Masoretischer Text

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Codex Aleppo mit masoretischer Punktation, 925 n. Chr.

Der Masoretische Text (von hebr. מסורה masora: „Überlieferung“; abgekürzt M, MT oder MasT) ist ein hebräischer Text des Tanach. Er ist Ergebnis der streng geregelten Bearbeitung älterer Bibel-Handschriften zwischen 700 und 1000 durch die Masoreten (Punktatoren, Nakdanim). Diese jüdischen Schriftgelehrten vokalisierten den seit 100 fixierten Konsonantentext, markierten Varianten, andere Lesarten, Parallelstellen und vermutete Fehler mit besonderen Zeichen, die man als Masora zusammenfasst und als frühe biblische Textkritik deutet.

Von den verschiedenen Masorasystemen setzte sich bis zum 11. Jahrhundert das der Familie Ben-Ascher aus Tiberias durch. Von ihr stammen die ältesten vollständig erhaltenen Handschriften des Tanach (895ff), die allen heutigen wissenschaftlichen Bibelausgaben zugrunde liegen.

Der tiberisch-masoretische Text galt seit der Renaissance als biblischer Urtext. Diese Annahme wurde durch Funde von bis zu 1100 Jahren älteren Bibelhandschriften unter den Schriftrollen vom Toten Meer und anderswo teilweise entkräftet. Zugleich aber bestätigten diese Funde, dass der Masoretentext für die meisten Bücher des Tanach auf früher jüdischer Bibelüberlieferung beruht und diese erstaunlich genau bewahrt.

Die Masoreten

Als Masoreten bezeichnet man zwei mittelalterliche Gruppen jüdischer Kopisten und Bearbeiter von Bibelhandschriften: zum einen Schreiber aus der babylonischen Diaspora (östliche Masoreten), zum anderen Rabbiner aus Galiläa (westliche Masoreten).

Die östlichen Masoreten waren Nachfolger gelehrter Juden, die schon vor 100 einflussreiche Lehrhäuser im Zweistromland gebildet hatten: vor allem in Sura, Nehardea (bis 259) und Pumbedita. Sie standen den Karäern nahe, die die in Mischna und Talmud gesammelte rabbinische Auslegungstradition ablehnten und nur den Tanach selbst als Heilige Schrift gelten ließen. Sie breiteten sich seit dem 8. Jahrhundert von Babylonien aus im Mittelmeerraum aus und gewannen auch in Palästina Einfluss.

Unter den westlichen Masoreten wurden die zwei Familien Ben Ascher und Ben Naftali aus Tiberias besonders bekannt. Sie entwickelten zwischen 780 und 930 ein eigenes System, um den ihnen überlieferten Bibeltext zu prüfen, gegen Abschreibfehler zu sichern, seine Aussprache festzulegen und vor willkürlichen Eingriffen zu schützen. Dieses System wurde in Europa vorherrschend.

Obwohl die Punktationsart der Familie ben Naftali weiter fortgeschritten erscheint, setzte sich mit Unterstützung durch Maimonides ab dem 11. Jahrhundert die der Familie ben Ascher in Europa durch. Zu ihren wichtigsten Angehörigen gehörten Ascher der Alte oder der Große, sein Sohn Nehemia, seine Enkel Ascher ben Nehemia und Moses ben Ascher sowie besonders sein Urenkel Aaron ben Mosche ben Ascher.

Voraussetzungen

Kanonisierung des Tanach

Den Masoreten lag der Kanon des hebräischen Tanach vor, der Umfang, Reihenfolge und offenbarungstheologische Gewichtung der biblischen Bücher endgültig festgelegt hatte. Die Kanonisierung der Tora war bereits um 400 v. Chr., die der Nebi'im (Prophetenbücher) um 200 v. Chr. abgeschlossen. Das Buch Jesus Sirach setzte um 190 v. Chr. schon eine dreiteilige Bibel voraus, wobei der exakte Umfang des dritten Teils, der Ketuvim („Schriften“), unklar ist. Der 132 v. Chr. hinzugefügte griechische Prolog setzt die griechische Übersetzung der Tora voraus, mit der die seit 250 v. Chr. von Juden erstellte Septuaginta begonnen hatte.

Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. wurde die gemeinsame Bibel als Grundlage aller Richtungen des Judentums umso wichtiger. Da sich gleichzeitig auch die Christen auf die jüdischen heiligen Schriften beriefen, legten die Rabbiner um 100 endgültig fest, dass nur hebräisch abgefasste Schriften zum Bibelkanon gehören sollten. Spätere, auf Griechisch oder Aramäisch abgefasste Schriften, auch solche, die zum Teil schon in den Septuagintakanon aufgenommen worden waren, wurden nun ausgegrenzt.

Fixierung des Konsonantentextes

Die Schriftgelehrten (Rabbiner) übernahmen damit die Führung und Restauration des Judentums. Unter ihnen gewann die exegetische Methode von Rabbi Akiba großen Einfluss: Für seine Auslegung war jeder Buchstabe, jede Wortstellung und jedes Morphem des Bibeltextes bedeutsam.

Dies wie auch die Abgrenzung von der Bibelexegese anderer Gruppen, darunter der Christen, erforderte eine Fixierung des Konsonantentextes. Diese war die Aufgabe der sogenannten Soferim, die Bibelhandschriften abschrieben. Fortan wurde der Konsonantentext nicht mehr verändert; abweichende Versionen wurden nach genauen Vorschriften entweder korrigiert oder als unbrauchbar feierlich beerdigt. Hauptanliegen war, die Offenbarungsurkunden vor willkürlicher Manipulation zu schützen: „Masoraet ist ein Zaun für die Tora“ (Akiba, ca. 135).

Von dem seit 100 fixierten Konsonantentext sind heute nur noch Bruchstücke und einzelne Zitate aus rabbinischer Literatur bekannt. Welche Textversionen der Bibel den Soferim vorlagen, welche sie favorisierten und nach welchen Kriterien sie den gültigen Satz-, Wort- und Buchstabenbestand festlegten, ist nur aus Vergleichen des masoretischen Textes mit verschiedenen damaligen Bibelübersetzungen und älteren hebräischen Bibelhandschriften annähernd zu erschließen. Daran zeigt sich ihre Tendenz, Versionen mit einer populären und vereinfachenden („vulgären“) Sprache zugunsten differenzierter und altertümlicher hebräischer Sprache zurückzudrängen. Aramäische Worte und Passagen wurden durch ursprünglichere hebräische Textversionen ersetzt.

Dies führte dazu, dass fortan nur noch eine der zuvor vielen Textversionen biblischer Handschriften weiterkopiert wurde und alle übrigen verdrängte. Damit wurde der hebräische Bibeltext jedoch auch nahezu unübersetzbar. So wurden auch die bis 200 erfolgten jüdischen Revisionen der Septuaginta später abgelehnt und vergessen. Zugleich ging auch das Wissen um die Aussprache des biblischen Hebräisch immer mehr verloren.

Diesen sogenannten proto- oder prä-masoretischen Text haben dann auch die Masoreten vorgefunden und ihrerseits über Jahrhunderte sehr genau überliefert.

Die Masora

Als Masora fasst man alle Zeichen zusammen, die die Masoreten dem überlieferten Konsonantentext hinzufügten. Die Masora marginalis an den umgebenden Rändern der Textkolumnen besteht aus Anmerkungen an den Seitenrändern (Masora parva) und an den oberen und unteren Rändern (Masora magna). Weitere Notizen findet man am Anfang und Ende eines Buches (Masora finalis).

Vokalisation

Der hebräische Konsonantentext blieb in den älteren Bibelhandschriften recht konstant, enthielt aber kaum Hinweise auf seine Aussprache, so dass ihm allmählich Vokalbuchstaben (Matres lectionis) hinzuwuchsen. Dies geschah uneinheitlich und unsystematisch und führte daher zu vielen Abschreibefehlern und mehrdeutigen Lesarten. Auch kannten immer weniger Leser die Aussprache des hebräischen Konsonantentextes.

Die Masoreten standen also vor der Aufgabe, die mündliche Lesart ihrer Vorlagen zu bewahren, zu vereinheitlichen und Mehrdeutigkeiten zu beseitigen, ohne den Buchstabenbestand zu verändern. Dazu notierten sie Teamim - Punkte und Striche - über (supralinear) und unter (infralinear) den Konsonanten.

Man unterscheidet das supralineare babylonische und palästinische vom infralinearen tiberischen Vokalisationssystem. Dieses setzte sich schließlich durch. Mit ihm wurde auch die Grammatik des biblischen Hebräisch vereinheitlicht und festgelegt. Dies war damals und ist zum Teil bis heute umstritten, da sich die lebendige hebräische Umgangssprache bis zur masoretischen Vokalisierung schon recht weit vom biblischen Hebräisch entfernt hatte.

Einteilung

Sinnabschnitte (Paraschot) schlossen die Masoreten mit einer leeren Restzeile nach dem letzten Wort, bevor der folgende Abschnitt mit einer neuen Zeile begann. Diese Einheiten unterteilten sie nochmals mit bis zu neun Buchstaben breiten Leerräumen zwischen Worten oder Sätzen. Damit folgten sie alter, hebräisch-aramäischer wie auch nichtbiblischer griechischer Tradition.

Die Einteilung setzt bewusste Exegese voraus und reflektiert diese. In der Tora fallen neue Abschnitte meist mit dem Beginn wörtlicher Gottesrede zusammen. Davon abgesehen unterscheidet sich die masoretische Einteilung zu etwa 20% von älteren Handschriften, geringfügig auch untereinander. Heutige Ausgaben folgen einem damaligen Traktat von Maimonides (Mishneh Torah, II. Hilchot Sefer Torah, 8).

Paraschot waren nie kürzer als drei Verse, da der Talmud eine Mindestlänge für die Lesepraxis in der Synagoge verlangte. Vers-Enden markierten die Masoreten mit einem Akzent (Silluq). Sie nummerierten aber die Verse ebenso wenig wie Kapitel.

Die Kapiteleinteilung, noch ohne Verszählung, begann der englische Bischof Stephan Langton im 13. Jahrhundert. Dabei fasste er mehrere masoretische Paraschot zu Kapiteln zusammen. Deren Anfänge zerteilen Sinnabschnitte an einigen Stellen des Tanach: So endet der erste Schöpfungsbericht Gen 1 eigentlich erst in Gen 2,4; Ex 21,37 gehört zu Ex 22,1-3; die Moserede Dtn 5 beginnt schon in Dtn 4,44; Dtn 11,31f gehört zu Dtn 12; Dtn 16,21 zu 17,1 und andere.

An 35 Stellen, vermerkt an der Randmasora zu Gen 35,22, unterteilten die Masoreten den Text nicht am Ende, sondern in der Mitte eines Verses (Pisqah Be'emsa Pasuq). Damit zeigten sie einen inhaltlichen Bruch an, an dem der Vorleser pausieren sollte. Später wurden auch diese Stellen mit einem Silluq markiert. Diese Unterbrechungen finden sich in zwei Dritteln aller Fälle in den Samuelbüchern, so dass man hier keine einheitliche Exegese des Tanach vorfindet.[1]

Akzentuierung

Mit bis zu 48 verschiedenen Zeichen (Teamim) gaben die Masoreten den Vorlesern Hinweise auf die Sprachmelodie eines Verses, Betonungen innerhalb eines Wortes und syntaktische Beziehungen zwischen Worten. Auch hier gab es ein babylonisches, palästinisches und tiberisches System. In letzterem bestanden mehrere Traditionen nebeneinander und Sondersysteme für die Psalmen, das Buch Ijob und das Buch der Sprichwörter.

Trennende Akzente wurden nach der Pausendauer in vier Gruppen unterteilt („Kaiser, Könige, Herzöge, Grafen“), etwa analog zu den heutigen Satzzeichen Punkten mit Bindestrich, Punkten, Semikola, Kommata. Auch verbindende Akzente folgten einer stereotypen Reihenfolge.

Wie schon in antiker und rabbinischer Tradition verdeutlichten die Betonungen und Pausen die Bezüge und Aussagen, waren also Ausdruck exegetischer Urteile. Diese wichen untereinander und von älteren Bibelhandschriften in manchen Fällen so stark ab, dass sich andere Aussagen ergeben. Spätere exegetische Kommentare orientierten sich meist am tiberischen Akzentsystem.[2]

Puncta extraordinaria

An 15 Stellen des Tanach, zehn davon in der Tora, notierten die Masoreten besondere Punkte über einzelnen Buchstaben, einmal (Ps 27,13) auch darunter. Dreimal (Gen 33,4; Num 3,39: „und Aaron“; Jes 44,9) stehen diese Punkte über jedem Buchstaben eines Wortes. Alle 15 Stellen wurden in der Masora magna zu Num 3,39 vermerkt.

Schon in einer Handschrift von Qumran wurde eins dieser markierten Worte etwas über die Zeile herausgehoben. In späteren vormasoretischen Handschriften fehlt es; ebenso fehlen die von den Masoreten punktierten Buchstaben in einigen jüngeren Handschriften. Daraus schließt man, dass die Punkte ursprünglich wegzulassende Buchstaben für nachfolgende Schreiber markieren sollten.

Die Rabbiner beurteilten einige dieser Worte als unpassend oder falsch. Die Masoreten wagten aber nicht, in den überlieferten Text einzugreifen, und überlieferten stattdessen die Punkte als Kennzeichen zweifelhafter Stellen. Dass diese in allen ihren Handschriften übereinstimmen, zeigt die Einigkeit unter ihnen und wurde früher als Hinweis darauf gedeutet, dass sie den biblischen Urtext bewahrt und überliefert haben.[3]

Nun inversum

Einige Textabschnitte klammerten die Masoreten vorn und hinten mit einem umgedrehten (inversum) Buchstaben Nun ein. Damit folgten sie einer griechischen Schreiberpraxis, die ein umgedrehtes Sigma verwendete, um als falsch platziert angesehene Stellen zu markieren. Dies betrifft in masoretischen Handschriften aber nur die „Ladesprüche“ in Num 10,35f; Ps 107,23-28 bzw. 21-26.40; in manchen außerdem Gen 11,32.

Über Num 10,35f überliefert der Talmud exegetische Diskussionen: Für einige Rabbiner gehörte Num 11,1f an dessen Stelle. Diese Bedenken werden durch entsprechende Varianten in alten Handschriften gestützt. So findet man auch in Fragmenten aus Qumran (1QM III,1; 1QS VII,8) ähnliche Kennzeichen.[4]

Masora parva

Die Masora parva an den seitlichen Rändern jeder Textkolumne gibt an:

  • die Häufigkeit besonderer Schreibweisen und Vokalisationen. Nur einmal vorkommende Ausdrücke oder Kuriositäten wurden mit „nirgendwo sonst“ vermerkt, seltene Varianten wurden angegeben;
  • andere Lesarten (qere) für das Geschriebene (ketib);
  • Warnungen vor falschen Lesarten und Angabe der eigentlich erwarteten Wortform (sebirin);
  • Listen für puncta ordinaria und nun inversa;
  • Orientierungspunkte zum Prüfen korrekter Abschriften, etwa die Angabe des kürzesten oder des mittleren Verses eines Abschnitts, Buchs oder der ganzen Tora.

Ketib und Qere

Zwischen 848 und 1566 Mal geben masoretische Seitenrandnotizen an, der Leser solle den Konsonantentext (ketib: „wie geschrieben steht“) durch andere Wörter ersetzen (qere: „lies“). Ging es dabei um die Aussprache, dann wurde das ketib entweder unvokalisiert gelassen oder mit den Vokalen des am Rand vermerkten qere vokalisiert. Meist betraf dies Wörter mit nahezu denselben Konsonanten, etwa wegzulassende oder zu ergänzende matres lectionis, deren Schreibweise auch aus anderen Handschriften bekannt ist.

Einige Male gibt die Bemerkung qere wela' ketib ein nicht vorhandenes, als fehlend angesehenes Zusatzwort an, dessen Vokale ohne Konsonanten dann im Text ergänzt wurden. Umgekehrt fordert die Bemerkung ketib wela' qere zum Missachten eines vorhandenen Wortes auf. Dieses blieb dann unvokalisiert.

Die meisten qere waren wahrscheinlich zuerst unverbindliche Korrekturnotizen nach Varianten, die die Masoreten in anderen Handschriften oder Bibelstellen vorfanden. So stimmt ein Text der Chronik mit den qere zu einem gleichlautenden, früher verfassten Samueltext überein: Die Masoreten können also die Chronikversion auch für die Samuelversion vorgeschlagen haben. Das jeweilige qere kann die häufigste vorgefundene Variante wiedergeben, da jeweils nur ein qere für ein ketib vorgeschlagen wird. Das würde auch erklären, dass nicht alle qere besser in den Kontext passen als der Originalwortlaut und diesen nicht verdrängten.

Später wurden qere-Hinweise jedoch als obligatorische Korrekturanweisung aufgefasst, so dass manche Handschriften das ketib damit ersetzten. Dies geschah aber uneinheitlich, so dass manche ketib-Stellen derselben Handschrift unersetzt blieben. Auch gaben manche Handschriften das qere anderer Handschriften als ketib an und umgekehrt.

Einige Lesevorschläge sollten drastische, vulgäre Ausdrücke mit Euphemismen abmildern, wie es schon im Talmud für Dtn 28,27 („Geschwüre“ statt „Hämorrhoiden“) oder Dtn 28,30 („mit ihr liegen“ statt „sie genießen“) und gleichartige Stellen erörtert wurde.

Ein ständiges Ersatzwort wurde beim Gottesnamen JHWH verlangt, der alleinstehend mit den Vokalen von Adonai, neben Adonai stehend mit den Vokalen des Singulars von Elohim, welcher Eloah lautet, vokalisiert wurde. Daraus entstand irrtümlich die falsche Lesart Jehova.[5]

Sebirin

In 70 bis 200 Fällen warnten die Masoreten den Leser mit der Formel „es wurde fälschlicherweise vorgeschlagen“ (sebirin) davor, ein Wort im Text anders zu lesen als es da stand. Dies bezog sich auf Stellen, die im Kontext unverständlich erscheinen konnten, von ihnen aber als richtig angesehen wurden. Anders als die Qere-Vorschläge blieben die Sebirin-Worte jedoch unverbindliche Meinung. Ob sie auf als falsch beurteilte Qere-Worte in anderen Handschriften zurückgehen, ist nicht belegt.[6]

Masora magna

Die Masora magna listet alle sonstigen Belegstellen für besondere Ausdrücke, Wortfolgen oder Eigentümlichkeiten im Tanach auf, deren Häufigkeit die Masora parva angibt. Dabei unterschieden die Masoreten auch sinnverwandte Ausdrücke (z.B. „Haus Israel“ und „Kinder Israel“) voneinander und führten Namen ohne Zusätze gesondert von denselben Namen mit Zusätzen auf. Dabei folgten sie der rabbinischen Exegese, Bibelstellen mit Parallelstellen auszulegen, und förderten diese. Dies gilt als Beginn einer umfassenden Bibelkonkordanz.

An sechs bis 18 Stellen im gesamten Tanach, aufgeführt meist bei Ex 15,7, führte die Masora magna „Korrekturen der Schreiber“ (tiqqune soferim) auf: Worte, die in älteren unverbesserten Vorlagen noch vorkamen, aber von ihren Vorgängern oder ihnen selbst weggelassen wurden.[7]

Masora finalis

Jeweils am Anfang und/oder Ende eines Buchs bieten masoretische Handschriften zum Teil umfangreiche Listen, etwa für „offene“ (Paraschen) und „geschlossene“ (Verse) Einteilungen, für die Unterschiede in der Punktation zwischen Ben Naftali und Ben Ascher und die mittleren Verse, Worte und mittleren Buchstaben jedes Buchs. Mit der Wortzählung hatten die Soferim schon begonnen. Die Masoreten erweiterten und standardisierten diese, um die Genauigkeit ihrer Abschriften zu prüfen und kommende Generationen darauf zu verpflichten.

Die Zweite Rabbinerbibel von 1524 erweiterte diese Schlussmasora um weitere Listen für Varianten auch aus nichtmasoretischen Quellen, und gab auch die Zahl der Buchstaben jedes Buchs an, um Verlust oder Einfügung selbst einzelner Buchstaben zu verhindern. Dies gilt als früher Vorläufer der in der Informatik verwendeten Prüfsummen.

Erhaltene Handschriften

Über 6000 hebräische Bibelhandschriften werden der protomasoretischen und masoretischen Überlieferung zugeordnet. Etwa 2700 davon sind datiert und vor 1540 entstanden. Darunter sind sechs bekannte Codices aus dem 10., acht aus dem 11. und 27 aus dem 12. Jahrhundert.[8]

Von den letzten beiden Generationen der Ben-Ascher-Familie stammen die ältesten heute erhaltenen Codices des Tanach: 895 schrieb und punktierte Mosche ben Ascher nach dem Schlusskolophon den Codex Cairensis (auch: Prophetenkodex). Er umfasst die Nevi'im, also die Bücher Josua bis Maleachi. Das Punktationssystem steht dem der Ben Naftali näher als dem der älteren Generationen der Ben Ascher.

Um 900 schrieb Sch'lomo ben Buya'a den Codex von Aleppo, den Aaron ben Mosche ben Ascher 925 besonders sorgfältig punktierte. Er war als Musterkodex für weitere Kopien gedacht, sollte nur bei den drei höchsten jüdischen Festen vorgelesen werden und nur zur Klärung von Streitfragen, nicht zum Studium dienen. Etwa ein Viertel seines Umfangs verbrannte 1947 bei antijüdischen Ausschreitungen in Aleppo. Der Gesamttext war jedoch bereits editiert und liegt der Hebrew University Bible zugrunde.

Der von Unbekannten geschriebene Codex B.M. Or 4445 (ca. 900-950)[9] enthält große Teile der Tora. Der Codex C3 aus einer Kairoer Karäer-Synagoge und ebenfalls aus dem 10. Jahrhundert enthält die ganze Tora. Er wurde zuerst mit dem System der Ben Naftali vokalisiert, von Mischael ben Usiel jedoch vollständig dem Vokal- und Akzentsystem der Ben Ascher angeglichen, so dass er dieses exakt vertritt.[10]

Der Codex Sassoon 507, auch „Damaskuspentateuch” genannt, enthält die Tora, der Codex Sassoon 1053 den ganzen Tanach. Beide stammen aus dem 10. Jahrhundert.[11]

1008 gab Samuel ben Jacob den Codex Leningradensis (auch: Handschrift B 19A, heute meist Codex Petropolitanus genannt) heraus. Er wurde nachweislich nach einer Handschrift des Aaron ben Mosche ben Ascher korrigiert und punktiert, also früher als sein Erscheinungsjahr aufgeschrieben. Er umfasst alle Bücher des Tanach und ist somit die älteste, zugleich auch beste vollständige Handschrift der Hebräischen Bibel. Vornehmlich auf ihm basieren deren moderne deutsche Ausgaben, die von Rudolf Kittel herausgegebene Biblia Hebraica ab der dritten Auflage und deren Nachfolgerin, die Biblia Hebraica Stuttgartensia.

1524/25 erschien die von Jakob Ben Chajim gestaltete Zweite Rabbinerbibel (auch Bombergiana genannt), gedruckt von Daniel Bomberg in Venedig. Sie druckte erstmals die Masora parva und magna der Ben Ascher mit ab, dazu ein Targum und zwei damals unter Juden anerkannte rabbinische Kommentare. Diese Ausgabe repräsentierte den allgemein anerkannten textus receptus hebraicus, der zur Basis aller weiteren hebräischen Bibelausgaben jüdischer und christlicher Herausgeber wurde: bis hin zu den ersten beiden Auflagen der Biblia Hebraica im 20. Jahrhundert.

Masoretische Handbücher

Die Textbeobachtung der Masoratradition wurde in den folgenden Jahrhunderten ständig fortentwickelt, so dass Anmerkungen, Punktationen und Listen zum Bibeltext bald in eigenen Handbüchern gesammelt erschienen.

Elijah Levita beschrieb 1538 in Massoret ha-Massoret besonders die Rechtschreibung des Masoretentextes. Die umfangreichste Sammlung Oklah we-Oklah enthält 398 Listen, beginnend mit einer Liste für hintereinander verdoppelte Worte, nach der sie benannt ist. Sie wurde basierend auf zwei frühneuzeitlichen Handschriften 1864 erstmals gedruckt herausgegeben und 1969 und 1975 nachgedruckt.

Da diese Handbücher überlieferte Masora-Apparate oft getrennt von den zugehörigen Handschriften weitergaben und mit anderen Apparaten kombinierten, wurden sie eine häufige Fehlerquelle für die Schreibweise von Worten in späteren Bibelausgaben, die sich darauf stützten. Deshalb kehrten kritische Ausgaben dazu zurück, einen einzigen Kodex mitsamt der zugehörigen Masora zugrunde zu legen.[12]

Eine wichtige Zusammenstellung der Masora der Zweiten Rabbinerbibel mit Traktaten der Masoreten veröffentlichte Christian David Ginsburg von 1880 bis 1905.[13]

Beziehung zu anderen Texten

Ein Vergleich mit der Septuaginta, dem zweiten wichtigen Textzeugen der Hebräischen Bibel, ergibt zahlreiche kleine und einige auch theologisch signifikante Unterschiede.

Die Schriftrollen vom Toten Meer stimmen teilweise mit dem Masoretischen Text, teilweise mit der Vorlage der Septuaginta, teilweise mit keinem der beiden Texte oder aber mit beiden überein; in etlichen Fällen haben sie jedoch gemeinsam mit der Septuaginta die gleiche Lesart gegen den Masoretischen Text. Dies macht es wahrscheinlich, dass die Septuaginta an diesen Stellen ursprünglichere hebräische Lesarten überliefert hat, und es erlaubt den Schluss, dass dies auch bei einigen derjenigen Unterschiede zwischen Septuaginta und Masoretischem Text gilt, für die es kein Vergleichsmaterial aus Qumran gibt.

Der masoretische Text bildet heute den im Judentum benutzten Tanachtext. Im Christentum stellt er eine der wichtigsten Quellen für Bibelübersetzungen dar. Exegeten und Theologen greifen bevorzugt auf den masoretischen Text zurück und wählen andere Varianten oft nur, wenn begründete Zweifel an der masoretischen Textform bestehen.

Literatur

englisch
  • Christian David Ginsburg: The Massorah Compiled from Manuscripts Alphabetically and Lexically Arranged. [Reprint.] KTAV, The Library of Biblical Studies, New York 1975, ISBN 087068020X
  • Christian David Ginsburg: Introduction to the Massoretico-critical edition of the Hebrew Bible. With a prolegomenon by Harry M. Orlinsky: The Masoretic text: a critical evaluation. Ktav Publishing House, New York 1966, ISBN 0870680609
  • Israel Yeivin: Introduction to the Tiberian Masorah. Scholars Press for the Society of Biblical Literature and the International Organization for Masoretic Studies, University of Michigan 1980, ISBN 9780891303732
  • Shnayer Z. Leiman: The Canon and Masorah of the Hebrew Bible: An Introductory Reader. The Library of Biblical studies, American Oriental Society 1974, ISBN 0870681648
  • Emanuel Tov: Textual Criticism of the Hebrew Bible. Brill Academic Publications, revidierte Auflage 2005, ISBN 9023237153
deutsch
  • Timothy G. Crawford, Page H. Kelley, Daniel S. Mynatt: Die Masora der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Einführung und kommentiertes Glossar. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2003. ISBN 3438060094
  • Paul Kahle: Masoreten des Ostens. Die ältesten punktierten Handschriften des Alten Testaments und der Targume. Leipzig 1913 [Nachdruck: Olms, Hildesheim 1984/2001]. ISBN 3487012480
  • Paul Kahle: Masoreten des Westens. 2 Bände, Stuttgart 1927-30 [Nachdruck: Olms, Hildesheim 2005]. ISBN 3487018152
  • Hans-Georg von Mutius: Die Masoreten als Textverfälscher? Neue Überlegungen zu einem bekannten Problem in Genesis 1,20. In: Biblische Notizen 81 (1996), ISSN 0178-2967, S. 15-20.
  • Johann Maier: Studien zur jüdischen Bibel und ihrer Geschichte. Studia Judaica 28. Walther de Gruyter, Berlin u.a. 2004. ISBN 3110182092
  • Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel: Handbuch der Textkritik. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1997, ISBN 3170135031
  • Gérard E. Weil (Hrsg.): Massorah Gedolah iuxta codicem Leningradensem B 19 a elaboravit ediditque Gérard E. Weil. Päpstliches Bibelinstitut, Rom 1971

Einzelbelege

  1. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, 1997, S. 40-43
  2. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, 1997, S. 54-58
  3. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, 1997, S. 44f
  4. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel. 1997, S. 43f
  5. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, 1997, S. 46-51
  6. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, 1997, S. 51f
  7. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, 1997, S. 52
  8. M. Beith-Arié:Some Technical Practises Employed in Hebrew Dated Medieval Manuscripts, Leiden 1978, S. 72
  9. Paul Kahle: The Hebrew Ben Asher Bible Manuscripts. In: Vetus Testamentum 1 (1951), S. 161-167, hier S. 167.
  10. Jordan S. Penkower: A Tenth-Century Pentateuchal MS from Jerusalem (MS C3), corrected by Mishael Ben Uzziel. In: Tarbiz 58 (1988), S. 49-74.
  11. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 38
  12. Emanuel Tov: Der Text der Hebräischen Bibel, 1997, S. 60f
  13. Christian David Ginsburg: The Massorah Compiled From Manuscripts, Alphabetically and Lexikally Arranged, Band I-IV, London/Wien 1880-1905; verschiedene Nachdrucke


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