den Sie
zu dem Kinde sprechen, tragen Sie ein Atom hinzu zu den Seelengewohnheiten
des Kindes. Daher sollte der ja Autorität besitzende
Lehrer sich immer bewußt sein, daß das, was er spricht, haften werde
an den Seelengewohnheiten des Kindes." {{Lit|{{G|293|137}}}}
</div>


== Shaftesburys philosophische Bedeutung ==
== Logische Urteile und Wahrnehmungsurteile ==
Shaftesburys philosophische Bedeutung als [[Aufklärer (Zeitalter der Aufklärung)|Aufklärer]] beruht vor allem auf seinen ethischen Überlegungen, mit denen er vor allem darauf abzielte, [[Thomas Hobbes]] und den von ihm gelehrten [[Egoismus]] zu widerlegen. Mit den Methoden der [[Empirismus|empirischen Psychologie]] untersuchte er den Menschen zuerst als Einheit in sich selbst und zweitens in den Beziehungen zu den größeren Einheiten der Gesellschaft und der Menschheit.


Sein oberstes Prinzip war die Harmonie oder Balance, die er auf der Grundlage des guten Geschmacks oder Empfindens als Gegensatz zum Verstand aufbauen wollte:
Von dem '''logischen Urteil''' oder '''Begriffsurteil''' zu unterscheiden ist das '''Wahrnehmungsurteil''', bei dem ein Begriff mit einer [[Wahrnehmung]] verknüpft wird. Ein solches Wahrnehmungsurteil fälle ich beispielsweise, wenn ich ''diese Blume, die ich gerade ganz konkret wahrnehme'' (Wahrnehmung) als ''Rose'' (Begriff) identifiziere, also erkenne, dass sie unter den [[Allgemeinbegriff]] „Rose“ fällt.
# Der Mensch als Individuum ist an erster Stelle eine Einheit aus Trieben, Leidenschaften, Gemütsbewegungen, mehr oder weniger perfekt kontrolliert vom zentralen Verstand. Im moralischen Menschen sind diese Faktoren gleichmäßig ausbalanciert. „Wer auch immer“, schreibt Shaftesbury, „in dieser moralischen Architektur auch nur im geringsten bewandert ist, wird das innere Leben so ausgerichtet finden, dass die zu lange oder zu intensive Hingabe an eine einzelne Leidenschaft irreparablen Schaden anrichten kann“. (''Inquiry concerning Virtue'')
# Als soziales Wesen ist der Mensch Teil einer größeren Harmonie, und um zum Wohlergehen des Ganzen beizutragen, muss er seine außengerichteten Aktivitäten so kontrollieren, dass sie nicht mit seiner Umgebung kollidieren. Nur wenn der Mensch seine inneren und seine sozialen Beziehungen nach diesem Ideal reguliert, kann er als moralisch betrachtet werden. Der Egoist und auch der Altruist sind beide unvollkommen. In der reifen Humanität sind beide Impulse vollkommen ausbalanciert.


So wendet sich Shaftesbury mit seinem Kriterium der Harmonie gegen Hobbes, und er leitet daraus ab, die Tugend der Wohltätigkeit sei für die Moral unverzichtbar. Ferner zieht er enge Parallelen zwischen den moralischen und den ästhetischen Kriterien: So wie es eine Fähigkeit gibt, die sich in der Sphäre der Kunst dem Schönen annähert, gibt es in der Sphäre der Ethik eine Fähigkeit, die den moralischen Wert von Handlungen bestimmt. Diese Fähigkeit beschreibt Shaftesbury (zum ersten Mal in der englischen Geistesgeschichte) als moralischen Sinn (s. [[Francis Hutcheson]]) oder Gewissen (s. [[Joseph Butler]]). In ihrem Wesen ist sie vor allem emotional und nicht-reflexiv; in ihrem Entwicklungsprozess wird sie durch Erziehung und Praxis rationalisiert. Die emotionalen und rationalen Elemente des moralischen Sinnes hat Shaftesbury nicht vollkommen analysiert.
{{GZ|Bei aller wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit
ist der Vorgang dieser: Wir treten der konkreten Wahrnehmung
gegenüber. Sie steht wie ein Rätsel vor uns. In uns
macht sich der Drang geltend, ihr eigentliches Was, ihr Wesen,
das sie nicht selbst ausspricht, zu erforschen. Dieser
Drang ist nichts anderes als das Emporarbeiten eines Begriffes
aus dem Dunkel unseres Bewußtseins. Diesen Begriff
halten wir dann fest, während die sinnenfällige Wahrnehmung
mit diesem Denkprozesse parallel geht. Die stumme
Wahrnehmung spricht plötzlich eine uns verständliche
Sprache; wir erkennen, daß der Begriff, den wir gefaßt
haben, jenes gesuchte Wesen der Wahrnehmung ist.


Aus diesem Prinzip folgt:
Was sich da vollzogen hat, ist ein Urteil. Es ist verschieden
# Die Unterscheidung zwischen richtig und falsch gehört konstitutionell zur menschlichen Natur.
von jener Gestalt des Urteils, die zwei Begriffe verbindet,
# Moral ist unabhängig von der Theologie, und die moralischen Qualitäten von Handlungen sind festgelegt unabhängig von der Willkür Gottes.
ohne auf die Wahrnehmung Rücksicht zu nehmen.
# Das entscheidende Beurteilungskriterium für eine Handlung ist ihre Tendenz, die allgemeine Harmonie oder Wohlfahrt zu fördern.
Wenn ich sage: die Freiheit ist die Bestimmung eines
# Trieb und Verstand konkurrieren bei der Determinierung von Handlungen.
Wesens aus sich selbst heraus, so habe ich auch ein Urteil
# Aufgabe des Moralphilosophen ist nicht, das Problem von [[Willensfreiheit]] und [[Determinismus]] zu lösen.
gefällt. Die Glieder dieses Urteils sind Begriffe, die ich nicht
in der Wahrnehmung gegeben habe. Auf solchen Urteilen
beruht die innere Einheitlichkeit unseres Denkens, die wir
im vorigen Kapitel behandelt haben.


Daraus wird ersichtlich, dass Shaftesbury sich im Gegensatz zu Hobbes und Locke befand, hingegen in enger Übereinstimmung mit Hutcheson. Er war auch ein religiöser Denker, insofern er als Antriebskräfte für das moralische Handeln den Druck der öffentlichen Meinung, die Angst vor Strafe und die Autorität des staatlichen Rechts ablehnte - gelten ließ er nur die Stimme des Gewissens und die Liebe zu Gott: Diese beiden Kräfte allein bewegen den Menschen, zu seinem eigenen Nutzen nach der universalen Harmonie zu streben.
Das Urteil, welches hier in Betracht kommt, hat zum
Subjekte eine Wahrnehmung, zum Prädikate einen Begriff.
Dieses bestimmte Tier, das ich vor mir habe, ist ein Hund.
In einem solchen Urteile wird eine Wahrnehmung in mein
Gedankensystem an einem bestimmten Orte eingefügt.
Nennen wir ein solches Urteil ein Wahrnehmungsurteil.


Shaftesburys philosophisches Spektrum beschränkte sich auf Ethik, Ästhetik und Religion. Logik verachtete er als Instrument für pedantische Spitzfindigkeiten, denen an den Universitäten zu viel Beachtung geschenkt werde.
''Durch das Wahrnehmungsurteil wird erkannt, daß ein bestimmter sinnenfälliger Gegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten Begriffe zusammenfällt.''|2|64f}}


Die Hauptaufgabe des Moralphilosophen liegt für Shaftesbury darin, ein System der [[Deismus|natürlichen Theologie]] zu entwerfen und die Wege Gottes dem Menschen gegenüber zu rechtfertigen. Shaftesburys religiöses Glaubensbekenntnis bestand nur aus wenigen, einfachen Thesen, die er aber mit Enthusiasmus verfocht. Sie können kurz zusammengefasst werden als Glaube an den einen Gott, dessen Hauptcharakteristikum die universelle Güte ist. Ferner glaubte er an die moralische Lenkung des Universums und an eine zukünftige Entwicklungsstufe der Menschheit, in der die Schwächen und Ungleichheiten des jetzigen Lebens überwunden werden. Die Materie betrachtete Shaftesbury als ein Prinzip, das ebenso wie Gott ewig ist und dessen Wirken begrenzt, weshalb es auch die Ursache von allem Bösen ist.&nbsp;– Diese religiösen Ansichten Shaftesburys wurden popularisiert von [[Alexander Pope]], dessen ''Essay on Man'' teilweise nur eine in Versform gebrachte Fassung von Shaftesburys Religionsphilosophie ist.
Im Gegensatz zu den logischen Urteilen werden Wahrnehmungsurteile, zumindest in grundlegender Form, schon früh in der Kindheit ausgebildet.


Shaftesbury brachte Spott und Witz in die Philosophie. Statt zu belehren und nach der Wahrheit zu forschen, fragte er nach der Lächerlichkeit einer Aussage. In seinem ''Letter concerning Enthusiasm'' (1707) wendet er sich gegen schwärmerischen Fanatismus, vor allem religiöser Art, der schon durch Religionskriege Länder verwüstet habe. Glaubenseiferer wollte er z.&nbsp;B. auf Jahrmärkten der Lächerlichkeit preisgeben. Sein Test der Lächerlichkeit wird, so schreibt er, zeigen, was wirklich wertvoll und sinnvoll ist. Nicht nur religiöse oder politische Schwärmerei sollte dieser Probe unterzogen werden, sondern jeder Mensch, der mit Vernunft ausgestattet ist, kann sie auf sich selbst anwenden. Zu großer Ernst sei das Wesen von Betrug und Heuchelei. Er berge die Gefahr sich selbst zu verfehlen. Dieser Essay in Briefform erregte große Kritik. Mehrere Gegenschriften erschienen. Insbesondere wurde sein Umgang mit religiösen Ausdrucksweisen abgelehnt. Der Vorwurf lautete, Glaubensformen und Rituale würden von einem geheimen Atheisten lächerlich gemacht.<ref>[[Manfred Geier]]: ''Aufklärung. Das europäische Projekt''. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2012, S. 83ff.</ref>
== Analytische und synthetische Urteile ==


== Nachwirkung ==
[[Immanuel Kant]] hat zwischen analytischen und synthetischen Urteilen unterschieden. '''Analytische Urteile''' seien [[a priori]] [[wahr]], da sie sich aus der [[Analyse]] bereits fertiger Begriffe ergeben und daher in Wahrheit nichts Neues bringen und folglich bloße „'''Erläuterungsurteile'''“ sind. '''Synthetische Urteile''' hingegen erweitern die [[Erkenntnis]], sind also „Erweiterungsurteile“. Seit [[David Hume]] festgestellt hatte, dass aus [[Empirie|empirischen]] Daten durch [[Induktion]] keine sicheren Urteile zu gewinnen sein, die mit absoluter [[Notwendigkeit]] gelten müssen, war Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt und stellte daher die klassische Erkenntnisfrage: „Wie sind synthetische Urteile ''a priori'' möglich?“
[[Datei:DRYDEN(1760) p1.247 Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury.jpg|mini|Anthony Ashley]]
Shaftesburys Schriften hatten im In- und Ausland beachtlichen Einfluss, insbesondere im [[Zeitalter der Aufklärung]]. Sein ethisches System wurde von Hutcheson aufgegriffen und in eine philosophischere Form gebracht; von ihm strahlte es weiter aus auf [[David Hume]] und [[Adam Smith]]. Selbst [[Samuel Butler (Schriftsteller)|Samuel Butler]] blieb davon nicht unbeeinflusst. Von den sogenannten [[Deismus|Deisten]] war Shaftesbury der angesehenste. Die „Characteristics“ wurden bei ihrem Erscheinen mit großem Wohlwollen aufgenommen und z.&nbsp;B. von [[Gottfried Wilhelm Leibniz]] gelobt.


1745 adaptierte [[Denis Diderot]] die ''Inquiry concerning Virtue'' zu seinem Werk ''Essai sur le Mérite et la Vertu''. 1769 wurde eine französische Übersetzung von Shaftesburys Werken, einschließlich der Briefe, in [[Genf]] veröffentlicht. Von 1776 bis 1779 erschien eine komplette deutsche Übersetzung der ''Characteristics'', nachdem einzelne Essays Shaftesburys schon seit 1738 ins Deutsche übersetzt worden waren. Wie der Literaturhistoriker [[Hermann Hettner]] schrieb, wurden nicht nur [[Gottfried Wilhelm Leibniz]], [[Voltaire]] und Denis Diderot von Shaftesbury entscheidend angeregt, sondern auch [[Gotthold Ephraim Lessing]], [[Moses Mendelssohn]], [[Christoph Martin Wieland]] und [[Johann Gottfried von Herder]]. Selbst [[Immanuel Kant]] erwähnt ihn in seiner Schrift ''Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien'' in bezug auf Shaftesburys Auffassung von der Einmaligkeit der menschlichen Individualität. In seiner ''Adrastea'' lobt Herder Shaftesburys Werke als in der Form den antiken Griechen gleichrangig und im Inhalt sogar überlegen. Das Interesse deutscher Literaten an Shaftesbury wurde später wiederbelebt durch zwei exzellente Monographien: ''Shaftesbury'' von [[Gideon Spicker]] (Freiburg, 1872), der ihn eher von der theologischen Seite behandelt, und aus eher philosophischer Perspektive ''Die Philosophie Shaftesbury's'' von [[Georg von Gizycki]] (Leipzig, 1876).
[[Rudolf Steiner]] hielt die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile für nicht gerechtfertigtes bloßes Gedankenspiel und dachte wesentlich [[Realismus|realistischer]]. Um die Gültigkeit eines Urteils zu ergründen, müsse man es in ein '''Existenzurteil''' umwandeln. Dann erkenne man, ob etwas tatsächlich so ''ist'' oder ''nicht ist'' (''Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage ...'').


== Werke ==
{{GZ|Wenn wir hier zu der Urteilsbildung kommen, dann müssen wir
=== Originaltitel (Auswahl) ===
wiederum finden, daß die neuere denkerische Arbeit in eine Art von
* ''An Inquiry Concerning Virtue or Merit.'' 1699
Mausefalle geraten ist. Denn es steht an der Pforte der neueren denkerischen
* ''Preface to the Sermons of Dr. Whichcote.'' 1698
Arbeit Kant, und er bildet eine der größten Autoritäten.
* ''Concerning Enthusiasm to Lord Somers.'' 1708
Gleich im Beginne der Kantschen Werke finden wir die Urteile im
* ''Sensus Communis, an Essay on the Freedom of Wit and Humour.'' 1709
Gegensatz zu Aristoteles. Heute wollen wir darauf hinweisen, wie
* ''The Moralists, a Philosophical Rhapsody.'' 1709
Gedankenfehler gemacht werden. Gleich im Beginne der Kantschen
* ''Soliloquy, or Advice to an Author.'' 1709
«Kritik der reinen Vernunft» finden wir die Rede von analytischen
* ''Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times.'' 1711
und synthetischen Urteilen. Was sollen die analytischen Urteile
* ''A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules.''
sein? Sie sollen das sein, wo ein Begriff an den anderen gereiht wird
so, daß in dem Subjektbegriff schon der Prädikatbegriff drinnenliegt
und man ihn nur herausschält. Kant sagt: Denke ich den Begriff des
Körpers und sage, der Körper ist ausgedehnt, so ist das ein analytisches
Urteil; denn kein Mensch kann den Begriff des Körpers denken,
ohne sich den Körper ausgedehnt zu denken. - Er löst aus dem
Subjekt den Begriff des Prädikats nur heraus. So ist ein analytisches
Urteil ein solches, das gebildet wird, indem man den Prädikatbegriff
aus dem Subjektbegriff herausholt. Ein synthetisches Urteil dagegen
ist ein Urteil, in dem der Prädikatbegriff noch nicht so eingewickelt
im Subjektbegriff liegt, daß man ihn bloß auswickeln dürfte. Wenn
jemand den Begriff des Körpers denkt, so denkt er nicht dazu den
Begriff der Schwere. Wenn also der Begriff der Schwere zu dem des
Körpers gefügt wird, so hat man ein synthetisches Urteil. Das ist ein
Urteil, welches nicht nur Erläuterungen bringt, sondern unsere Gedankenwelt
bereichern würde.


=== Deutsche Übersetzungen ===
Nun werden Sie aber einsehen können, daß dieser Unterschied
* ''Sämtliche Werke, Briefe und nachgelassene Schriften, 19 Bde. (Standard Edition)'', hrsg., übers. und kommentiert von Wolfram Benda, Christine Jackson-Holzberg, Patrick Müller und Friedrich A. Uehlein. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 ff., ISBN 978-3-7728-0743-5
zwischen analytischen und synthetischen Urteilen überhaupt kein
* ''"Freundschaft und Menschenliebe"'' (dieser Titel vom Hg. vergeben) In: Klaus-Dieter Eichler (Hg.): ''Philosophie der Freundschaft'' Reclam, Leipzig 1999 & 2000, S. 98–102 (Übers. Ludwig Hölty & Johann Benzler) ISBN 3-379-01669-1; aus: Shaftesbury: ''Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays'' Hg. Karl-Heinz Schwabe, Beck, München 1990 ISBN 3-406-34348-1 (S. 80–84)
logischer ist. Denn ob jemand bei einem Subjektbegriff den Prädikatbegriff
* ''Untersuchung über die Tugend'' Übers. Paul Ziertmann ''A general Treatise of morality'' Felix Meiner, Leipzig 1905 (Reihe: Philosophische Bibliothek 110; 122 S.) Auszug in: dsb., ''Religion und Tugend'' ebd. 1919 (48 S.)
schon denkt, hängt davon ab, wie weit er es gebracht hat.
Wer sich den Körper so vorstellt, daß er nicht schwer ist, für den ist
der Begriff «schwer» in bezug auf den Körper fremd; wer aber schon
durch seine denkerische und sonstige Arbeit es dahin gebracht hat,
die Schwere sich mit dem Körper verbunden zu denken, der braucht
auch aus seinem Begriff «Körper» nur diesen hineingewickelten
Begriff wieder herauszuwickeln. Das ist also ein rein subjektiver
Unterschied.
 
Bei all diesen Dingen muß man gründlich zu Werke gehen. Man
muß die Fehlerquellen genau aufsuchen. Mir scheint tatsächlich, daß
derjenige, der also doch dasjenige als rein subjektiv in Wirklichkeit
erfaßt, was man herausschälen kann aus einem Begriff, daß der eigentlich
eine Grenze zwischen analytischen und synthetischen Urteilen
gar nicht finden wird und daß er in Verlegenheit kommen
könnte, eine Definition davon zu geben. Es kommt auf etwas ganz
anderes an. Worauf kommt es an? Das nachher! Mir erscheint in der
Tat recht bezeichnend, was sich zugetragen hat, als bei einem Examen
die Rede war von den beiden Urteilen. Da gab es einen Doktor,
der sollte im Nebenfach über Logik geprüft werden. Er war in seinem
Fache tüchtig gesattelt, doch in der Logik wußte er gar nichts.
Er sagte vor der Prüfung zu einem Freunde, dieser sollte ihm noch
einiges aus der Logik sagen. Aber der Freund, der dies etwas ernster
nahm, sprach: Wenn du jetzt noch nichts weißt, so ist es schon gescheiter,
du verläßt dich auf dein Glück. - Nun kam er zum Examen.
 
Da ging, wie gesagt, alles sehr gut in den Hauptfächern; da war
er sattelfest. Aber in der Logik wußte er nichts. Der Professor fragte
ihn: Also sagen Sie mir, was ist ein synthetisches Urteil? - Er wußte
keine Antwort und war nun sehr verlegen. Ja, Herr Kandidat, wissen
Sie gar nicht, was das ist? - fragte der Professor. Nein! - lautete
die Antwort. Eine vortreffliche Antwort! - rief der Examinator -,
sehen Sie, man forscht schon so lange nach dem, was das ist, und
kann nicht dahinterkommen, was eigentlich ein synthetisches Urteil
ist. Sie hätten eine bessere Antwort gar nicht geben können.
Und können Sie mir noch sagen, Herr Kandidat, was ein analytisches
Urteil ist? - Der Kandidat war nun schon frecher geworden
und antwortete zuversichtlich: Nein! - O ich sehe, Sie sind - fuhr
der Professor fort -, in den Geist der Sache eingedrungen. Man hat
so lange geforscht nach dem, was ein analytisches Urteil ist und ist
nicht dahintergekommen. Das weiß man nicht. Eine vortreffliche
Antwort! - Die Tatsache hat sich wirklich zugetragen; sie erschien
mir immer, wenn sie auch nicht unbedingt als solche genommen
werden darf, als recht gute Charakteristik dafür, was beide Urteile
unterscheidet. Es unterscheidet sie in der Tat nichts, es fließt das
eine in das andere über.
 
Nun müssen wir uns noch klarmachen, wie denn überhaupt von
gültigen Urteilen gesprochen werden kann, was ein solches ist. Das
ist eine sehr wichtige Sache.
 
Ein Urteil ist zunächst nichts anderes als die Verbindung von
Vorstellungen oder Begriffen. «Die Rose ist rot», ist ein Urteil. Ob
nun dadurch, daß ein solches Urteil richtig ist, es auch schon gültig
ist, darauf kommt es an. Da müssen wir uns klarmachen: wenn ein
Urteil richtig ist, so braucht es noch lange kein gültiges Urteil zu
sein. Bei diesem kommt es nicht nur darauf an, daß man einen Subjektbegriff
mit einem Prädikatbegriff verbindet. Lassen Sie uns ein
Beispiel nehmen! «Diese Rose ist rot», ist ein richtiges Urteil. Ob es
nun auch gültig ist, ist nicht ausgemacht; denn wir können auch andere
richtige Urteile bilden, welche deshalb noch lange nicht gültig
sind. Nach der formalen Logik brauchte gegen die Richtigkeit eines
Urteils nichts eingewendet werden zu müssen; es könnte ganz richtig
sein, aber mit der Gültigkeit könnte es doch hapern. Es könnte
zum Beispiel jemand die Vorstellung eines Wesens ausdenken, das
halb Pferd, zu einem Viertel Walfisch und zum letzten Viertel Kamel
ist. Dieses Tier wollen wir nun - «Taxu» nennen. Jetzt ist es
zweifellos richtig, daß dieses Tier häßlich wäre. Das Urteil: «Das
Taxu ist häßlich», ist also richtig und kann durchaus nach allen Regeln
der Richtigkeit so gefällt werden; denn das Taxu, halb Pferd,
viertels Walfisch und vierteis Kamel ist häßlich, das ist zweifellos,
und wie das Urteil «Diese Rose ist rot» richtig ist, so auch dieses.
Nun darf man niemals ein richtiges Urteil auch als gültig ansprechen.
Dazu ist etwas anderes notwendig: Sie müssen das richtige Urteil
umwandeln können. Sie müssen erst dann das richtige Urteil als
gültig ansehen, wenn Sie sagen können: «Diese rote Rose ist», wenn
Sie das Prädikat wiederum in das Subjekt hineinnehmen können,
wenn Sie umwandeln können das richtige Urteil in ein Existentialurteil.
In diesem Fall also haben Sie ein gültiges Urteil. «Diese rote
Rose ist». Anders geht es nicht, als daß man den Prädikatbegriff hineinzunehmen
vermag in den Subjektbegriff. Dann ist das Urteil gültig.
«Das Taxu ist häßlich», kann man nicht zu einem gültigen Urteil
machen. Sie können nicht sagen: «Ein häßliches Taxu ist». Das zeigt
Ihnen die Probe, durch die man erfahren kann, ob ein Urteil überhaupt
gefällt werden kann; das zeigt Ihnen, wie die Probe gemacht
werden muß. Die Probe muß dadurch gemacht werden, daß man
sieht, ob man das Urteil in ein Existentialurteil umzuwandeln in der
Lage ist.|108|229ff}}
 
== Zweifaches Umschmelzen geisteswissenschaftlicher Urteile ==
Bevor geisteswissenschaftliche Wahrheiten mitgeteilt werden können, müssen sie zweimal umgeschmolzen sein, was ein Prozeß sein kann, der sich über viele Jahre hinzieht:
 
<div style="margin-left:20px">
"Nun, ich möchte sagen, in demselben Geiste fortfahrend, aus dem
heraus ich dieses gesprochen habe, möchte ich heute zunächst einiges
vorbringen über die Bildung eines geisteswissenschaftlichen Urteils
überhaupt, ich meine eines solchen Urteils, das eine geisteswissenschaftliche
Wahrheit aussprechen will. Es berührt einen immer sehr eigentümlich,
wenn man merkt, wie wenig Gefühl vorhanden ist für den
Ernst, mit dem geisteswissenschaftliche Wahrheiten ausgesprochen
werden. Für das Aussprechen irgendeines Urteils innerhalb der alltäglichen
Welt, die man durch seine Sinne beobachtet, da gilt es, dieses
Urteil durch Beobachtung oder Logik in einem bestimmten Zeitpunkte
seines Lebens zu gewinnen. Und es ist voll berechtigt, wenn man durch
Beobachtung und Logik ein solches Urteil über Dinge der sinnlichen
oder der geschichtlichen Außenwelt gewonnen hat. Beim Geisteswissenschaftlichen
kann es eigentlich so nicht sein. Da genügt es nicht, einmal
sich der Bildung eines Urteils unterzogen zu haben, sondern da ist wesentlich
ein anderes notwendig. Da ist notwendig dasjenige, was ich die
zweimalige Umschmelzung des Urteils nennen möchte. Und diese Umschmelzung
geschieht in der Regel nicht nach kurzen Zeiträumen, sondern
meistens nach langen Zeiträumen. Man faßt irgendein Urteil nach
den gewöhnlichen Methoden, die Sie ja kennen aus meiner Darstellung
in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder aus dem
zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft»; man gelangt, sage ich,
durch solche Methoden zu irgendeinem Urteil über geistige Vorgänge
oder geistige Wesenheiten. Man hat jetzt eigentlich die Verpflichtung,
dieses Urteil zunächst bei sich selbst zu behalten, es nicht auszusprechen.
Ja man hat sogar die innere Verpflichtung, dieses Urteil vor sich
selbst so zu behandeln, daß man es zunächst als eine bloße Tatsache
hinnimmt und ihm weder mit Zustimmung noch mit Ablehnung entgegenkommt.
Dann wird man nach einiger Zeit, vielleicht nach Jahren
erst, dazu kommen, in dem eigenen Seelenleben die erste Umschmelzung
dieses Urteils vorzunehmen, es zu vertiefen, ja es in vieler Beziehung
zu verwandeln. Es wird dieses Urteil, selbst wenn es inhaltlich
dasselbe bleibt nach dieser Umschmelzung, eine andere Nuance von
innerem Anteil, von innerer ihm zuerteilter Wärme zum Beispiel, annehmen.
Es wird unter allen Umständen nach dieser ersten Umschmelzung
sich in anderer Weise als beim ersten Fassen in das Seelenleben
einverleiben, und man wird nach dieser ersten Umschmelzung das Gefühl
haben: Du hast dich selber in einer gewissen Wei§e von dem Urteil
getrennt. - Wenn es zu der ersten Umschmelzung Jahre dauert, so kann
man ja auch nicht immerfort dieses Urteil in seiner Seele weiterwälzen.
Dieses Urteil geht natürlich ins Unbewußte hinunter. Dieses Urteil
führt unabhängig von dem Ich ein eigenes Leben. Das ist notwendig.
Solch ein Urteil muß unabhängig von dem eigenen Ich ein selbständiges
Leben führen. Man muß gewissermaßen ein solches Urteil leben
lassen, ohne daß man dabei ist. Dadurch schmilzt man aus dem Urteil
die Egoität heraus. Man übergibt es demjenigen, was in einem selber
objektiv ist, während beim ersten Beobachten und bei dem ersten
logischen Zusammenstellen des Urteils eben die Egoität, das eigene
Ich, immer mitwirkt und mitspielt. Und dann, wenn das Urteil zum
ersten Male - wie gesagt, vielleicht nach Jahren - umgeschmolzen ist,
dann wird man merken: Dieses Urteil kommt wieder, kommt einem
aus den Seelentiefen so zu, wie irgendeine Tatsache der Außenwelt.
Man hat es in der Zwischenzeit verloren gehabt, man findet es wieder.
Man findet es wieder so, daß es einem jetzt sagt: Du hast mich unvollkommen,
du hast mich vorerst vielleicht irrtümlich gefällt; ich habe
mich selber richtiggestellt. - Dieses Urteil wird der wahre Geisteswissenschafter
suchen, dieses Urteil, das sein eigenes Leben in der
menschlichen Seele entfaltet. Geduld, viel Geduld gehört zu einem
solchen Umschmelzen des Urteils, denn, wie gesagt, es ist oftmals erst
nach Jahren möglich, diese Umschmelzung herbeizuführen, und die
Gewissenhaftigkeit, die bei der Geisteswissenschaft entfaltet werden
muß, die verlangt eben durchaus, daß man nicht sich sprechen läßt,
sondern daß man die Dinge sprechen läßt.
 
Aber nun, meine lieben Freunde, wenn man ein Urteil also umgeschmolzen
hat, dann erlangt man gerade diesem umgeschmolzenen, ich
möchte sagen, aus der Objektivität wieder an einen herantretenden
Urteile gegenüber das starke Gefühl: Man ist mit diesem Urteil, trotzdem
man es sich objektiv hat wiedergeben lassen, dennoch in sich. Und
noch immer kann es durchaus so sein, daß man sich durchaus außerstande
fühlt, ein solches Urteil über eine geisteswissenschaftliche Angelegenheit
schon abzugeben. Denn man hat eben die Aufgabe, die
Dinge sprechen zu lassen und nicht sich sprechen zu lassen. Daher
wartet man auf die zweite Umschmelzung des Urteils, bis zu der es
unter Umständen wiederum Jahre dauern kann. So daß man also nach
der zweiten Umschmelzung des Urteils eine dritte Gestalt des Urteils
hat. Da wird man einen bedeutsamen Unterschied merken zwischen
dem, was vorgeht in dem Zeitraum zwischen der ersten Fassung des
Urteils und der ersten Umschmelzung, und zwischen der ersten Umschmelzung
und der zweiten Umschmelzung. Man wird nämlich merken,
daß man in einer verhältnismäßig leichten Weise zwischen dem
ersten Fassen und der ersten Umschmelzung das Urteil wiederum in
das Gedächtnis heraufbringen konnte. Zwischen der ersten Umschmelzung
und der zweiten Umschmelzung hat man die größte Mühe, das
Urteil wieder in Erinnerung zu bringen, denn es geht in tiefe, tiefe
Seelenuntergründe hinunter, in Seelenuntergründe, in die ein zunächst
an der Außenwelt leicht geschürztes Urteil gar nicht hinuntergeht. Ein
so umgeschmolzenes Urteil geht in tiefe Seelenuntergründe hinunter,
und da lernt man erst kennen, wenn man dann ein solches Urteil zwischen
der ersten Umschmelzung heraufbringen will in die Seele, wie es
oft eines Ringens bedarf, um ein solches Urteil ins Gedächtnis zu rufen.
Unter dem Urteile meine ich jetzt die Anschauung der ganzen Tatsache,
wenn es sich auf eine geisteswissenschaftliche Tatsache bezieht.
Und dann, wenn man das Urteil in der dritten Gestalt bekommt, dann
weiß man, dieses Urteil ist bei der Sache oder bei dem Vorgang gewesen,
auf den es sich bezieht oder auf die es sich bezieht. Das Urteil
zwischen dem ersten Fassen und der ersten Umschmelzung ist noch bei
einem selbst geblieben, aber zwischen dem ersten und zweiten Umschmelzen
ist das Urteil untergetaucht in die objektiv geistige Tatsache
oder die objektiv geistige Wesenheit, und man merkt: die Sache selber
gibt einem mit dieser dritten Gestalt das Urteil, das eben eine Anschauung
ist, zurück. Und jetzt erst fühlt man sich eigentlich gegenüber
den geisteswissenschaftlichen Tatsachen berufen, Mitteilung von
der Anschauung beziehungsweise dem Urteile zu machen. Mitteilung
macht man erst dann, wenn man diese zweifache Umschmelzung vollzogen
hat und dadurch die Gewißheit erhalten hat, daß dasjenige, was
man erst angeschaut hat in der ersten Fassung, durch die Seele selber
den Weg genommen hat zu den Tatsachen, zu den Dingen hin und von
diesen wiederum zurückgekommen ist. Ja, ein Urteil, das abgegeben
wird in gültiger Weise auf geisteswissenschaftlichem Gebiete, ein solches
Urteil hat man erst geschickt zu den Tatsachen oder Wesenheiten,
über die es sprechen will.
 
Sehen Sie, dem, was ich jetzt gesagt habe, wird man nicht fernestehen, wenn man über wesentliche und bedeutungsvolle geisteswissenschaftliche
Tatsachen die Darstellungen richtig auffaßt. Wenn man
freilich Zyklen so liest, wie man moderne Romane liest, dann wird
man nicht aus der Fassung selber erkennen, daß das Wesentliche, der
eigentliche Beweis in dieser zweimaligen Umschmelzung des Urteils
liegt. Und man wird dann sagen, das sei eine Behauptung, das sei kein
Beweis. Ja, ein anderer Beweis als das Erleben, aber das gewissenhafte
Erleben nach zweimaliger Umschmelzung des Urteils, ein anderer Beweis
kann für Geistiges nicht aufgezeigt werden. Denn das Beweisen
des Geistigen besteht in einem Erleben. Das Begreifen nicht. Das Begreifen
ist dem gesunden Menschenverstände nach einer hinlänglichen
Darstellung überall zugänglich. Aber diese hinlängliche Darstellung
muß die Möglichkeit geben, aus der Fassung der Sache eben dem gesunden
Menschenverstände alle Anhaltspunkte zu liefern, damit er aus
dieser Art der Darstellung sich überzeugen kann, daß durch das «Wie»
des gegebenen Urteils seine Wahrheit verbürgt ist.
 
Es macht immer einen höchst eigentümlichen Eindruck, wenn Leute
kommen und sagen: Geisteswissenschaftliche Wahrheiten sollen in derselben
Weise bewiesen werden, wie etwa Behauptungen über äußerlich
sinnliche Tatsachen. Menschen, die dies fordern, kennen eben noch gar
nicht den Unterschied zwischen dem, was eine Anschauung auf dem
geistigen Gebiet ist, und demjenigen, was eine Anschauung auf dem
Sinnes- oder gewöhnlichen historischen Gebiete ist. Derjenige, welcher
Anthroposophie kennenlernt, wird bemerken, wie die einzelne Wahrheit,
die vertreten wird, sich in den Zusammenhang der ganzen Anthroposophie
hineinstellt. Und er wird einfach in demjenigen, das er
im Zusammenhang kennengelernt hat, eine Bekräftigung einer neuen
Wahrheit finden, die er hört. Und wiederum: die neue Wahrheit wird
zurückwirken auf dasjenige, was er schon gehört hat. Und so ist mit
Anthroposophie bekannt werden ein fortwährendes Wachsen in der
Überzeugung von der Wahrheit der Anthroposophie. Von einer mathematischen
Wahrheit kann man im Augenblick überzeugt sein, aber
sie hat deshalb auch kein Leben. Das Anthroposophische ist Leben, daher
ist auch die Überzeugung nicht in einem Augenblick abgeschlossen,
das heißt, sie lebt, sie vergrößert sich fortwährend. Ich möchte sagen,
die anthroposophische Überzeugung ist zunächst ein Baby, wo man
noch ganz unsicher ist, wo man fast nur einen Glauben hat oder nur
einen Glauben hat; dann wächst sich diese Überzeugung, indem man
immer mehr und mehr kennenlernt, allmählich auch immer sicherer
und sicherer aus. Dieses Auswachsen der anthroposophischen Überzeugung
ist eben ein Zeuge von ihrer inneren Lebendigkeit." {{G|257|35ff}}
</div>


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury}}
* {{Eisler|Urteil}}
* {{WikipediaDE|Kritik}}
* {{Kirchner|Urteil}}
* {{UTB-Philosophie|Dr. Thomas Zwenger|921|Urteil}}


== Literatur ==
== Literatur ==
* {{SEP|http://plato.stanford.edu/entries/shaftesbury/ || Michael B. Gill}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung''. 8. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2002, ISBN 3-7274-0020-X {{Schriften|002}}
* {{BBKL|archiveurl=https://web.archive.org/web/20070629113347/http://www.bautz.de/bbkl/s/s3/shaftesbury_a_a_c.shtml |band=9|spalten=1587-1591|autor=Klaus Kienzler|artikel=SHAFTESBURY, Anthony Ashley Cooper}}
* Rudolf Steiner: ''Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie'', [[GA 108]] (1986), ISBN 3-7274-1081-7 {{Vorträge|108}}
* Barbara Schmidt-Haberkamp: ''[http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00041674_00002.html  Die Kunst der Kritik: Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury]''. Wilhelm Fink, München 2000.
* [[Rudolf Steiner]]: ''Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik'', [[GA 293]] (1992), ISBN 3-7274-2930-5 {{Vorträge|293}}
 
* [[Rudolf Steiner]]: ''Anthroposophische Gemeinschaftsbildung'', [[GA 257]] (1989), ISBN 3-7274-2570-9 {{Geschichte|257}} {{Vorträge1|144}}
== Weblinks ==
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/philosophie_kategorien_und_urteile.pdf Kategorien und Urteile - Kategorienschrift] PDF
{{Commonscat|Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury|Anthony Ashley-Cooper}}
* {{DNB-Portal|118613693}}
 
== Einzelnachweise ==
<references/>


{{Normdaten|TYP=p|GND=118613693|LCCN=n/50/2516|VIAF=41846508}}
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{{SORTIERUNG:Shaftesbury}}
== Einzelanchweise ==
[[Kategorie:Philosoph]]
<references />
[[Kategorie:Ästhetiker]]
[[Kategorie:Aufklärer]]
[[Kategorie:Englische Literatur des 18. Jahrhunderts]]
[[Kategorie:Literatur (Englisch)]]
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Version vom 15. April 2019, 00:14 Uhr

Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.
                   Goethe: Maximen und Reflexionen[1]

Ein Urteil (lat. iudicium, griech. αποφανσις, apophansis, als Glied des Schlusses propositio bzw. προτασις, protasis genannt) ist eine logische Aussage, welche die durch das Denken vollzogene Verbindung zweier Begriffe bezeichnet.

Kategorisches Urteil

Ein kategorisches Urteil (von griech. κατηγορία kategoria „Kategorie, Klasse“; lat. categoria „Grundaussage“) spricht einer Klasse von Gegenständen, dem Subjekt (S), mittels einer Kopula (lat. copula „Verbindendes, Verknüpfendes, Band“) ein Prädikat (P), z.B. eine bestimmte Eigenschaft, zu oder ab. Nach ihrer Quantität kann man dabei allgemeine und partikuläre Urteile unterscheiden. Damit sind insgesamt folgende vier Typen von Urteilen möglich:

A allgemein bejahendes Urteil alle S sind P (SaP)
E allgemein verneinendes Urteil kein S ist P (SeP)
I partikulär bejahendes Urteil einige S sind P (SiP)
O partikulär verneinendes Urteil einige S sind nicht P (SoP)

Vorurteil

Hauptartikel: Vorurteil

Urteile, die in einer gegebenen Situation nicht unmittelbar durch das aktuelle Denken gefällt werden, sondern gewohnheitsmäßgig mehr oder weniger fertig dem Gedächtnis entnommen werden, sind ganz allgemein als Vorurteile zu werten. Tatsächlich ist unser Alltagsleben weitgehend durch derartige Vorurteile geprägt. Sie erleichtern die Orientierung im täglichen Leben, sind dafür geradezu unverzichtbar, verhindern derart aber auch sehr leicht das Streben nach einer tiefer gehenden Erkenntnis.

Der Astralleib als Träger der Urteilskraft

Träger der Urteilskraft ist der Astralleib des Menschen; die logische Urteilskraft erwacht darum auch erst so richtig etwa mit dem 12. Lebensjahr, wenn sich mit der nahenden Geschlechtsreife die Geburt des eigenständigen Astralleibs ankündigt. Eben weil das Urteil eigentlich im Astralleib sitzt und dieser nicht über ein ganz waches, sondern über ein Traumbewusstsein verfügt, können Urteile sehr gut in die träumende Seele hinuntersteigen. Darauf ist in der Waldorfpädagogik besonders Rücksicht zu nehmen.

"Das Urteil entwickelt sich ja zunächst auch, selbstverständlich, im vollwachenden Leben. Aber das Urteil kann schon hinuntersteigen in die Untergründe der menschlichen Seele, da, wo die Seele träumt. Der Schluß sollte nicht einmal in die träumende Seele hinunterziehen, sondern nur das Urteil kann in die träumende Seele hinunterziehen. Also alles, was wir uns als Urteil über die Welt bilden, zieht in die träumende Seele hinunter.

Ja, was ist denn diese träumende Seele eigentlich? Sie ist mehr das Gefühlsmäßige, wie wir gelernt haben. Wenn wir also im Leben Urteile gefällt haben und dann über die Urteilsfällung hinweggehen und das Leben weiterführen, so tragen wir unsere Urteile durch die Welt; aber wir tragen sie im Gefühl durch die Welt. Das heißt aber weiter: das Urteilen wird in uns eine Art Gewohnheit. Sie bilden die Seelengewohnheiten des Kindes aus durch die Art, wie Sie die Kinder urteilen lehren. Dessen müssen Sie sich durchaus bewußt sein. Denn der Ausdruck des Urteils im Leben ist der Satz, und mit jedem Satze, den Sie zu dem Kinde sprechen, tragen Sie ein Atom hinzu zu den Seelengewohnheiten des Kindes. Daher sollte der ja Autorität besitzende Lehrer sich immer bewußt sein, daß das, was er spricht, haften werde an den Seelengewohnheiten des Kindes." (Lit.: GA 293, S. 137)

Logische Urteile und Wahrnehmungsurteile

Von dem logischen Urteil oder Begriffsurteil zu unterscheiden ist das Wahrnehmungsurteil, bei dem ein Begriff mit einer Wahrnehmung verknüpft wird. Ein solches Wahrnehmungsurteil fälle ich beispielsweise, wenn ich diese Blume, die ich gerade ganz konkret wahrnehme (Wahrnehmung) als Rose (Begriff) identifiziere, also erkenne, dass sie unter den Allgemeinbegriff „Rose“ fällt.

„Bei aller wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit ist der Vorgang dieser: Wir treten der konkreten Wahrnehmung gegenüber. Sie steht wie ein Rätsel vor uns. In uns macht sich der Drang geltend, ihr eigentliches Was, ihr Wesen, das sie nicht selbst ausspricht, zu erforschen. Dieser Drang ist nichts anderes als das Emporarbeiten eines Begriffes aus dem Dunkel unseres Bewußtseins. Diesen Begriff halten wir dann fest, während die sinnenfällige Wahrnehmung mit diesem Denkprozesse parallel geht. Die stumme Wahrnehmung spricht plötzlich eine uns verständliche Sprache; wir erkennen, daß der Begriff, den wir gefaßt haben, jenes gesuchte Wesen der Wahrnehmung ist.

Was sich da vollzogen hat, ist ein Urteil. Es ist verschieden von jener Gestalt des Urteils, die zwei Begriffe verbindet, ohne auf die Wahrnehmung Rücksicht zu nehmen. Wenn ich sage: die Freiheit ist die Bestimmung eines Wesens aus sich selbst heraus, so habe ich auch ein Urteil gefällt. Die Glieder dieses Urteils sind Begriffe, die ich nicht in der Wahrnehmung gegeben habe. Auf solchen Urteilen beruht die innere Einheitlichkeit unseres Denkens, die wir im vorigen Kapitel behandelt haben.

Das Urteil, welches hier in Betracht kommt, hat zum Subjekte eine Wahrnehmung, zum Prädikate einen Begriff. Dieses bestimmte Tier, das ich vor mir habe, ist ein Hund. In einem solchen Urteile wird eine Wahrnehmung in mein Gedankensystem an einem bestimmten Orte eingefügt. Nennen wir ein solches Urteil ein Wahrnehmungsurteil.

Durch das Wahrnehmungsurteil wird erkannt, daß ein bestimmter sinnenfälliger Gegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten Begriffe zusammenfällt.“ (Lit.:GA 2, S. 64f)

Im Gegensatz zu den logischen Urteilen werden Wahrnehmungsurteile, zumindest in grundlegender Form, schon früh in der Kindheit ausgebildet.

Analytische und synthetische Urteile

Immanuel Kant hat zwischen analytischen und synthetischen Urteilen unterschieden. Analytische Urteile seien a priori wahr, da sie sich aus der Analyse bereits fertiger Begriffe ergeben und daher in Wahrheit nichts Neues bringen und folglich bloße „Erläuterungsurteile“ sind. Synthetische Urteile hingegen erweitern die Erkenntnis, sind also „Erweiterungsurteile“. Seit David Hume festgestellt hatte, dass aus empirischen Daten durch Induktion keine sicheren Urteile zu gewinnen sein, die mit absoluter Notwendigkeit gelten müssen, war Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt und stellte daher die klassische Erkenntnisfrage: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“

Rudolf Steiner hielt die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile für nicht gerechtfertigtes bloßes Gedankenspiel und dachte wesentlich realistischer. Um die Gültigkeit eines Urteils zu ergründen, müsse man es in ein Existenzurteil umwandeln. Dann erkenne man, ob etwas tatsächlich so ist oder nicht ist („Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage ...“).

„Wenn wir hier zu der Urteilsbildung kommen, dann müssen wir wiederum finden, daß die neuere denkerische Arbeit in eine Art von Mausefalle geraten ist. Denn es steht an der Pforte der neueren denkerischen Arbeit Kant, und er bildet eine der größten Autoritäten. Gleich im Beginne der Kantschen Werke finden wir die Urteile im Gegensatz zu Aristoteles. Heute wollen wir darauf hinweisen, wie Gedankenfehler gemacht werden. Gleich im Beginne der Kantschen «Kritik der reinen Vernunft» finden wir die Rede von analytischen und synthetischen Urteilen. Was sollen die analytischen Urteile sein? Sie sollen das sein, wo ein Begriff an den anderen gereiht wird so, daß in dem Subjektbegriff schon der Prädikatbegriff drinnenliegt und man ihn nur herausschält. Kant sagt: Denke ich den Begriff des Körpers und sage, der Körper ist ausgedehnt, so ist das ein analytisches Urteil; denn kein Mensch kann den Begriff des Körpers denken, ohne sich den Körper ausgedehnt zu denken. - Er löst aus dem Subjekt den Begriff des Prädikats nur heraus. So ist ein analytisches Urteil ein solches, das gebildet wird, indem man den Prädikatbegriff aus dem Subjektbegriff herausholt. Ein synthetisches Urteil dagegen ist ein Urteil, in dem der Prädikatbegriff noch nicht so eingewickelt im Subjektbegriff liegt, daß man ihn bloß auswickeln dürfte. Wenn jemand den Begriff des Körpers denkt, so denkt er nicht dazu den Begriff der Schwere. Wenn also der Begriff der Schwere zu dem des Körpers gefügt wird, so hat man ein synthetisches Urteil. Das ist ein Urteil, welches nicht nur Erläuterungen bringt, sondern unsere Gedankenwelt bereichern würde.

Nun werden Sie aber einsehen können, daß dieser Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen überhaupt kein logischer ist. Denn ob jemand bei einem Subjektbegriff den Prädikatbegriff schon denkt, hängt davon ab, wie weit er es gebracht hat. Wer sich den Körper so vorstellt, daß er nicht schwer ist, für den ist der Begriff «schwer» in bezug auf den Körper fremd; wer aber schon durch seine denkerische und sonstige Arbeit es dahin gebracht hat, die Schwere sich mit dem Körper verbunden zu denken, der braucht auch aus seinem Begriff «Körper» nur diesen hineingewickelten Begriff wieder herauszuwickeln. Das ist also ein rein subjektiver Unterschied.

Bei all diesen Dingen muß man gründlich zu Werke gehen. Man muß die Fehlerquellen genau aufsuchen. Mir scheint tatsächlich, daß derjenige, der also doch dasjenige als rein subjektiv in Wirklichkeit erfaßt, was man herausschälen kann aus einem Begriff, daß der eigentlich eine Grenze zwischen analytischen und synthetischen Urteilen gar nicht finden wird und daß er in Verlegenheit kommen könnte, eine Definition davon zu geben. Es kommt auf etwas ganz anderes an. Worauf kommt es an? Das nachher! Mir erscheint in der Tat recht bezeichnend, was sich zugetragen hat, als bei einem Examen die Rede war von den beiden Urteilen. Da gab es einen Doktor, der sollte im Nebenfach über Logik geprüft werden. Er war in seinem Fache tüchtig gesattelt, doch in der Logik wußte er gar nichts. Er sagte vor der Prüfung zu einem Freunde, dieser sollte ihm noch einiges aus der Logik sagen. Aber der Freund, der dies etwas ernster nahm, sprach: Wenn du jetzt noch nichts weißt, so ist es schon gescheiter, du verläßt dich auf dein Glück. - Nun kam er zum Examen.

Da ging, wie gesagt, alles sehr gut in den Hauptfächern; da war er sattelfest. Aber in der Logik wußte er nichts. Der Professor fragte ihn: Also sagen Sie mir, was ist ein synthetisches Urteil? - Er wußte keine Antwort und war nun sehr verlegen. Ja, Herr Kandidat, wissen Sie gar nicht, was das ist? - fragte der Professor. Nein! - lautete die Antwort. Eine vortreffliche Antwort! - rief der Examinator -, sehen Sie, man forscht schon so lange nach dem, was das ist, und kann nicht dahinterkommen, was eigentlich ein synthetisches Urteil ist. Sie hätten eine bessere Antwort gar nicht geben können. Und können Sie mir noch sagen, Herr Kandidat, was ein analytisches Urteil ist? - Der Kandidat war nun schon frecher geworden und antwortete zuversichtlich: Nein! - O ich sehe, Sie sind - fuhr der Professor fort -, in den Geist der Sache eingedrungen. Man hat so lange geforscht nach dem, was ein analytisches Urteil ist und ist nicht dahintergekommen. Das weiß man nicht. Eine vortreffliche Antwort! - Die Tatsache hat sich wirklich zugetragen; sie erschien mir immer, wenn sie auch nicht unbedingt als solche genommen werden darf, als recht gute Charakteristik dafür, was beide Urteile unterscheidet. Es unterscheidet sie in der Tat nichts, es fließt das eine in das andere über.

Nun müssen wir uns noch klarmachen, wie denn überhaupt von gültigen Urteilen gesprochen werden kann, was ein solches ist. Das ist eine sehr wichtige Sache.

Ein Urteil ist zunächst nichts anderes als die Verbindung von Vorstellungen oder Begriffen. «Die Rose ist rot», ist ein Urteil. Ob nun dadurch, daß ein solches Urteil richtig ist, es auch schon gültig ist, darauf kommt es an. Da müssen wir uns klarmachen: wenn ein Urteil richtig ist, so braucht es noch lange kein gültiges Urteil zu sein. Bei diesem kommt es nicht nur darauf an, daß man einen Subjektbegriff mit einem Prädikatbegriff verbindet. Lassen Sie uns ein Beispiel nehmen! «Diese Rose ist rot», ist ein richtiges Urteil. Ob es nun auch gültig ist, ist nicht ausgemacht; denn wir können auch andere richtige Urteile bilden, welche deshalb noch lange nicht gültig sind. Nach der formalen Logik brauchte gegen die Richtigkeit eines Urteils nichts eingewendet werden zu müssen; es könnte ganz richtig sein, aber mit der Gültigkeit könnte es doch hapern. Es könnte zum Beispiel jemand die Vorstellung eines Wesens ausdenken, das halb Pferd, zu einem Viertel Walfisch und zum letzten Viertel Kamel ist. Dieses Tier wollen wir nun - «Taxu» nennen. Jetzt ist es zweifellos richtig, daß dieses Tier häßlich wäre. Das Urteil: «Das Taxu ist häßlich», ist also richtig und kann durchaus nach allen Regeln der Richtigkeit so gefällt werden; denn das Taxu, halb Pferd, viertels Walfisch und vierteis Kamel ist häßlich, das ist zweifellos, und wie das Urteil «Diese Rose ist rot» richtig ist, so auch dieses. Nun darf man niemals ein richtiges Urteil auch als gültig ansprechen. Dazu ist etwas anderes notwendig: Sie müssen das richtige Urteil umwandeln können. Sie müssen erst dann das richtige Urteil als gültig ansehen, wenn Sie sagen können: «Diese rote Rose ist», wenn Sie das Prädikat wiederum in das Subjekt hineinnehmen können, wenn Sie umwandeln können das richtige Urteil in ein Existentialurteil. In diesem Fall also haben Sie ein gültiges Urteil. «Diese rote Rose ist». Anders geht es nicht, als daß man den Prädikatbegriff hineinzunehmen vermag in den Subjektbegriff. Dann ist das Urteil gültig. «Das Taxu ist häßlich», kann man nicht zu einem gültigen Urteil machen. Sie können nicht sagen: «Ein häßliches Taxu ist». Das zeigt Ihnen die Probe, durch die man erfahren kann, ob ein Urteil überhaupt gefällt werden kann; das zeigt Ihnen, wie die Probe gemacht werden muß. Die Probe muß dadurch gemacht werden, daß man sieht, ob man das Urteil in ein Existentialurteil umzuwandeln in der Lage ist.“ (Lit.:GA 108, S. 229ff)

Zweifaches Umschmelzen geisteswissenschaftlicher Urteile

Bevor geisteswissenschaftliche Wahrheiten mitgeteilt werden können, müssen sie zweimal umgeschmolzen sein, was ein Prozeß sein kann, der sich über viele Jahre hinzieht:

"Nun, ich möchte sagen, in demselben Geiste fortfahrend, aus dem heraus ich dieses gesprochen habe, möchte ich heute zunächst einiges vorbringen über die Bildung eines geisteswissenschaftlichen Urteils überhaupt, ich meine eines solchen Urteils, das eine geisteswissenschaftliche Wahrheit aussprechen will. Es berührt einen immer sehr eigentümlich, wenn man merkt, wie wenig Gefühl vorhanden ist für den Ernst, mit dem geisteswissenschaftliche Wahrheiten ausgesprochen werden. Für das Aussprechen irgendeines Urteils innerhalb der alltäglichen Welt, die man durch seine Sinne beobachtet, da gilt es, dieses Urteil durch Beobachtung oder Logik in einem bestimmten Zeitpunkte seines Lebens zu gewinnen. Und es ist voll berechtigt, wenn man durch Beobachtung und Logik ein solches Urteil über Dinge der sinnlichen oder der geschichtlichen Außenwelt gewonnen hat. Beim Geisteswissenschaftlichen kann es eigentlich so nicht sein. Da genügt es nicht, einmal sich der Bildung eines Urteils unterzogen zu haben, sondern da ist wesentlich ein anderes notwendig. Da ist notwendig dasjenige, was ich die zweimalige Umschmelzung des Urteils nennen möchte. Und diese Umschmelzung geschieht in der Regel nicht nach kurzen Zeiträumen, sondern meistens nach langen Zeiträumen. Man faßt irgendein Urteil nach den gewöhnlichen Methoden, die Sie ja kennen aus meiner Darstellung in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder aus dem zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft»; man gelangt, sage ich, durch solche Methoden zu irgendeinem Urteil über geistige Vorgänge oder geistige Wesenheiten. Man hat jetzt eigentlich die Verpflichtung, dieses Urteil zunächst bei sich selbst zu behalten, es nicht auszusprechen. Ja man hat sogar die innere Verpflichtung, dieses Urteil vor sich selbst so zu behandeln, daß man es zunächst als eine bloße Tatsache hinnimmt und ihm weder mit Zustimmung noch mit Ablehnung entgegenkommt. Dann wird man nach einiger Zeit, vielleicht nach Jahren erst, dazu kommen, in dem eigenen Seelenleben die erste Umschmelzung dieses Urteils vorzunehmen, es zu vertiefen, ja es in vieler Beziehung zu verwandeln. Es wird dieses Urteil, selbst wenn es inhaltlich dasselbe bleibt nach dieser Umschmelzung, eine andere Nuance von innerem Anteil, von innerer ihm zuerteilter Wärme zum Beispiel, annehmen. Es wird unter allen Umständen nach dieser ersten Umschmelzung sich in anderer Weise als beim ersten Fassen in das Seelenleben einverleiben, und man wird nach dieser ersten Umschmelzung das Gefühl haben: Du hast dich selber in einer gewissen Wei§e von dem Urteil getrennt. - Wenn es zu der ersten Umschmelzung Jahre dauert, so kann man ja auch nicht immerfort dieses Urteil in seiner Seele weiterwälzen. Dieses Urteil geht natürlich ins Unbewußte hinunter. Dieses Urteil führt unabhängig von dem Ich ein eigenes Leben. Das ist notwendig. Solch ein Urteil muß unabhängig von dem eigenen Ich ein selbständiges Leben führen. Man muß gewissermaßen ein solches Urteil leben lassen, ohne daß man dabei ist. Dadurch schmilzt man aus dem Urteil die Egoität heraus. Man übergibt es demjenigen, was in einem selber objektiv ist, während beim ersten Beobachten und bei dem ersten logischen Zusammenstellen des Urteils eben die Egoität, das eigene Ich, immer mitwirkt und mitspielt. Und dann, wenn das Urteil zum ersten Male - wie gesagt, vielleicht nach Jahren - umgeschmolzen ist, dann wird man merken: Dieses Urteil kommt wieder, kommt einem aus den Seelentiefen so zu, wie irgendeine Tatsache der Außenwelt. Man hat es in der Zwischenzeit verloren gehabt, man findet es wieder. Man findet es wieder so, daß es einem jetzt sagt: Du hast mich unvollkommen, du hast mich vorerst vielleicht irrtümlich gefällt; ich habe mich selber richtiggestellt. - Dieses Urteil wird der wahre Geisteswissenschafter suchen, dieses Urteil, das sein eigenes Leben in der menschlichen Seele entfaltet. Geduld, viel Geduld gehört zu einem solchen Umschmelzen des Urteils, denn, wie gesagt, es ist oftmals erst nach Jahren möglich, diese Umschmelzung herbeizuführen, und die Gewissenhaftigkeit, die bei der Geisteswissenschaft entfaltet werden muß, die verlangt eben durchaus, daß man nicht sich sprechen läßt, sondern daß man die Dinge sprechen läßt.

Aber nun, meine lieben Freunde, wenn man ein Urteil also umgeschmolzen hat, dann erlangt man gerade diesem umgeschmolzenen, ich möchte sagen, aus der Objektivität wieder an einen herantretenden Urteile gegenüber das starke Gefühl: Man ist mit diesem Urteil, trotzdem man es sich objektiv hat wiedergeben lassen, dennoch in sich. Und noch immer kann es durchaus so sein, daß man sich durchaus außerstande fühlt, ein solches Urteil über eine geisteswissenschaftliche Angelegenheit schon abzugeben. Denn man hat eben die Aufgabe, die Dinge sprechen zu lassen und nicht sich sprechen zu lassen. Daher wartet man auf die zweite Umschmelzung des Urteils, bis zu der es unter Umständen wiederum Jahre dauern kann. So daß man also nach der zweiten Umschmelzung des Urteils eine dritte Gestalt des Urteils hat. Da wird man einen bedeutsamen Unterschied merken zwischen dem, was vorgeht in dem Zeitraum zwischen der ersten Fassung des Urteils und der ersten Umschmelzung, und zwischen der ersten Umschmelzung und der zweiten Umschmelzung. Man wird nämlich merken, daß man in einer verhältnismäßig leichten Weise zwischen dem ersten Fassen und der ersten Umschmelzung das Urteil wiederum in das Gedächtnis heraufbringen konnte. Zwischen der ersten Umschmelzung und der zweiten Umschmelzung hat man die größte Mühe, das Urteil wieder in Erinnerung zu bringen, denn es geht in tiefe, tiefe Seelenuntergründe hinunter, in Seelenuntergründe, in die ein zunächst an der Außenwelt leicht geschürztes Urteil gar nicht hinuntergeht. Ein so umgeschmolzenes Urteil geht in tiefe Seelenuntergründe hinunter, und da lernt man erst kennen, wenn man dann ein solches Urteil zwischen der ersten Umschmelzung heraufbringen will in die Seele, wie es oft eines Ringens bedarf, um ein solches Urteil ins Gedächtnis zu rufen. Unter dem Urteile meine ich jetzt die Anschauung der ganzen Tatsache, wenn es sich auf eine geisteswissenschaftliche Tatsache bezieht. Und dann, wenn man das Urteil in der dritten Gestalt bekommt, dann weiß man, dieses Urteil ist bei der Sache oder bei dem Vorgang gewesen, auf den es sich bezieht oder auf die es sich bezieht. Das Urteil zwischen dem ersten Fassen und der ersten Umschmelzung ist noch bei einem selbst geblieben, aber zwischen dem ersten und zweiten Umschmelzen ist das Urteil untergetaucht in die objektiv geistige Tatsache oder die objektiv geistige Wesenheit, und man merkt: die Sache selber gibt einem mit dieser dritten Gestalt das Urteil, das eben eine Anschauung ist, zurück. Und jetzt erst fühlt man sich eigentlich gegenüber den geisteswissenschaftlichen Tatsachen berufen, Mitteilung von der Anschauung beziehungsweise dem Urteile zu machen. Mitteilung macht man erst dann, wenn man diese zweifache Umschmelzung vollzogen hat und dadurch die Gewißheit erhalten hat, daß dasjenige, was man erst angeschaut hat in der ersten Fassung, durch die Seele selber den Weg genommen hat zu den Tatsachen, zu den Dingen hin und von diesen wiederum zurückgekommen ist. Ja, ein Urteil, das abgegeben wird in gültiger Weise auf geisteswissenschaftlichem Gebiete, ein solches Urteil hat man erst geschickt zu den Tatsachen oder Wesenheiten, über die es sprechen will.

Sehen Sie, dem, was ich jetzt gesagt habe, wird man nicht fernestehen, wenn man über wesentliche und bedeutungsvolle geisteswissenschaftliche Tatsachen die Darstellungen richtig auffaßt. Wenn man freilich Zyklen so liest, wie man moderne Romane liest, dann wird man nicht aus der Fassung selber erkennen, daß das Wesentliche, der eigentliche Beweis in dieser zweimaligen Umschmelzung des Urteils liegt. Und man wird dann sagen, das sei eine Behauptung, das sei kein Beweis. Ja, ein anderer Beweis als das Erleben, aber das gewissenhafte Erleben nach zweimaliger Umschmelzung des Urteils, ein anderer Beweis kann für Geistiges nicht aufgezeigt werden. Denn das Beweisen des Geistigen besteht in einem Erleben. Das Begreifen nicht. Das Begreifen ist dem gesunden Menschenverstände nach einer hinlänglichen Darstellung überall zugänglich. Aber diese hinlängliche Darstellung muß die Möglichkeit geben, aus der Fassung der Sache eben dem gesunden Menschenverstände alle Anhaltspunkte zu liefern, damit er aus dieser Art der Darstellung sich überzeugen kann, daß durch das «Wie» des gegebenen Urteils seine Wahrheit verbürgt ist.

Es macht immer einen höchst eigentümlichen Eindruck, wenn Leute kommen und sagen: Geisteswissenschaftliche Wahrheiten sollen in derselben Weise bewiesen werden, wie etwa Behauptungen über äußerlich sinnliche Tatsachen. Menschen, die dies fordern, kennen eben noch gar nicht den Unterschied zwischen dem, was eine Anschauung auf dem geistigen Gebiet ist, und demjenigen, was eine Anschauung auf dem Sinnes- oder gewöhnlichen historischen Gebiete ist. Derjenige, welcher Anthroposophie kennenlernt, wird bemerken, wie die einzelne Wahrheit, die vertreten wird, sich in den Zusammenhang der ganzen Anthroposophie hineinstellt. Und er wird einfach in demjenigen, das er im Zusammenhang kennengelernt hat, eine Bekräftigung einer neuen Wahrheit finden, die er hört. Und wiederum: die neue Wahrheit wird zurückwirken auf dasjenige, was er schon gehört hat. Und so ist mit Anthroposophie bekannt werden ein fortwährendes Wachsen in der Überzeugung von der Wahrheit der Anthroposophie. Von einer mathematischen Wahrheit kann man im Augenblick überzeugt sein, aber sie hat deshalb auch kein Leben. Das Anthroposophische ist Leben, daher ist auch die Überzeugung nicht in einem Augenblick abgeschlossen, das heißt, sie lebt, sie vergrößert sich fortwährend. Ich möchte sagen, die anthroposophische Überzeugung ist zunächst ein Baby, wo man noch ganz unsicher ist, wo man fast nur einen Glauben hat oder nur einen Glauben hat; dann wächst sich diese Überzeugung, indem man immer mehr und mehr kennenlernt, allmählich auch immer sicherer und sicherer aus. Dieses Auswachsen der anthroposophischen Überzeugung ist eben ein Zeuge von ihrer inneren Lebendigkeit." GA 257, S. 35ff

Siehe auch

Literatur

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Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelanchweise

  1. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, Werke - Hamburger Ausgabe Bd. 12, 9. Aufl. München: dtv, 1981, S. 408, ISBN 3423590386