Phillips-Kurve und Ossip K. Flechtheim: Unterschied zwischen den Seiten

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Die '''Phillips-Kurve''', oder auch '''Phillipskurve''', ist eine Graphik, die den Zusammenhang zwischen [[Arbeitsentgelt|Lohnänderungen]] bzw. [[Preis (Wirtschaft)|Preisniveauänderungen]] auf der einen und der [[Arbeitslosenstatistik#Arbeitslosenquote|Arbeitslosenquote]] auf der anderen Seite beschreibt.<ref name="ReferenceA">Olivier Blanchard und Gerhard Illing: ''Makroökonomie''. 3. Auflage, München 2004</ref> Die Phillips-Kurve wurde 1958 vom englischen Statistiker und Ökonomen [[Alban W. Phillips|Alban William Housego Phillips]] in der Zeitschrift ''[[Economica]]'' publiziert.<ref>Phillips: ''The Relation Between Unemployment and the Rate of Change of Money Wage Rates in the United Kingdom, 1861-1957''</ref> Sie ist seitdem mehrfach modifiziert worden, etwa von [[Paul A. Samuelson]] und [[Robert Merton Solow]] 1960 zur sogenannten erweiterten Phillips-Kurve. Diese stellt einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und der ''Veränderung'' der Inflationsrate her.  In der Literatur gibt es jedoch weitere Definitionen der Phillips-Kurven.<ref>Peters: ''Wirtschaftspolitik''. S. 90; Bernhard Felderer und Stefan Homburg: ''Makroökonomik und neue Makroökonomik''. S. 265; Majer: ''Makroökonomik''. S. 377</ref>
'''Ossip Kurt Flechtheim''' (* [[5. März]] [[1909]] in Nikolajew, Russisches Kaiserreich; † [[4. März]] [[1998]] in [[Berlin]]) war ein [[Deutschland|deutscher]] Hochschullehrer und [[Autor]]. Der [[Jurist]] und [[Politikwissenschaft]]ler war einer der Begründer der [[Wikipedia:Futurologe|Futurologie]] in Deutschland.


== Geschichte ==
== Leben ==
=== Ältere Beiträge ===
Bereits 1926 hatte [[Irving Fisher]] in einem Aufsatz auf den Zusammenhang zwischen Lohnänderungen und Arbeitslosenquoten für die USA hingewiesen.<ref>Fisher, Irving. 1926. A Statistical Relation between Unemployment and Price Changes.International Labor Review 13 (6): 785–792. Reprinted as “Lost and Found: I Discovered the Phillips Curve.” 1973. Journal of Political Economy 81 (2): 496–502.</ref> Insgesamt lassen sich bei weiteren Autoren Darstellungen des Zusammenhangs von Lohnsteigerungsraten und Arbeitslosenquote vor Phillips nachweisen: [[John Law]] (1671–1729), [[David Hume]] (1711–1776)<ref>Hume, David. “Of Money” (1752). Reprinted in his Writings on Economics. Edited by Eugene Rotwein. Madison : University of Wisconsin Press, 1955.</ref>, [[Henry Thornton]] (1760–1815), [[Thomas Attwood (Volkswirt)|Thomas Attwood]] (1783–1856), [[John Stuart Mill]] (1806–1873), [[Jan Tinbergen]], [[Lawrence Klein]] und [[Arthur Goldberger]], A. J. Brown und Paul Sultan.<ref>THE EARLY HISTORY OF THE PHILLIPS CURVE by Thomas M. Humphrey, ECONOMIC REVIEW, SEPTEMBER/OCTOBER 1985</ref>


[[Datei:Phillips curve.jpg|mini|Rate of Change of Wages against Unemployment, United Kingdom 1913–1948 from Phillips (1958)]]
Flechtheim war Sohn des Buchhändlers Hermann Flechtheim (1880–1960)<ref>[http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt99/9903deua.htm Artikel von Eberhard Fromm bei Luisenstädtischen Bildungsverein Berlin]</ref> aus der Brakeler Unternehmerfamilie [[Flechtheim (Familie)|Flechtheim]] und seiner Frau Olga, geb. Farber (1884–1964).<ref>Mario Kessler: ''Between History and Futurology. Ossip K. Flechtheim.'' In: Axel Fair-Schulz, Mario Kessler (Hrsg.): ''German Scholars in Exile. New Studies in Intellectual History.'' Lexington Books, Lanham MD u. a. 2011, ISBN 978-0-7391-5023-8, S. 173–211, hier S. 174.</ref> Die Familie zog 1910 wieder ins westfälische [[Münster]], die Heimat des Vaters, der als Geschäftsführer des Getreidegroßhandelsunternehmens [[M. Flechtheim & Comp.]] tätig war, und später nach [[Düsseldorf]]. Beide Eltern waren Mitglieder der [[Juden in Düsseldorf|jüdischen Gemeinde]]. Ossip Flechtheim war gleichwohl nicht religiös interessiert. Als konfessionsloser [[Humanist]] wurde er nach dem [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] in [[West-Berlin]] Mitglied im Deutschen [[Freidenker]]-Verband e.V. (später [[Humanistischer Verband Deutschlands]]).


=== Ursprüngliche Phillips-Kurve 1958 ===
Nach dem Abitur an der Hindenburgschule (heute [[Humboldt-Gymnasium Düsseldorf]]), das er im Jahr 1927 ablegte, zog es ihn in die [[Kommunistische Partei Deutschlands|KPD]]. Aufgrund der ideologischen Enge dieser Partei trat er 1931 nach fünf Jahren und einer [[Moskau]]-Reise wieder aus. Flechtheim studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten in [[Albert-Ludwigs-Universität Freiburg|Freiburg im Breisgau]], [[Sorbonne|Paris]], [[Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg|Heidelberg]], [[Humboldt-Universität zu Berlin#Friedrich-Wilhelms-Universität|Berlin]] und schließlich [[Universität zu Köln|Köln]]. Von 1931 bis 1933 absolvierte er sein juristisches Referendariat beim [[Oberlandesgericht Düsseldorf]]. Er konnte noch im Jahr 1934 in Köln bei [[Carl Schmitt]] mit der Arbeit ''[[Hegel]]s Strafrechttheorie'' zum Dr. jur. promovieren. Die notwendige Buchausgabe konnte nur noch im Ausland (Rohrer-Verlag, [[Brünn]] 1936) erscheinen.
Die ''ursprüngliche Phillips-Kurve'' von 1958<ref>PHILLIPS (1958), The Relation between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957; Economica, Vol. 25, S. 283–299</ref> bildete lediglich eine historisch-empirische [[Korrelation]] zwischen durchschnittlichen Nominallohnsteigerungen und der [[Arbeitslosenquote]] graphisch ab. Die Daten stammten aus dem Zeitraum von 1861 bis 1957 in Großbritannien.  


Die Kurve diente zur Veranschaulichung der folgenden zweistelligen inversen [[Relation]]: Je höher die Arbeitslosigkeit war, desto niedriger waren die Löhne (und logisch impliziert: auch umgekehrt).
=== Verfolgung und Emigration ===


Phillips interpretierte die Korrelation als stabil, weil gesetzmäßig, indem er die Hypothese einführte, dass Arbeitnehmer bei einem hohen Beschäftigungsstand eine „höhere Verhandlungsmacht“ haben und dadurch höhere Löhne durchsetzen können.  
Nach der [[Machtübernahme]] wurde er 1933 wegen seiner Mitgliedschaft in der [[Widerstand gegen den Nationalsozialismus|Widerstand]]sgruppe ''[[Neu Beginnen]]'' und seiner jüdischen Abstammung aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. 1935 war er insgesamt 22 Tage inhaftiert, nur knapp konnte er den [[Nationalsozialismus|Nationalsozialisten]] entkommen. Er ging über [[Belgien]] in die [[Schweiz]], wo er dank eines Stipendiums seine wissenschaftlichen Studien am [[Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien|Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales]], das der [[Universität Genf]] angeschlossen ist, fortsetzen konnte und diese 1939 mit dem Diplom abschloss. Weil Flechtheim während dieser Zeit [[Staatenlos|ausgebürgert]] worden war, entzog ihm die Universität zu Köln auch den Dr.-Grad (protokolliert für den 14. April 1938).


Diese Hypothese folgt aus dem modellhaft angenommenen Profitprinzip des Arbeiters, gemäß dem er seinen Lohn maximieren will, und dem Minimaxprinzip des Unternehmers, demgemäß er in Konkurrenz zu anderen Wettbewerbern die Lohnkosten senken muss.  
1939 [[Emigration|emigrierte]] er in die [[Vereinigte Staaten|USA]] und arbeitete dort zunächst an [[Max Horkheimer|Horkheimers]] [[Institut für Sozialforschung]] der [[Columbia University]] in [[New York City]]. Dort lernte er u.&nbsp;a. [[Erich Fromm]], [[Herbert Marcuse]] und [[Isaac Asimov]] kennen. Später war er als Dozent und schließlich als Professor an verschiedenen Hochschulen tätig. Im Dezember 1942 heiratete er Lili Therese Faktor, die Tochter des ehemaligen Chefredakteurs des ''[[Berliner Börsen-Courier|Berliner Börsencuriers]]''. Ihre Tochter Marion Ruth wurde am 26. September 1946 geboren.<ref>Vgl.: Mario Keßler: ''Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909–1998).'' 2007, S. 74.</ref>


Die Nachfrage nach Arbeitskräften bei fallendem Angebot (weniger arbeitsuchende Arbeitslose) führt zur Lohnsteigerung, weil die Arbeiter wissen, dass der Arbeitgeber für sie keinen billigeren Ersatz finden kann bzw. der Arbeitgeber zur Anwerbung einer zusätzlichen Arbeitskraft von einer anderen Firma, zur Aktivierung der stillen Reserve oder zur Motivation eines Arbeitslosen einen höheren Preis für die Arbeit bezahlen muss als den vorher ausreichenden.  
Bis 1943 lehrte er an der [[Georgia State University|Universität von Atlanta]]. Als viele seiner schwarzen Studenten zum Kriegsdienst eingezogen wurden, wechselte er an das Colby College und als Assistant Professor an das [[Bates College]] ([[Maine]]).


Der beschriebene Zusammenhang wurde ursprünglich ausdrücklich nicht so interpretiert, dass ausgeprägte Lohnsteigerungen zu höherer Beschäftigung führen. Der kausale Faktor wurde allein in der Größe der Arbeitsreserve und in der daraus folgenden Verhandlungsposition der Arbeiter gesehen. Eine beschäftigungspolitische Einflussnahme auf die Lohnhöhe zur Steigerung der Zahl der Beschäftigten und zur Reduktion der Arbeitslosigkeit lag außerhalb des forschungsleitenden Interesses. Phillips legte seinen Untersuchungen noch kein makroökonomisches Modell zugrunde, das solche beschäftigungspolitischen und andere gesamtwirtschaftliche Aspekte einbezog.
Im Verlauf des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] trat er in die US-amerikanische Armee ein. 1946 kehrte er als [[Oberstleutnant|Lieutenant colonel]] für einige Monate als Sektions- und Bürochef<ref>beim „Office of the US Chief of Counsel for War Crimes (OCCWC)“ in der „Dokumentenzentrale Berlin“, siehe ''Das Urteil im Wilhelmstrassen-Prozess. Der amtliche Wortlaut der Entscheidung im Fall Nr. 11 des Nürnberger Militärtribunals gegen von Weizsäcker und andere, mit abweichender Urteilsbegründung, Berichtigungsbeschlüssen, den grundlegenden Gesetzesbestimmungen, einem Verzeichnis der Gerichtspersonen und Zeugen.'' Mit Einführungen von [[Robert M. W. Kempner]] und [[Carl Haensel]]. Herausgegeben unter Mitwirkung von C. H. Tuerck. Bürger Verlag, Schwäbisch Gmünd 1950, S. XIX.</ref> beim [[Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher|Amt des US-Hauptanklägers für Kriegsverbrechen]] in Berlin nach Deutschland zurück. Von 1947 bis 1951 führte er seinen Beruf als Hochschullehrer in den Vereinigten Staaten fort. 1948 erschien sein Werk über ''Die KPD in der Weimarer Republik'', mit dem er 1947 an der Universität Heidelberg zum Dr. phil. promoviert wurde. Auch beantragte er die Erneuerung seines Kölner juristischen Dr.-Diploms, dem die Fakultät laut Protokoll vom 10. April 1947 stattgab.<ref> Alle Ergänzungen und Korrekturen (31. Dezember 2012) nach: Elke Kochann, Kerstin Theis: ''Dr.jur 'Ossip K. Flechtheim.'' In: [[Margit Szöllösi-Janze]], Andreas Freitäger: ''„Doktorgrad entzogen!“ Aberkennungen akademischer Titel an der Universität Köln 1933 bis 1945.'' Kirsch, Nümbrecht 2005, ISBN 3-933586-42-9, S. 78–83.</ref>


=== Modifizierte Phillips-Kurve 1960 ===
=== Tätigkeit als Hochschullehrer in Berlin ===
Dies geschah erst durch Paul A. Samuelson und Robert M. Solow<ref>SAMUELSON und SOLOW (1960), Analytical Aspects of Anti-Inflation Policy; American Economic Review, Papers and Proceedings, Vol. 50, S. 177–194</ref> mit der Entwicklung der ''modifizierten Phillips-Kurve''. Die Lohnerhöhungsquote aus dem ursprünglichen Modell von Phillips wurde durch die Inflationsrate ersetzt und eine feste gleichgerichtete Beziehung zwischen Nominallohn- und Preisniveauänderungen unterstellt.


Dieser Ersetzung der Lohnsteigerung durch die Geldentwertung lag die Theorie zugrunde, dass Unternehmer die zu zahlenden höheren Löhne durch Preiserhöhung ihrer Produkte an die Kunden weitergeben (Lohn-Preis-Spirale), sodass ein höheres Lohnniveau mittelfristig zu einem höheren Preisniveau führt, soweit nicht Produktivitätssteigerungen die Produktion verbilligen können. Das Geld verliert also durch die Preissteigerung an Wert (Inflation), was wieder zu neuen Forderungen nach Lohnerhöhungen führt.  
Von 1952 bis 1959 war er ordentlicher Professor an der [[Deutsche Hochschule für Politik|Deutschen Hochschule für Politik]]. Durch die Integration der Einrichtung in die [[Freie Universität Berlin]] 1959 erhielt er eine C4-Professur für [[Politikwissenschaft]] am dortigen [[Otto-Suhr-Institut]], welche er bis zu seiner [[Emeritierung]] im Jahre 1974 ausfüllte.


=== Beschäftigungspolitische Interpretation der modifizierten Phillips-Kurve ===
=== Prägung der Futurologie ===
Diese Schlussfolgerung widerspricht der Interpretation der ursprünglichen Phillips-Kurve nicht; allerdings impliziert die negative inverse Korrelation keine Kausalität und Phillips lehnte eine doppelte Kausalität in seiner Interpretation auch ab: Höhere Löhne/Inflation wurden nicht als Ursache oder als Instrument für höhere Nachfrage nach Beschäftigten, somit einer politisch erwünschten Abnahme der Arbeitslosenquote, verstanden, sondern lediglich als Ergebnis einer niedrigen Arbeitslosenquote interpretiert. Das modifizierte Modell wurde jedoch als wirtschaftspolitische "Speisekarte" interpretiert, die den Politikern den ''trade-off'', also die Wechselbeziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit nach ihren Wünschen auszunutzen.


Darin zeigte sich die politische Brisanz des neu interpretierten Modells. So sagte etwa [[Helmut Schmidt]]: „Fünf Prozent Inflation sind leichter zu ertragen als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“.<ref>„Mir scheint, daß das Deutsche Volk zugespitzt – 5% Preisanstieg eher vertragen kann, als 5% Arbeitslosigkeit“, Süddeutsche Zeitung, 28. Juli 1972, S. 8, auch zitiert als: „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“, zugeschrieben von [http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,442425,00.html www.spiegel.de] (Stand 04/07)</ref>
Flechtheim prägte den Begriff der „[[Futurologie]]“ als systematische und kritische Behandlung von Zukunftsfragen bereits 1943 in den USA. 1968 erschien in der ''[[Neue Rundschau|Neuen Rundschau]]'' ein Aufsatz mit dem später wiederholt verbreiteten Titel ''Futurologie – Möglichkeiten und Grenzen'', in dem er Vordenker wie Karl Marx und Zeitgenossen wie [[Leszek Kołakowski]], [[Robert Jungk]] und [[Herbert Marcuse]] diskutierte.<ref>Ossip K. Flechtheim: ''Futurologie Möglichkeiten und Grenzen.'' In: ''Neue Rundschau'', Heft 2/1968, S.&nbsp;294–315.</ref> 1970 veröffentlichte er schließlich sein Werk ''Futurologie: Der Kampf um die Zukunft''. Darin kritisierte er sowohl die Zukunftsforschung im Westen als auch die Prognostik in den [[Warschauer Pakt|realsozialistischen]] Staaten als technokratisch und setzte dagegen ein Modell der „Befreiung der Zukunft“. Die Repräsentation von Zukunft sei in der staatlichen Planung am Objektivitätsideal der Naturwissenschaften orientiert und setze dementsprechend exklusiv auf eben jene Expertise. In der kritischen Gegenbewegung sei dagegen die „Entfaltung, Internationalisierung und Demokratisierung der Futurologie“ die Voraussetzung für eine Demokratisierung der Gesellschaft.


Auf dieser Interpretation der modifizierten Phillips-Kurve basiert neben der wirtschaftswissenschaftlichen Anwendung auch das politikwissenschaftliche Modell der [[Parteiendifferenzhypothese]], das davon ausgeht, dass "links" orientierte Parteien eher die Inflation als Bedingung der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen.
=== Politisches Engagement ===


=== Stagflation ===
Er war Mitgründer des linksliberalen [[Republikanischer Club|Republikanischen Clubs]] in Berlin, war zehn Jahre lang Mitglied der [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands|SPD]] (bis 1962) und ab 1981 der [[Bündnis 90/Die Grünen|Grünen]]. Er publizierte eine Vielzahl von Büchern und Zeitungsartikeln (u.&nbsp;a. in der ''[[Frankfurter Rundschau]]'' und in ''[[Die Zeit]])'', war Gründungsmitglied und Vizepräsident der [[Internationale Liga für Menschenrechte (Berlin)|Internationalen Liga für Menschenrechte]], Mitglied des [[P.E.N.|PEN-Club]]s, im Konzil der [[Friedensforscher]] und im Kuratorium der [[Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung|Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung]]. Aktiv unterstützte der [[Pazifismus|Pazifist]] O.K. Flechtheim die [[Internationale der Kriegsdienstgegner]]. <ref>[[Wolfram Beyer]]: ''Ossip K. Flechtheim – für eine andere Politik'', in: W. Beyer (Hrsg.): [[Internationale der Kriegsdienstgegner]]*innen – 1947–2017, Beiträge zur Geschichte. [[Verlag Edition AV]] Lich 2017, S. 79–88 Hier werden konkrete IDK-Aktivitäten von Flechtheim benannt.</ref> Am 9. August 1985 antwortete er in der ''[[Frankfurter Allgemeine Zeitung|Frankfurter Allgemeinen Zeitung]]'' auf die Frage, was er am meisten verabscheue: „die Unmenschlichkeit“ und den Krieg der Menschen gegeneinander.
In den 1970er und 1980er Jahren zeigte sich jedoch, dass der angenommene wechselseitige Wirkungszusammenhang von Arbeitslosigkeit und Inflation nicht der Wirklichkeit entsprach, weil die entsprechende Wirtschaftspolitik der Erhöhung der Geldmenge durch Zinssenkung zur Erzeugung einer Geldentwertung nicht zum Erfolg führte. [[Stagflation]]&nbsp;– das „zweiköpfige Monster“&nbsp;– in Form von kombinierter Inflation und hoher Arbeitslosigkeit machte sich breit.  


=== Kritik der beschäftigungspolitischen Interpretation ===
Er starb am Vorabend seines 89. Geburtstages in seiner Wahlheimat Berlin. Sein Grab befindet sich auf dem Berliner [[Friedhof Dahlem]] im Feld 2 neben denen seiner politischen Freunde Brigitte und [[Helmut Gollwitzer]] und [[Rudi Dutschke]].
Bereits in den späten 1960er Jahren griffen [[Milton Friedman]] und [[Edmund S. Phelps]] unabhängig voneinander die Fehlinterpretation der erweiterten Phillips-Kurve an: Ein kausaler Zusammenhang zwischen einer nominalen Größe wie Inflation und einer realen Variable wie Arbeitslosigkeit könne langfristig keinen Bestand haben, da langfristig von der [[Neutralität des Geldes]] ausgegangen werden müsse. Nur bei einer dauerhaften [[Geldwertillusion]], also der Vorstellung der Arbeiter, dass es keine Inflation gäbe, würde die Inflation die Lohnerhöhung langfristig wieder ausgleichen. Wenn die Arbeitnehmer aber die Inflation korrekt antizipieren, wovon in der Regel auszugehen ist, hat die Inflation keine realen Auswirkungen, weil die Arbeitnehmer die Preissteigerungsrate zu ihren Lohnerhöhungswünschen addieren. Diese Kritik wurde bis zur beginnenden Stagflationsphase kaum beachtet.


=== Erwartungsmodifizierte Phillips-Kurve ===
== Preise und Ehrungen ==  
Die Kritik führte nach ihrer Bestätigung durch die Wirtschaftsentwicklung zur „erwartungsmodifizierten Phillips-Kurve“. Diese bezieht die Inflationserwartung der Lohnempfänger mit ein.


== Keynesianische Phillips-Kurve ==
1979 lehnte er die Annahme des Großen [[Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland|Bundesverdienstkreuzes]] in einem Brief an Bundespräsident [[Walter Scheel]] mit der Begründung ab, dies hätten zu viele Nazis bekommen.<ref> Brief vom 19. Juni 1979 siehe Mario Kessler: ''Between History and Futurology. Ossip K. Flechtheim.'' In: Axel Fair-Schulz, Mario Kessler (Hrsg.): ''German Scholars in Exile. New Studies in Intellectual History.'' Lexington Books, Lanham MD u. a. 2011, ISBN 978-0-7391-5023-8, S. 173–211, hier S. 194 + Anmerkung 174 [http://www.books.google.de/books?id=h5hfYijlxL4C&pg=PA174 Google Books].</ref> 1981 übernahm Flechtheim den Ehrenvorsitz des Berliner [[Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung|Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung]]. Dieses unabhängige und gemeinnützige Forschungsinstitut war 1981 gegründet worden, um die wissenschaftliche [[Zukunftsforschung]] in Deutschland zu etablieren.
[[Datei:Keynesianische Phillipskurve.PNG|mini|Keynesianische Phillips-Kurve]]
Die keynesianische Phillips-Kurve knüpft an die modifizierte, nämlich auf den Zusammenhang zwischen Inflationsrate (statt der Lohnsteigerung) und der Arbeitslosenquote bezogene Phillips-Kurve an. Sie übernimmt die Begründung dafür, dass tendenziell niedrigere Arbeitslosenquoten mit höheren Inflationsraten verbunden sind, im Grundsatz von Phillips, ergänzt sie aber um die Überlegung, dass bei einer Zunahme des Beschäftigungsstands nicht nur die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer steigt, sondern auch die Position der Anbieter auf den Gütermärkten gestärkt wird.


Entscheidend für den Verlauf der Phillips-Kurve ist die Möglichkeit, die die Arbeitnehmer auf den Arbeitsmärkten und die Unternehmen auf den Gütermärkten haben, in einem inflationären Prozess die für sie negativen Konsequenzen der Inflation auf die jeweils andere Gruppe abzuwälzen. Daraus folgt: Bei einem steigenden Preisniveau versuchen die Arbeitnehmer, in den Lohnverhandlungen einen Inflationsausgleich durchzusetzen, während die Unternehmen ihrerseits bestrebt sind, die aus Lohnsteigerungen oberhalb der Zunahme der Arbeitsproduktivität resultierende Zunahme der Lohnstückkosten mittels entsprechend höherer Preise an die Nachfrager, also die Arbeitnehmerhaushalte weiterzureichen. Hieraus ergibt sich eine wechselseitig angetriebene Lohn-Preis-Lohn-Spirale, also eine schleichende Inflation. Da diese Abwälzungsmöglichkeiten bei beiden Gruppen mit sinkender Arbeitslosenquote zunehmen, ergibt sich eine fallende Phillips-Kurve.
Im Mai 1986 wurde er von der [[Humanistische Union|Humanistischen Union]] mit dem [[Fritz-Bauer-Preis]] ausgezeichnet. 1989 wurde er von der Freien Universität Berlin mit einer Ehrendoktorwürde und vom Berliner Senat mit der [[Ernst-Reuter-Medaille]] geehrt.


Je mehr sich die Wirtschaft der Vollbeschäftigung annähert, desto höher ist die Inflationsrate. Die Phillips-Kurve wird erst dann senkrecht, wenn die Positionen der Anbieter auf den Arbeitsmärkten (das sind die Arbeitnehmer und Gewerkschaften) und der Anbieter auf den Gütermärkten so stark ist, dass beide die auf sie zugekommene Belastung in voller Höhe weiterwälzen können.
Flechtheim war langjähriges Mitglied des [[Humanistischer Verband Deutschlands|Humanistischen Verbandes Deutschlands]] (HVD). Der HVD hat im Jahr 2003 zu seinen Ehren den Ossip K. Flechtheim-Preis ins Leben gerufen. Der Preis wird alle zwei Jahre für herausragendes Engagement zur Förderung von Aufklärung, Toleranz und Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft vergeben und ist mit 2.500 Euro dotiert. Der 100. Geburtstag von O. K. Flechtheim wurde vom Humanistischen Verband Deutschlands<ref>Siegfried Heimann (Hrsg.): ''Ossip K. Flechtheim. 100 Jahre.'' Humanistischer Verband Deutschlands – Landesverband Berlin, Berlin 2009, ISBN 978-3-924041-29-8.</ref> und der Zeitschrift ''[[Graswurzelrevolution]]'' gewürdigt.<ref>[[Wolfram Beyer]]: ''100 Jahre Ossip K. Flechtheim, Erinnerungen an einen freiheitlichen Sozialisten.'' In: ''[[Graswurzelrevolution]].'' Nr. 341, September 2009, S. 17.</ref>
Der zitierte Satz des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt basiert dagegen auf der bei nur teilweiser Überwälzung fallenden Phillips-Kurve. Eine derartige wirtschaftspolitische Verwendung setzt allerdings voraus, dass die Phillips-Kurve sich im Zeitablauf nicht verschiebt. Dies kann geschehen, wenn die Ankündigung der Wirtschaftspolitik, eine höhere Beschäftigung durch expansive Geld- und Fiskalpolitik herbeiführen zu wollen, die Unternehmen und Gewerkschaften ermutigt, verstärkt Lohn- und Preissteigerungen durchzusetzen, weil sie meinen, die angekündigte expansive Geld- und Fiskalpolitik garantiere ihnen ihre Arbeitsplätze und ihren Güterabsatz.


Anstelle der tatsächlichen Inflationsrate kann man auch die erwartete Inflation in der Argumentation verwenden. Man unterstellt dann, dass die Lohn- und Preissetzer versuchen, sich an dieser zu orientieren. Dadurch allein wird die Phillips-Kurve nicht senkrecht – es muss dafür stets gelten, dass den beteiligten Gruppen eine Weiterwälzung in voller Höhe möglich ist.
== Schriften ==


Blanchard/Illing (2004, S. 244) machen dies deutlich, indem sie nicht nur die Variante aufführen, bei der die tatsächliche Inflationsrate stets der erwarteten entspricht, sondern auch die Variante, bei der die tatsächliche Inflation nicht das Niveau der erwarteten erreicht, weil die Preis- und Lohnsetzer keine volle Überwälzung erreichen.
=== Bücher ===


Bei der anschließenden Ableitung der Arbeitslosenquote, bei der die Inflationsrate konstant bleibt, verwenden sie stillschweigend nur die erstgenannte Varianten (ebenda, S. 246). Andere Lehrbücher verwenden gleich diese Varianten und gelangen so zur monetaristischen, um Erwartungen erweiterten Phillips-Kurve.
* ''Die Kommunistische Partei Deutschlands in der Weimarer Republik.'' Bollwerk-Verlag Karl Drott, Offenbach 1948.
* ''Eine Welt oder keine? Beiträge zur Politik, Politologie und Philosophie.'' (Sammlung Res novae. Bd. 32), [[Europäische Verlagsanstalt]], Frankfurt am Main 1964.
* ''Weltkommunismus im Wandel.'' Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1965.
* ''Bolschewismus 1917–1967. Von der Weltrevolution zum Sowjetimperium.'' Europa-Verlag, Wien 1967.
* ''[[Zukunftsforschung|Futurologie]]. Der Kampf um die Zukunft.'' Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1970.
* ''Zeitgeschichte und Zukunftspolitik.'' [[Hoffmann und Campe]], Hamburg 1974, ISBN 3-455091083.
* mit [[Wolfgang Rudzio|Rudzio]], [[Fritz Vilmar|Vilmar]], [[Manfred Wilke|Wilke]]: ''Der Marsch der DKP durch die Institutionen. Sowjetmarxistische Einflußstrategien und Ideologien.'' Fischer-TB, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-596242231.
* ''[[Karl Liebknecht]] zur Einführung.'' (SOAK-Einführungen, 19). Junius, Hamburg 1985, ISBN 3-885068192.
* ''Ist die Zukunft noch zu retten? Die Megakrise unserer Zeit und ihre sieben Herausforderungen.'' Campe 1987. Heyne 1989, ISBN 3-453037502.
** Mit dem Untertitel: ''Weltföderation – Der dritte Weg ins 21. Jahrhundert.'' Herausgegeben von [[Stephan_Mögle-Stadel|Stephan Stadel]], erweitert und illustriert, [[Peter-Lang-Verlagsgruppe|Peter Lang]] 1995, ISBN 3-631478658.
* mit Egbert Joos: ''Ausschau halten nach einer besseren Welt. Biographie, Interview, Artikel.'' Dietz, Berlin 1991, ISBN 3-320016229.


Aus keynesianischer Sicht ist diese stillschweigende Vereinfachung zu kritisieren.
=== Aufsätze ===
 
* ''Moskau 1931 – Moskau 1964.'' In: H. Bethke, W. Jaspert (Hrsg.): ''Moskau, Leningrad heute: Berichte und Impressionen von einer Reise.'' Stimme-Verlag, Frankfurt 1965, S. 34.
Bei der empirischen Überprüfung der Phillips-Kurve kann man entweder die tatsächliche Inflationsrate verwenden oder – um die Wirkung von besonders volatilen Preisen auszuschließen, deren Schwankungen nichts mit der Arbeitslosenquote zu tun haben – die  Kerninflationsrate – bei der die Preise der Nahrungsmittel und der Energieträger nicht berücksichtigt werden.
* Einleitung zu: ''Karl Liebknecht: Gedanke und Tat. Schriften, Reden, Briefe zur Theorie und Praxis der Politik.'' Hrsg. von O. K. Flechtheim. Ullstein, 1976, ISBN 3548032826.
 
* ''Von Hegel zu Kelsen. Rechtstheoretische Aufsätze.'' Duncker & Humblot, Berlin 1963 (Aufsatzsammlung).
== Monetaristische Phillips-Kurve ==
 
[[Datei:Monetaristische Phillipskurve.PNG|mini|Monetaristische Phillips-Kurve]]
 
Die [[Monetarismus|Monetaristen]] um Milton Friedman, [[Karl Brunner (Ökonom)|Karl Brunner]] oder [[Allan Meltzer]] kritisieren sowohl die modifizierte als auch die keynesianische Phillips-Kurve als unzureichend. Sie argumentierten, [[Geldpolitik|Geld-]] und [[Fiskalpolitik]] seien lediglich in der Lage, die Inflation zu beeinflussen – nicht jedoch den Beschäftigungsgrad. Der Grund dafür ist, dass Geldpolitik nach monetaristischer Sicht langfristig (eigentlich ökonomisch richtig: mittelfristig) keine realen Effekte hat, sondern lediglich Inflation bewirkt.
 
Von keynesianischer Seite hat die monetaristische Phillips-Kurve viel Kritik erfahren – bedeutet die Darstellung der Monetaristen doch, dass vor allem die Geldpolitik nicht zur [[Anreiz|Stimulierung]] des [[Wirtschaftswachstum]]s genutzt werden könne, sondern sich auf die Erhaltung der [[Preisniveaustabilität|Preisstabilität]] konzentrieren solle, sowieso nichts Erstrebenswertes durch eine Geldpolitik erreicht werden könne, die nicht strikte Preisstabilität verfolge. Die Kritiker sehen darin
 
* ein verschenktes wirtschaftspolitisches Potenzial beziehungsweise
* eine [[Wirtschaftspolitik|wirtschaftspolitische]] Vorentscheidung und daher
* Grund für den Vorwurf, dass die Leugnung, dass [[Geldpolitik]] einen Einfluss auf Arbeitslosigkeit, [[Arbeitsentgelt|Lohnniveau]] und Anteil von [[Einkommen|Arbeitseinkommen]] am [[Volkseinkommen]] habe, aus den Motiven heraus geführt werde, dass gar kein wirkliches Interesse an der Erhöhung des Lohnniveaus, des Anteils des Arbeitseinkommens am Volkseinkommen, des Volkseinkommens selbst und der Senkung der Arbeitslosigkeit bestehe.
 
Allerdings beinhaltet die Botschaft der Monetaristen auch einen optimistischen Inhalt: Eine auf [[Disinflation]] ausgerichtete Wirtschaftspolitik müsse nicht mit der Problematik starker Beschäftigungseinbrüche leben.
 
Das monetaristische Standardmodell der Phillips-Kurve sieht formal wie folgt aus:
 
: <math>\Delta\omega(t)  = a \cdot \left( U_\mathrm{n} - U_\mathrm{tat} \right) + b \cdot \pi_\mathrm{e}(t) \quad \text{mit} \quad a > 0, b > 0</math>
 
: <math>\pi(t)  = \omega(t)</math>
 
: <math>\Delta\pi_e(t)  = \tau \cdot \left( \pi(t_0)  - \pi_e (t_0) \right)\quad \text{mit} \quad 0 \le \tau < 1</math>
 
Hierbei sind
 
: <math>\Delta\omega(t)</math> die ''Lohnzuwachsrate'' mit <math>\Delta\omega(t) = \frac{\Delta\omega}{\Delta t}</math>
: <math>U_\mathrm{n}</math> die ''natürliche Arbeitslosenrate''
: <math>U_\mathrm{tat}</math> die ''tatsächliche Arbeitslosenrate''
: <math>\Delta \pi(t)</math> die ''Inflationsrate'' mit <math>\Delta\pi = \frac{\Delta\pi(t)}{\Delta t}</math>
: <math>\pi_\mathrm{e}(t)</math> die ''erwartete Inflationsrate'', jeweils für die Periode <math>\Delta t = t - t_0</math>.
 
Wobei <math>\tau</math> die Arbeitslosenquote oder Arbeitslosenrate (neue Arbeitslose/Zeit): <math>\Delta\pi_\mathrm{e}(t) = \frac{\pi(t_0) - \pi_\mathrm{e} (t_0)}{\tau \cdot}</math> bezeichnet.
 
== Die erweiterte Phillips-Kurve ==
[[Datei:Bild zzz14.PNG|mini|Modifizierte Phillips-Kurve: Zu sehen, das Niveau der [[w:die Inflation nicht beschleunigende Arbeitslosenquote|die Inflation nicht beschleunigenden Arbeitslosenquote]] ({{enS}} ''Non Accelerating Inflation Rate of Unemployment'', kurz: ''NAIRU'')]]
 
Die ''erweiterte Phillips-Kurve'' (oder auch ''modifizierte Phillips-Kurve'') ergänzt die Betrachtungen der Phillips-Kurve zum Zusammenhang zwischen [[Inflation]] und [[Arbeitslosenstatistik|Arbeitslosenquote]]. Hierbei wird nun die Veränderung der Inflation mit der Arbeitslosenquote in Beziehung gesetzt.
 
Nachfolgende Erklärungen beziehen sich auf die Definition gemäß Blanchard/Illing.<ref>Olivier Blanchard und Gerhard Illing: ''Makroökonomie.'' 3. Auflage, München 2004.</ref> Grund dafür ist der bessere Gesamtüberblick über das Marktgeschehen bei der Inflationsbetrachtung.
 
=== Die um Erwartungen erweiterte Phillips-Kurve ===
 
Lohnsetzer müssen zur Festlegung der Nominallöhne für das nächste Jahr die Inflationsrate während des nächsten Jahres vorhersagen. Die folgende Formel zeigt, dass bei gegebenem erwartetem Preisniveau gleich dem des Vorjahres eine geringere Arbeitslosigkeit zu höheren Nominallöhnen führt.
 
<math>\pi_\mathrm{t} = \pi_\mathrm{t}^\mathrm{e} + (\mu + z) - \alpha \cdot u_\mathrm{t}</math>
 
mit
 
{|
|-
| <math>\pi_\mathrm{t}</math> || = Inflationsrate des betrachteten Jahres
|-
| <math>\pi_\mathrm{t}^\mathrm{e}</math> || = erwartete Inflationsrate
|-
| <math>\mu</math> || = Gewinnaufschlag-Faktor der Preise über die Löhne
|-
| <math>z</math> || = Faktoren, die die Lohnsetzung beeinflussen
|-
| <math>\alpha</math> || = Wirkung der Inflationsrate auf die Arbeitslosenquote bei gegebenen Inflationserwartungen
|-
| <math>u_\mathrm{t} </math> || = Arbeitslosenquote des betrachteten Jahres
|}
 
Infolge eines höheren Nominallohnes kommt es zu einem höheren Preisniveau. Somit führt also eine geringere Arbeitslosigkeit zu einem höheren Preisniveau gegenüber dem Preisniveau aus dem Vorjahr, also Inflation. Dies wird als [[Lohn-Preis-Spirale]] bezeichnet. Folglich führt eine niedrige Arbeitslosigkeit zu einem hohen Nominallohn. Daraufhin erhöhen die Unternehmen ihre Preise und das Preisniveau steigt. Auf Grund steigenden Preisniveaus wollen die Arbeitnehmer bei der nächsten Lohnsetzung höhere Nominallöhne. Daraus folgt eine konstante Lohn- und Preisinflation.
 
Wenn die Inflationsrate des betrachteten Jahres jedoch bei Null liegt, ist es logisch, auch für das zu prognostizierende Jahr eine Inflationsrate von Null zu erwarten.
 
In der heutigen Situation in Deutschland ist überwiegend eine positive Inflation zu beobachten, d.&nbsp;h. im Durchschnitt liegt die Inflationsrate bei 3,1 %. Im von Phillips, Samuelson und Solow eingeführten Modell lag die durchschnittliche Inflationsrate nahe bei Null.
 
=== Begründung der Erweiterung ===
 
[[Datei:Zusammenhang von Inflation und Arbeitslosigkeit 1959-1967.png|mini|Inflation und Arbeitslosigkeit, 1959–1967]]
 
In der nebenstehenden Abbildung wird die Beziehung von Inflationsrate und Arbeitslosenquote in den Jahren zwischen 1959 und 1967 graphisch dargestellt. In diesen Jahren stimmte die Prognose für die Phillips-Kurve mit den tatsächlichen Werten überein. In den Jahren mit einer hohen Inflationsrate herrschte eine niedrige Arbeitslosenquote. Wiederum lag in den Jahren mit einer hohen Arbeitslosenquote eine niedrige Inflationsrate vor.
Zu Beginn der 1970er ließ sich jedoch kein Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Inflationsrate erkennen.
 
Grund hierfür war die Veränderung der Erwartungsbildung der Lohnsetzer im Verlauf der 1960er Jahre aufgrund einer Veränderung der Inflationsentwicklung. Die Inflationsrate unterlag immer bestimmten Schwankungen; mal war sie positiv, mal negativ. Doch in den 1960er Jahren nahm die Inflationsrate konstant positive Werte an. Das heißt die Wahrscheinlichkeit, dass auf eine hohe Inflationsrate im nächsten Jahr eine höhere Inflationsrate folgte, wurde immer größer. Auf Grund dessen änderte sich die Erwartungshaltung der Lohnsetzer. Dies veränderte die Form der Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation.
 
Folgende Formel soll unter der Annahme, dass die Erwartungen wie folgt gebildet werden, den Zusammenhang verdeutlichen:
 
<math>\pi_\mathrm{t}^\mathrm{e} = \theta \cdot \pi_\mathrm{t-1}</math>
 
mit
 
{|
|-
| <math>\pi_\mathrm{t}^\mathrm{e}</math> || = erwartete Inflationsrate
|-
| <math>\theta</math> || = wie stark Inflationsrate bei der Bildung berücksichtigt wird
|-
| <math>\pi_{\mathrm{t}-1}</math> || = Inflationsrate des vorangegangenen Jahres
|}
 
Je größer <math>\theta</math>, desto mehr werden die Lohnsetzer ihre Inflationserwartungen erhöhen. So lange also die Inflation um den Wert 0 lag, konnte erwartet werden, dass das Preisniveau im aktuellen Jahr circa dem prognostizierten Jahr entspricht. Während der von Samuelson und Solow betrachteten Periode lag <math>\theta</math> folglich nahe 0.
 
Ab 1970 veränderten die Lohnsetzer also ihre Erwartungen aufgrund der Veränderungen der Inflationsrate. Sie nahmen fortan eine stetig steigende Inflationsrate in den Folgejahren an, woraufhin auch <math>\theta</math> anstieg.
 
Setzt man oben stehende Formel in die erste Formel ein, so erhält man:
 
: <math>\pi_\mathrm{t} = \overbrace{\theta \cdot \pi_{\mathrm{t}-1}}^{\pi_\mathrm{t}^\mathrm{e}} + (\mu+z) - \alpha \cdot u_\mathrm{t}\,</math>.
 
Nimmt man an, <math>\theta=0</math>, dann erhält man
 
: <math>\pi_\mathrm{t} = (\mu+z) - \alpha \cdot u_\mathrm{t}\,</math>.
 
Bei einem positiven <math>\theta</math>, ist die Inflationsrate ebenso von der Arbeitslosenquote, wie von der Inflationsrate des letzten Jahres abhängig
 
: <math>\pi_\mathrm{t} = \theta \cdot \pi_{\mathrm{t}-1} + (\mu+z) - \alpha \cdot u_t\,</math>.
 
Die Formel sieht folgendermaßen aus, bei einem <math>\theta=1</math>, nachdem die Inflationsrate der letzten Periode auf beiden Seiten subtrahiert wurde:
 
: <math>\pi_\mathrm{t} - \pi_{\mathrm{t}-1} = (\mu+z) - \alpha \cdot u_t\,</math>
 
Folglich verändert bei <math>\theta=1</math> die Arbeitslosenquote nicht die Inflationsrate, sondern die ''Veränderung der Inflationsrate''. Das heißt hohe Arbeitslosigkeit führt zu sinkender Inflation, niedrige Arbeitslosigkeit zu einem Anstieg der Inflation.
 
Dies erklärt die Vorkommnisse seit den 1970er Jahren. <math>\theta</math> stieg von 0 auf 1 und daraufhin bildete sich ein Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote und der Veränderung der Inflationsrate.
 
[[Datei:Diagramm, Veränderungen der Inflationsrate und der Arbeitslosenquote.png|mini|Veränderungen der Inflationsrate und Arbeitslosenquote in Deutschland]]
 
Das nebenstehende Diagramm stellt die Beziehung von Veränderungen der Inflationsrate und der Arbeitslosenquote für die Jahre seit 1980 für Deutschland dar. Dabei ist ein negativer Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und der Veränderung der Inflationsrate zu erkennen.
 
Daraus ist ersichtlich, dass bei geringer Arbeitslosigkeit die Veränderung der Inflation positiv ist, umgekehrt ist die Veränderung der Inflation bei hoher Arbeitslosenquote negativ.
 
Somit beschreibt die erweiterte Phillips-Kurve den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und der Veränderung der Inflation. Des Weiteren wird sie häufig auch als modifizierte Phillips-Kurve, um Erwartungen erweiterte Phillips-Kurve oder akzelerierende Phillips-Kurve bezeichnet.
 
Die am Lohnsetzungsprozess Beteiligten änderten ihre Erwartungen hinsichtlich der Inflationsrate, woraufhin sich die Phillips-Kurven-Bezeichnung veränderte. Die daraus erhaltene Einsicht ist, dass sich der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation wahrscheinlich mit dem Stand und der Dauerhaftigkeit der Inflation verändert.
 
=== Um Erwartungen modifizierte Phillips-Kurve ===
 
[[Datei:Um Erwartungen modifizierte Phillipskurve.PNG|mini|um Erwartungen modifizierte Phillips-Kurve]]
 
Zu einer weiteren Modifikation der Phillips-Kurve gelangt man durch die Betrachtung der Inflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte. Diese spielen für die Wirksamkeit der Geldpolitik eine wesentliche Rolle. Vollzieht eine [[Zentralbank]] eine expansive Geldpolitik, so müsste dies nach der modifizierten Form einerseits zu höherer Inflation (monetaristische Perspektive) und andererseits über die niedrigeren Zinsen zu einer Stimulierung der Wirtschaft und damit zu einem Beschäftigungswachstum führen (Bewegung von (1) nach (2)).
 
Die höhere Beschäftigung ist nach diesem Verständnis jedoch lediglich darauf zurückzuführen, dass bei steigenden Preisen und (zunächst) gleich bleibenden Nominallöhnen der [[Reallohn]] der Arbeitnehmer zurückgegangen ist, weswegen die Unternehmen mehr Arbeitskräfte einstellen. Da die Arbeitnehmer dies nicht vorhersehen, spricht man in diesem Zusammenhang von einer ''Überraschungsinflation''. Damit entspricht die um Erwartungen modifizierte Phillips-Kurve der modifizierten zumindest kurzzeitig.
 
In der mittleren Frist erkennen jedoch die Arbeitnehmer, dass sich ihre Löhne nicht an die aktuelle Inflationsentwicklung angepasst haben, weswegen sie von ihren Arbeitgebern Nominallohnsteigerungen zum Ausgleich der Inflationsverluste fordern. Demnach steigen die Nominallöhne letztlich also im gleichen Maß wie die Inflation, weshalb die Beschäftigung (bei gleich bleibender Inflation) wieder aufs ursprüngliche Niveau zurückgeht (3). Da dieser Sachverhalt bei jeder wirtschaftspolitischen Einflussnahme auf die Inflation auftrete, sei die Phillips-Kurve in der mittleren Frist senkrecht, so die monetaristische Sichtweise.
 
Dem Modell zugrunde liegt hierbei die Annahme [[Adaptive Erwartungen|adaptiver Erwartungen]], d.&nbsp;h., die Wirtschaftssubjekte vermuten, dass die bisherige Wirtschaftspolitik auch in Zukunft beibehalten wird. Geht man jedoch davon aus, dass die Wirtschaftssubjekte über alle vorhandenen relevanten Informationen verfügen (Annahme rationaler Erwartungen, siehe dazu [[Robert E. Lucas]], [[Thomas Sargent]], [[Robert J. Barro]] und [[Neil Wallace]]), so werden sie die von der Zentralbank induzierte Überraschungsinflation antizipieren und zeitgleich höhere Nominallöhne fordern, so dass der Umweg über die kurzfristige Perspektive entfällt&nbsp;– die Phillips-Kurve wäre dann auch in der kurzen Frist senkrecht.
 
== Die neue Phillipskurve ==
[[Datei:Bild 257xyz.jpg|thumb|Die neue Phillipskurve nach [[Joachim Stiller]]]]
[[Joachim Stiller]] hat aufgrund empirischer Forschung eine ganz neue, alternative Phillipskurve entwickelt. Diese sei auch theoretische begründbar, so Stiller. Stiller dehnt damit den [[Goetheanismus]] auch auf die [[Wirtschaftswissenschaft]]en aus.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Phillips-Kurve}}
* {{Wikipedia:Ossip K. Flechtheim}}


== Literatur ==
== Literatur ==
* Olivier Blanchard, Gerhard Illing: ''Makroökonomie.'' 4. aktualisierte und erweiterte Auflage. Pearson Studium, München u. a. 2006, ISBN 3-8273-7209-7 (''Wi - Wirtschaft'').
* Christian Fenner, Bernhard Blanke (Hrsg.): ''Systemwandel und Demokratisierung. Festschrift für Ossip K. Flechtheim.'' Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-434-00257-X.
* Bernhard Felderer, Stefan Homburg: ''Makroökonomik und neue Makroökonomik.'' 7. verbesserte Auflage. Springer, Berlin u. a. 1999, ISBN 3-540-66128-X (''Springer-Lehrbuch'').
* Andreas W. Mytze (Hrsg.): ''Ossip K. Flechtheim zum 80. Geburtstag'' (= ''Europäische Ideen.'' H. 69, {{ISSN|0344-2888}}). Arani-Verlag, Berlin 1989.  
* Helge Majer: ''Moderne Makroökonomik. Ganzheitliche Sicht.'' Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München u. a. 2001, ISBN 3-486-25549-5
* W. Beyer (Hrsg.): ''Kriegsdienste verweigern, Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim.'' Humanistischer Verband, Berlin-Kreuzberg 2000, ISBN 3924041180.
* Hans-Rudolf Peters: ''Wirtschaftspolitik.'' 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München u. a. 2000, ISBN 3-486-25502-9.
* Mario Keßler: ''Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker, 1909–1998''. Zeithistorische Studien, Bd. 41, Böhlau, 2007, ISBN 9783412142063.
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/sozialwissenschaft_phillipskurve.pdf Die neue Phillipskurve] PDF
* Wolfram Beyer: ''Ossip K. Flechtheim – für eine andere Politik'', in: W. Beyer (Hrsg.): Internationale der Kriegsdienstgegner/innen – 1947–2017, Beiträge zur Geschichte. Verlag Edition AV Lich 2017, S. 79–88


== Weblinks ==
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{{Commonscat|Philips curves|Phillips-Kurve}}
* {{DNB-Portal|118533789}}
* [http://www.tiltonline.net/tilt/gruppen/idk/perspek.htm Nachruf IDK]


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


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Version vom 28. Dezember 2020, 16:09 Uhr

Ossip Kurt Flechtheim (* 5. März 1909 in Nikolajew, Russisches Kaiserreich; † 4. März 1998 in Berlin) war ein deutscher Hochschullehrer und Autor. Der Jurist und Politikwissenschaftler war einer der Begründer der Futurologie in Deutschland.

Leben

Flechtheim war Sohn des Buchhändlers Hermann Flechtheim (1880–1960)[1] aus der Brakeler Unternehmerfamilie Flechtheim und seiner Frau Olga, geb. Farber (1884–1964).[2] Die Familie zog 1910 wieder ins westfälische Münster, die Heimat des Vaters, der als Geschäftsführer des Getreidegroßhandelsunternehmens M. Flechtheim & Comp. tätig war, und später nach Düsseldorf. Beide Eltern waren Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Ossip Flechtheim war gleichwohl nicht religiös interessiert. Als konfessionsloser Humanist wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg in West-Berlin Mitglied im Deutschen Freidenker-Verband e.V. (später Humanistischer Verband Deutschlands).

Nach dem Abitur an der Hindenburgschule (heute Humboldt-Gymnasium Düsseldorf), das er im Jahr 1927 ablegte, zog es ihn in die KPD. Aufgrund der ideologischen Enge dieser Partei trat er 1931 nach fünf Jahren und einer Moskau-Reise wieder aus. Flechtheim studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten in Freiburg im Breisgau, Paris, Heidelberg, Berlin und schließlich Köln. Von 1931 bis 1933 absolvierte er sein juristisches Referendariat beim Oberlandesgericht Düsseldorf. Er konnte noch im Jahr 1934 in Köln bei Carl Schmitt mit der Arbeit Hegels Strafrechttheorie zum Dr. jur. promovieren. Die notwendige Buchausgabe konnte nur noch im Ausland (Rohrer-Verlag, Brünn 1936) erscheinen.

Verfolgung und Emigration

Nach der Machtübernahme wurde er 1933 wegen seiner Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe Neu Beginnen und seiner jüdischen Abstammung aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. 1935 war er insgesamt 22 Tage inhaftiert, nur knapp konnte er den Nationalsozialisten entkommen. Er ging über Belgien in die Schweiz, wo er dank eines Stipendiums seine wissenschaftlichen Studien am Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales, das der Universität Genf angeschlossen ist, fortsetzen konnte und diese 1939 mit dem Diplom abschloss. Weil Flechtheim während dieser Zeit ausgebürgert worden war, entzog ihm die Universität zu Köln auch den Dr.-Grad (protokolliert für den 14. April 1938).

1939 emigrierte er in die USA und arbeitete dort zunächst an Horkheimers Institut für Sozialforschung der Columbia University in New York City. Dort lernte er u. a. Erich Fromm, Herbert Marcuse und Isaac Asimov kennen. Später war er als Dozent und schließlich als Professor an verschiedenen Hochschulen tätig. Im Dezember 1942 heiratete er Lili Therese Faktor, die Tochter des ehemaligen Chefredakteurs des Berliner Börsencuriers. Ihre Tochter Marion Ruth wurde am 26. September 1946 geboren.[3]

Bis 1943 lehrte er an der Universität von Atlanta. Als viele seiner schwarzen Studenten zum Kriegsdienst eingezogen wurden, wechselte er an das Colby College und als Assistant Professor an das Bates College (Maine).

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs trat er in die US-amerikanische Armee ein. 1946 kehrte er als Lieutenant colonel für einige Monate als Sektions- und Bürochef[4] beim Amt des US-Hauptanklägers für Kriegsverbrechen in Berlin nach Deutschland zurück. Von 1947 bis 1951 führte er seinen Beruf als Hochschullehrer in den Vereinigten Staaten fort. 1948 erschien sein Werk über Die KPD in der Weimarer Republik, mit dem er 1947 an der Universität Heidelberg zum Dr. phil. promoviert wurde. Auch beantragte er die Erneuerung seines Kölner juristischen Dr.-Diploms, dem die Fakultät laut Protokoll vom 10. April 1947 stattgab.[5]

Tätigkeit als Hochschullehrer in Berlin

Von 1952 bis 1959 war er ordentlicher Professor an der Deutschen Hochschule für Politik. Durch die Integration der Einrichtung in die Freie Universität Berlin 1959 erhielt er eine C4-Professur für Politikwissenschaft am dortigen Otto-Suhr-Institut, welche er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1974 ausfüllte.

Prägung der Futurologie

Flechtheim prägte den Begriff der „Futurologie“ als systematische und kritische Behandlung von Zukunftsfragen bereits 1943 in den USA. 1968 erschien in der Neuen Rundschau ein Aufsatz mit dem später wiederholt verbreiteten Titel Futurologie – Möglichkeiten und Grenzen, in dem er Vordenker wie Karl Marx und Zeitgenossen wie Leszek Kołakowski, Robert Jungk und Herbert Marcuse diskutierte.[6] 1970 veröffentlichte er schließlich sein Werk Futurologie: Der Kampf um die Zukunft. Darin kritisierte er sowohl die Zukunftsforschung im Westen als auch die Prognostik in den realsozialistischen Staaten als technokratisch und setzte dagegen ein Modell der „Befreiung der Zukunft“. Die Repräsentation von Zukunft sei in der staatlichen Planung am Objektivitätsideal der Naturwissenschaften orientiert und setze dementsprechend exklusiv auf eben jene Expertise. In der kritischen Gegenbewegung sei dagegen die „Entfaltung, Internationalisierung und Demokratisierung der Futurologie“ die Voraussetzung für eine Demokratisierung der Gesellschaft.

Politisches Engagement

Er war Mitgründer des linksliberalen Republikanischen Clubs in Berlin, war zehn Jahre lang Mitglied der SPD (bis 1962) und ab 1981 der Grünen. Er publizierte eine Vielzahl von Büchern und Zeitungsartikeln (u. a. in der Frankfurter Rundschau und in Die Zeit), war Gründungsmitglied und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitglied des PEN-Clubs, im Konzil der Friedensforscher und im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung. Aktiv unterstützte der Pazifist O.K. Flechtheim die Internationale der Kriegsdienstgegner. [7] Am 9. August 1985 antwortete er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Frage, was er am meisten verabscheue: „die Unmenschlichkeit“ und den Krieg der Menschen gegeneinander.

Er starb am Vorabend seines 89. Geburtstages in seiner Wahlheimat Berlin. Sein Grab befindet sich auf dem Berliner Friedhof Dahlem im Feld 2 neben denen seiner politischen Freunde Brigitte und Helmut Gollwitzer und Rudi Dutschke.

Preise und Ehrungen

1979 lehnte er die Annahme des Großen Bundesverdienstkreuzes in einem Brief an Bundespräsident Walter Scheel mit der Begründung ab, dies hätten zu viele Nazis bekommen.[8] 1981 übernahm Flechtheim den Ehrenvorsitz des Berliner Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Dieses unabhängige und gemeinnützige Forschungsinstitut war 1981 gegründet worden, um die wissenschaftliche Zukunftsforschung in Deutschland zu etablieren.

Im Mai 1986 wurde er von der Humanistischen Union mit dem Fritz-Bauer-Preis ausgezeichnet. 1989 wurde er von der Freien Universität Berlin mit einer Ehrendoktorwürde und vom Berliner Senat mit der Ernst-Reuter-Medaille geehrt.

Flechtheim war langjähriges Mitglied des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD). Der HVD hat im Jahr 2003 zu seinen Ehren den Ossip K. Flechtheim-Preis ins Leben gerufen. Der Preis wird alle zwei Jahre für herausragendes Engagement zur Förderung von Aufklärung, Toleranz und Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft vergeben und ist mit 2.500 Euro dotiert. Der 100. Geburtstag von O. K. Flechtheim wurde vom Humanistischen Verband Deutschlands[9] und der Zeitschrift Graswurzelrevolution gewürdigt.[10]

Schriften

Bücher

  • Die Kommunistische Partei Deutschlands in der Weimarer Republik. Bollwerk-Verlag Karl Drott, Offenbach 1948.
  • Eine Welt oder keine? Beiträge zur Politik, Politologie und Philosophie. (Sammlung Res novae. Bd. 32), Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1964.
  • Weltkommunismus im Wandel. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1965.
  • Bolschewismus 1917–1967. Von der Weltrevolution zum Sowjetimperium. Europa-Verlag, Wien 1967.
  • Futurologie. Der Kampf um die Zukunft. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1970.
  • Zeitgeschichte und Zukunftspolitik. Hoffmann und Campe, Hamburg 1974, ISBN 3-455091083.
  • mit Rudzio, Vilmar, Wilke: Der Marsch der DKP durch die Institutionen. Sowjetmarxistische Einflußstrategien und Ideologien. Fischer-TB, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-596242231.
  • Karl Liebknecht zur Einführung. (SOAK-Einführungen, 19). Junius, Hamburg 1985, ISBN 3-885068192.
  • Ist die Zukunft noch zu retten? Die Megakrise unserer Zeit und ihre sieben Herausforderungen. Campe 1987. Heyne 1989, ISBN 3-453037502.
  • mit Egbert Joos: Ausschau halten nach einer besseren Welt. Biographie, Interview, Artikel. Dietz, Berlin 1991, ISBN 3-320016229.

Aufsätze

  • Moskau 1931 – Moskau 1964. In: H. Bethke, W. Jaspert (Hrsg.): Moskau, Leningrad heute: Berichte und Impressionen von einer Reise. Stimme-Verlag, Frankfurt 1965, S. 34.
  • Einleitung zu: Karl Liebknecht: Gedanke und Tat. Schriften, Reden, Briefe zur Theorie und Praxis der Politik. Hrsg. von O. K. Flechtheim. Ullstein, 1976, ISBN 3548032826.
  • Von Hegel zu Kelsen. Rechtstheoretische Aufsätze. Duncker & Humblot, Berlin 1963 (Aufsatzsammlung).

Siehe auch

  • {{Wikipedia:Ossip K. Flechtheim}}

Literatur

  • Christian Fenner, Bernhard Blanke (Hrsg.): Systemwandel und Demokratisierung. Festschrift für Ossip K. Flechtheim. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-434-00257-X.
  • Andreas W. Mytze (Hrsg.): Ossip K. Flechtheim zum 80. Geburtstag (= Europäische Ideen. H. 69, ISSN 0344-2888). Arani-Verlag, Berlin 1989.
  • W. Beyer (Hrsg.): Kriegsdienste verweigern, Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim. Humanistischer Verband, Berlin-Kreuzberg 2000, ISBN 3924041180.
  • Mario Keßler: Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker, 1909–1998. Zeithistorische Studien, Bd. 41, Böhlau, 2007, ISBN 9783412142063.
  • Wolfram Beyer: Ossip K. Flechtheim – für eine andere Politik, in: W. Beyer (Hrsg.): Internationale der Kriegsdienstgegner/innen – 1947–2017, Beiträge zur Geschichte. Verlag Edition AV Lich 2017, S. 79–88

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Artikel von Eberhard Fromm bei Luisenstädtischen Bildungsverein Berlin
  2. Mario Kessler: Between History and Futurology. Ossip K. Flechtheim. In: Axel Fair-Schulz, Mario Kessler (Hrsg.): German Scholars in Exile. New Studies in Intellectual History. Lexington Books, Lanham MD u. a. 2011, ISBN 978-0-7391-5023-8, S. 173–211, hier S. 174.
  3. Vgl.: Mario Keßler: Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909–1998). 2007, S. 74.
  4. beim „Office of the US Chief of Counsel for War Crimes (OCCWC)“ in der „Dokumentenzentrale Berlin“, siehe Das Urteil im Wilhelmstrassen-Prozess. Der amtliche Wortlaut der Entscheidung im Fall Nr. 11 des Nürnberger Militärtribunals gegen von Weizsäcker und andere, mit abweichender Urteilsbegründung, Berichtigungsbeschlüssen, den grundlegenden Gesetzesbestimmungen, einem Verzeichnis der Gerichtspersonen und Zeugen. Mit Einführungen von Robert M. W. Kempner und Carl Haensel. Herausgegeben unter Mitwirkung von C. H. Tuerck. Bürger Verlag, Schwäbisch Gmünd 1950, S. XIX.
  5. Alle Ergänzungen und Korrekturen (31. Dezember 2012) nach: Elke Kochann, Kerstin Theis: Dr.jur 'Ossip K. Flechtheim. In: Margit Szöllösi-Janze, Andreas Freitäger: „Doktorgrad entzogen!“ Aberkennungen akademischer Titel an der Universität Köln 1933 bis 1945. Kirsch, Nümbrecht 2005, ISBN 3-933586-42-9, S. 78–83.
  6. Ossip K. Flechtheim: Futurologie – Möglichkeiten und Grenzen. In: Neue Rundschau, Heft 2/1968, S. 294–315.
  7. Wolfram Beyer: Ossip K. Flechtheim – für eine andere Politik, in: W. Beyer (Hrsg.): Internationale der Kriegsdienstgegner*innen – 1947–2017, Beiträge zur Geschichte. Verlag Edition AV Lich 2017, S. 79–88 Hier werden konkrete IDK-Aktivitäten von Flechtheim benannt.
  8. Brief vom 19. Juni 1979 siehe Mario Kessler: Between History and Futurology. Ossip K. Flechtheim. In: Axel Fair-Schulz, Mario Kessler (Hrsg.): German Scholars in Exile. New Studies in Intellectual History. Lexington Books, Lanham MD u. a. 2011, ISBN 978-0-7391-5023-8, S. 173–211, hier S. 194 + Anmerkung 174 Google Books.
  9. Siegfried Heimann (Hrsg.): Ossip K. Flechtheim. 100 Jahre. Humanistischer Verband Deutschlands – Landesverband Berlin, Berlin 2009, ISBN 978-3-924041-29-8.
  10. Wolfram Beyer: 100 Jahre Ossip K. Flechtheim, Erinnerungen an einen freiheitlichen Sozialisten. In: Graswurzelrevolution. Nr. 341, September 2009, S. 17.


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