Integrale Theorie

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Als integrale Theorie, auch „integrales Denken“ oder „integrale Weltsicht“ genannt, bezeichnet sich eine Schule von Weltanschauungen, die sich um eine umfassende Sicht des Menschen und der Welt, oft auch des Geistigen und Göttlichen ganz allgemein, bemüht. Es handelt sich nicht um einheitliche oder präzise Theorie im engeren Sinne, sondern um einen Versuch, eklektisch verschiedene natur-, human- und geisteswissenschaftliche Ansichten, sowie Elemente prämoderner, moderner und postmoderner, östliche und westliche Weltsichten, und spirituelle Gedanken zu vereinen. In einem engeren Sinn zugehörig sind die Autoren Aurobindo Ghose, Jean Gebser, Johannes Heinrichs[1] und Ken Wilber und deren Schüler. Dabei berufen sich diese auf die Tradition anderer, mehr oder weniger eklektische Autoren wie Lessing, Hegel oder Teilhard de Chardin; eine eng verwandte Theorie ist Spiral Dynamics. Rudolf Bahro bezeichnet sich selbst als Vertreter der „integralen Theorie“, was unter anderen Mitgliedern dieser Schule jedoch bestritten wird. Denker wie Hermann Lotze, Max Scheler und Nicolai Hartmann oder Pitirim Sorokin, gelten heutigen Vertretern der integralen Theorie als Vorläufer des integralen Denkens.

Überblick

Die integrale Theorie ist ein systematisches Modell für eine holistische, kosmisch-evolutionäre Welterklärung ohne materialistische Reduktion, sondern unter Einbeziehung der Eigenart und Wirksamkeit des Geistigen im Kosmos. Sie geht davon aus, dass die in der modernen Wissenschaft stark ausdifferenzierten Wirklichkeitsbereiche von Natur, Mensch, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in der Realität vielfältig verflochten sind. Für eine zukunftsfähige oder nachhaltige Entwicklung braucht es daher neben den Einzel- oder Fachwissenschaften auch die Welt als Ganzes auf neue, moderne integrierende Denkansätze, Forschungen und Theorien.

Einer der wichtigsten gegenwärtigen Vertreter der integralen Theorie, Ken Wilber, vertritt die Auffassung, dass auch mystische und spirituelle Erfahrungen Wissen über die Natur vermitteln können und deshalb in einem umfassenden Weltmodell ebenso wie wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden müssen. Mittels geeigneter Übungsmethoden wie der Meditation sei es sogar möglich, diese intersubjektiv zu überprüfen. Dies wird auch mit der Verbreitung dieser spirituellen Erfahrungen quer durch viele Kulturen und Epochen sowie ihrer prinzipiellen Zugänglichkeit durch meditative Praxis begründet. Nach Ken Wilber bestünde die Aufgabe eines integralen Theoretikers nicht darin, alle existierenden Theorien zu betrachten und zu entscheiden, welche davon „richtig“ sei. Vielmehr müsse er erklären, in welchem Kontext die Gesamtheit dieser Ideen „richtig“ sein könne. Denn all diese Theorien in Wissenschaft, Kunst und Spiritualität würden ja tatsächlich praktiziert und man müsse daher nach der Struktur des Kosmos fragen, der ein Aufkommen so vieler grundverschiedener Disziplinen gestatte. Es sei also die Frage nach der Architektur des Universums selbst zu stellen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt integraler Theorie besteht darin, zwischen den verschiedenen Ansätzen zur menschlichen Subjektivität zu vermitteln. So wird einerseits davon ausgegangen, dass das individuelle Ich oder Ego nicht die höchste Qualität menschlicher Handlungsfähigkeit darstellt, sondern in einem komplexeren transpersonalen Selbst aufgehen kann, das auch die anderen Wesen im eigenen Denken, Fühlen und Handeln berücksichtigt. Andererseits wird jedoch die Bedeutung des Ich als zentrale Instanz individueller Handlungsfähigkeit betont und sich damit von spirituellen Ansätzen abgegrenzt, welche das Ich in universeller Einheit auflösen möchten.

Vertreter und Rezeption

Die wissenschaftliche Rezeption dieses Ansatzes, die Zersplitterung der Disziplinen zu überwinden und sie stattdessen zusammenzuführen, ist in den letzten Jahren gewachsen, so liegen inzwischen Anwendungen u. a. aus dem Bereich des Management[2], der Organisationstheorie[3], der Psychotherapie[4] und der Ökologie[5] vor.

Neben Ken Wilber gelten Don Beck, Jean Gebser, Ervin László und Michael Murphy als neuere Vertreter einer derartigen Weltsicht. Auch der kultur- und sozialökologische Denkansatz von Maik Hosang wird als integral bezeichnet. Seine Habilitationsschrift "Der integrale Mensch - Homo sapiens integralis" verband integrale Theorien mit den etablierten Wissenschaften.[6] In seinem Science-Roman „Eves Welt. Liebe in Zeiten des Klimawandels“ entwickelt Hosang die Vision einer überwundenen Spaltung zwischen Rationalität und Gefühl, welche die moderne Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft kennzeichnet, in einer Welt bewusst entwickelter und gelebter Liebe als komplexe Sinn- und Glückserfüllung.[7] Andere Vertreterinnen und Vertreter waren oder sind Aurobindo Ghose, Susanne Cook-Greuter[8], Stanislav Grof, Steve McIntosh und Johannes Heinrichs

Institutionen

Im deutschen Sprachraum hat das Integrale Forum e.V.[9] das Bestreben, die Integrale Theorie insbesondere nach dem Ansatz von Ken Wilber bekannter zu machen. Der Verein ist gleichzeitig übergeordneter Verbund verschiedener „Integraler Salons“ (in der Tradition der literarischen Salons) in Deutschland, Österreich und Luxemburg.[10] In der Schweiz vertritt das Integrale Forum Schweiz ähnliche Ziele.[11]

Unter dem Namen Integrale Politik Schweiz besteht in der Schweiz seit 2011 eine kleine politische Partei, die ein Welt- und Menschenbild gemäß der integralen Theorie vertritt.[12]

Seit 2012 bietet die Genossenschaft IntegralSchweiz (früher: Verein für Integrales Leben) ein Kursprogramm an, welches auf der Integralen Theorie nach Ken Wilber beruht.[13] Die Ausführung orientiert sich an der Integralen Lebenspraxis, welche von Wilber et. al. 2006 im gleichnamigen Buch[14] vorgestellt wurde. Die spin-off Aktiengesellschaft IntegralWorks unterhält ein ähnliches Angebot für Organisationen.[15]

Der Verein für Integrale Architektur und Lebensraumgestaltung (VIAL) [16], ebenfalls in der Schweiz, vertritt eine Integrale Architektur, die sich unter anderem bei der Durchführung von Bauvorhaben auf die Integrale Theorie nach Wilber stützt, und als übergeordnetes Ziel formuliert, "durch die gleichberechtigte Integration und Verbindung objektiver, subjektiver, kultureller und systemischer Aspekte bei der Planung und Errichtung von Bauwerken, menschliche Bedürfnisse und Interessen mit der natürlichen Umwelt in Einklang zu bringen."[17]

Praktische Anwendungen

Die Integrale Lebenspraxis ist ein Konzept der Persönlichkeitsentwicklung, das auf der Integralen Theorie beruht.[18]

Auf der Grundlage des sogenannten AQAL-Modell (für: all quadrants, all levels), das wiederum auf das Quadrantenmodell Ken Wilber zurückgeht.[19] soll eine ausgewogene Entwicklung möglichst vieler Bereichen des persönlichen Lebens und in sozialen Gemeinschaften, wie z. B. in der Familie und in der Partnerschaft, im Berufsleben, in religiösen Gemeinschaften, der Nachbarschaft usw. erreicht werden. Für die Anwendung der Integralen Lebenspraxis wird empfohlen, aus jedem der folgenden Bereiche mindestens ein Modul zur regelmäßigen, möglicht täglichen Übung Praxis zu finden. Somit wird die Entwicklung in allen vier Quadranten und in allen Linien gefördert – und damit sowohl das Wachstum durch die Strukturen des Bewusstseins, als auch die Schulung der meditativen Zustände. Körper, Geist (engl. mind), Schatten und GEIST (engl. spirit)[20][21]

Der Bereich der Körperpraxis, auch "Körpermodul" genannt, umfasst sämtliche Ansätze und Praktiken, die sich dem Körper widmen – sowohl dem grobstofflichen als auch dem feinstofflichen = subtilen und dem kausalen Körper, der im spirituellen Kontext auch als der "formlose Körper" oder der Körper des Tiefschlafs bezeichnet wird.[22] Mögliche Übungen in diesem Modul können aus den Bereichen Yoga, Krafttraining, Ernährung, Schlaf etc. kommen.[23]

Siehe auhc

Literatur

  • Ken Wilber: Integrale Spiritualität. Kösel, 2007, ISBN 978-3-466-34509-0.
  • Ken Wilber: Ganzheitlich handeln – eine integrale Vision für Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Spiritualität. Arbor Verlag, Freiamt 2001, ISBN 3-924195-79-X.
  •  Ken Wilber, Terry Patten, Adam Leonhard: Integrale Lebenspraxis: Körperliche Gesundheit, emotionale Balance, geistige Klarheit, spirituelles Erwachen. - Ein Übungsbuch. 5. Auflage. Kösel-Verlag, 2010, ISBN 978-3-466-34545-8.
  •  Don Edward Beck, Christopher C. Cowan: Spiral Dynamics. Leadership, Werte und Wandel. Eine Landkarte fürs Business und Gesellschaft im 21. Jahrhundert. 2 Auflage. Kamphausen, 2008, ISBN 978-3-89901-107-4.
  • Steve McIntosh: Integrales Bewusstsein und die Zukunft der Evolution: Wie die integrale Weltanschauung Politik, Kultur und Spiritualität transformiert. Phänomen Verlag, 2009, ISBN 978-3-933321-75-6.
  • Maik Hosang: Der integrale Mensch. Hinder + Deelmann Verlag, Gladenbach 2000, ISBN 3-87348-168-5.
  • Maik Hosang et al: Die emotionale Matrix. Grundlagen für gesellschaftlichen Wandel und nachhaltige Innovation. oekom Verlag, München 2005, ISBN 978-3-86581-007-6.
  • Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. 3 Bände. DTV Verlag, München 1988, ISBN 3-423-05921-4.
  • Sri Aurobindo: Der integrale Yoga. (= Rowohlts Klassiker. 24). 1957.
  • Inga Fitzner: Integrales Bewusstsein – eine Spurensuche. LIT Verlag, Berlin/ Münster 2012, ISBN 978-3-643-11696-3.
  • Wolfgang Aurose: Die Seele der Nationen. Evolution und Heilung. Europa Verlag Berlin, 2014, ISBN 978-3-944305-42-4.
  • Johannes Heinrichs: Integrale Philosophie: Wie das Leben denken lernt: gelebte und ausdrückliche Reflexion. Academia-Verlag, Sankt Augustin, 2014. ISBN 978-3-89665-641-4.
  • Johannes Heinrichs: Öko-Logik: Geistige Wege aus der Klima- und Umweltkatastrophe. Steno-Verlag, 2007. ISBN 978-954-449-308-0.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Johannes Heinrichs. Abgerufen am 23. Januar 2018.
  2.  Andreas Mascha: Das Integrale Management. Verlag Andreas Mascha, München 2009, ISBN 978-3-924404-50-5, S. 30.
  3.  Frederic Laloux: Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen, Leipzig 2015, ISBN 978-3-8006-4913-6, S. 356.
  4.  Wulf Mirko Weinreich: Integrale Psychotherapie. Ein umfassendes Therapiemodell auf der Grundlage der Integralen Philosophie nach Ken Wilber. Arak-Verlag, Leipzig 2005, ISBN 3-936149-53-4, S. 402.
  5.  Sean Esbjörn-Hargens: Integrale Ökologie. Die Vereinigung verschiedener Perspektiven auf die natürliche Welt.. Phänomen-Verlag, 2012, ISBN 978-3-943194-55-5, S. 542.
  6. Homo sapiens integralis. (PDF) Abgerufen am 17. Mai 2017.
  7.  Maik Hosang: Eves Welt. Liebe in Zeiten des Klimawandels. Phänomen Verlag, Hamburg 2008, ISBN 978-3-933321-72-5, S. 330.
  8. Susanne R. Cook-Greuter: Selbst-Entwicklung. Neun Stufen zunehmenden Erfassens. In: Integral Informiert Nr. 14, Sep./Okt. 2008
  9. integralesleben.org. Abgerufen am 18. Oktober 2017.
  10. integralesleben.org. Abgerufen am 18. Oktober 2017.
  11. ifschweiz.ch. Abgerufen am 18. Oktober 2017.
  12. sda/olsm: Neues Mitglied in der Schweizer Parteienlandschaft. In: Tagesschau. Abgerufen am 7. Oktober 2012.
  13. Wake up, Clean up and Grow up! Abgerufen am 3. September 2018.
  14.  Wilber, Ken.: Integral life practice : a 21st century blueprint for physical health, emotional balance, mental clarity, and spiritual awakening. 1st ed Auflage. Integral Books, Boston 2008, ISBN 978-1-59030-467-9.
  15. IntegralWorks AG - Solutions on a Higher Level. Abgerufen am 3. September 2018.
  16. https://integrale-architektur.org/verein/
  17. Andrea Hoffnung: Positionspapier Integrale Architektur. (PDF) VIAL, 11. Oktober 2015, abgerufen am 6. Oktober 2017.
  18.  Wilber, Ken., Patten, Terry., Leonard, Adam., Morelli, Marco., Petersen, Karin,: Integrale Lebenspraxis : körperliche Gesundheit, emotionale Balance, geistige Klarheit, spirituelles Erwachen ; ein Übungsbuch. Kösel, München 2010, ISBN 978-3-466-34545-8.
  19.  AQAL: Alle Quadranten, Ebenen, Linien, Zustände und Typen. In: Integrales Forum e.V.. (https://integralesforum.org/medien/integrale-bibliothek/theorie-grundlagen/3594-aqal).
  20. In der deutschsprachigen Literatur integraler Autoren meist in dieser Form geschrieben, um 'mind' uns 'spriti' zu unterscheiden.
  21.  Wilber, Ken., Patten, Terry., Leonard, Adam., Morelli, Marco., Petersen, Karin,: Integrale Lebenspraxis : körperliche Gesundheit, emotionale Balance, geistige Klarheit, spirituelles Erwachen ; ein Übungsbuch. Kösel, München 2010, ISBN 978-3-466-34545-8.
  22.  Wilber, Ken: Integrale Spiritualität. Spirituelle Intelligenz rettet die Welt. Kösel, München 2007, ISBN 978-3-466-34691-2.
  23.  Silas Hörler: Integrale Körperarbeit. ISBN 978-1-985644-62-5.


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