Bibliothek:Goethe/Naturwissenschaft/Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre

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Johann Wolfgang Goethe

VERSUCH EINER ALLGEMEINEN VERGLEICHUNGSLEHRE

[Handschriftlich, um 1790]

Vergleichende Anatomie, Zoologie

Wenn eine Wissenschaft zu stocken und, ohnerachtet der Bemühung vieler tätigen Menschen, nicht vom Flecke zu rücken scheint, so lässt sich bemerken, dass die Schuld oft an einer gewissen Vorstellungsart, nach welcher die Gegenstände herkömmlich betrachtet werden, an einer einmal angenommenen Terminologie liege, welchen der grosse Haufe sich ohne weitere Bedingung unterwirft und nachfolgt und welchen denkende Menschen selbst sich nur einzeln und nur in einzelnen Fällen schüchtern entziehen.

Von dieser allgemeinen Betrachtung gehe ich gleich zu dem Gegenstande über, welchen wir hier behandeln, und um sogleich so deutlich als möglich zu sein und mich von meinem Zwecke nicht zu entfernen: die Vorstellungsart, dass ein lebendiges Wesen zu gewissen Zwecken nach aussen hervorgebracht und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determiniert werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der natürlichen Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten, und hält uns noch auf, obgleich einzelne Männer diese Vorstellungsart eifrig bestritten, die Hindernisse, welche sie in den Weg legt, gezeigt haben.

Es kann diese Vorstellungsart, für sich fromm, für gewisse Gemüter angenehm, für gewisse Vorstellungsarten unentbehrlich sein und ich finde es weder rätlich noch möglich, sie im ganzen zu bestreiten. Es ist, wenn man sich so ausdrücken darf, eine triviale Vorstellungsart, die eben deswegen, wie alle trivialen Dinge, trivial ist, weil sie der menschlichen Natur im ganzen bequem und zureichend ist.

Der Mensch ist gewohnt, die Dinge nur in dem Masse zu schätzen, als sie ihm nützlich sind, und da er, seiner Natur und seiner Lage nach, sich für das Letzte der Schöpfung halten muss: warum sollte er auch nicht denken, dass er ihr letzter Endzweck sei. Warum soll sich seine Eitelkeit nicht den kleinen Trugschluss erlauben? Weil er die Sachen braucht und brauchen kann, so folgert er daraus: sie seien hervorgebracht, dass er sie brauche. Warum soll er nicht die Widersprüche, die er findet, lieber auf eine abenteuerliche Weise heben, als von den Forderungen, in denen er sich einmal befindet, nachlassen? Warum sollte er ein Kraut, das er nicht nutzen kann, nicht Unkraut nennen, da es wirklich nicht an dieser Stelle für ihn existieren sollte? Eher wird er die Entstehung der Distel, die ihm die Arbeit auf seinem Acker sauer macht, dem Fluch eines erzürnten guten Wesens, der Tücke eines schadenfrohen bösen Wesens zuschreiben, als eben diese Distel für ein Kind der grossen allgemeinen Natur zu halten, das ihr ebenso nahe am Herzen liegt als der sorgfältig gebaute und so sehr geschätzte Weizen. ja, es lässt sich bemerken, dass die billigsten Menschen, die sich am meisten zu ergeben glauben, wenigstens nur bis dahin gelangen, als wenn doch alles wenigstens mittelbar auf den Menschen, rückfliessen müsse, wenn nicht noch etwa eine Kraft dieses oder jenes Naturwesens entdeckt würde, wodurch es ihm als Arznei oder auf irgendeine Weise nützlich würde. Da er nun ferner an sich und an andern mit Recht diejenigen Handlungen und Wirkungen am meisten schätzt, welche absichtlich und zweckmässig sind, so folgt daraus, dass er der Natur, von der er unmöglich einen grössern Begriff als von sich selbst haben kann, auch Absichten und Zwecke zuschreiben wird. Glaubt er ferner, dass alles, was existiert, um seinetwillen existiere, alles nur als Werkzeug; als Hilfsmittel seines Daseins existiere, so folgt, wie natürlich, daraus, dass die Natur auch ebenso absichtlich und zweckmässig verfahren habe, ihm Werkzeuge zu verschaffen, wie er sie sich selbst verschafft. So wird der Jäger, der sich eine Büchse bestellt, um das Wild zu erlegen, die mütterliche Vorsorge der Natur nicht genug preisen, dass sie von Anfang her den Hund dazu gebildet, dass er das Wild durch ihn einholen könne. Es kommen noch mehr Ursachen dazu, warum es überhaupt den Menschen unmöglich ist, diese Vorstellungsart fahren zu lassen. Wie sehr aber ein Naturforscher, der über die allgemeinen Dinge weiter denken will, Ursache habe, sich von dieser Vorstellungsart zu entfernen, können wir an dein blossen Beispiel der Botanik sehen. Der Botanik als Wissenschaft sind die buntesten und gefülltesten Blumen, die essbarsten und schönsten Früchte nicht mehr, ja im gewissen Sinne nicht einmal so viel wert, als ein verachtetes Unkraut im natürlichen Zustande, als eine trockne unbrauchbare Samenkapsel.

Ein Naturforscher also wird sich nun einmal schon über diesen trivialen Begriff erheben müssen, ja, wenn er auch als Mensch jene Vorstellungsart nicht los werden könnte, wenigstens insofern er ein Naturforscher ist, sie so viel als möglich von sich entfernen.

Diese Betrachtung, welche den Naturforscher im allgemeinen angeht, trifft uns auch hier nur im allgemeinen. Eine andere aber, die jedoch unmittelbar aus der vorigen fliesst, geht uns schon näher an. Der Mensch, indem er alle Dinge auf sich bezieht, wird dadurch genötigt, allen Dingen eine innere Bestimmung nach aussen zu geben; und es wird ihm dieses um so bequemer, da ein jedes Ding, das leben soll, ohne eine vollkommene Organisation gar nicht gedacht werden kann. Indem nun diese vollkommene Organisation nach innen zu höchst rein bestimmt und bedingt ist, so muss sie auch nach aussen ebenso reine Verhältnisse finden, da sie auch von aussen nur unter gewissen Bedingungen und in gewissen Verhältnissen existieren kann. So sehen wir auf der Erde, in dem Wasser, in der Luft die mannigfaltigsten Gestalten der Tiere sich bewegen, und nach dem gemeinsten Begriff sind diesen Geschöpfen die Organe angeschaffen, damit sie die verschiedenen Bewegungen hervorbringen und die verschiedenen Existenzen erhalten können. Wird uns aber nicht schon die Urkraft der Natur, die Weisheit eines denkenden Wesens, welches wir derselben unterzulegen pflegen, respektabler, wenn wir selbst ihre Kraft bedingt annehmen und einsehen lernen, dass sie ebensogut von aussen als nach aussen, von innen als nach innen bildet? Der Fisch ist für das Wasser da, scheint mir viel weniger zu sagen als. der Fisch ist in dem Wasser und durch das Wasser da; denn dieses letzte drückt viel deutlicher aus, was in dem erstern nur dunkel verborgen liegt, nämlich die Existenz eines Geschöpfes, das wir Fisch nennen, sei nur unter der Bedingung eines Elementes, das wir Wasser nennen, möglich, nicht allein, um darin zu sein, sondern auch um darin zu werden. Eben dieses gilt von allen übrigen Geschöpfen. Dieses wäre also die erste und allgemeinste Betrachtung von innen nach aussen und von aussen nach innen. Die entschiedene Gestalt ist gleichsam der innere Kern, welcher durch die Determination des äussern Elementes sich verschieden bildet. Eben dadurch erhält ein Tier seine Zweckmässigkeit nach aussen, weil es von aussen so gut als von innen gebildet worden; und was noch mehr, aber natürlich ist, weil das äussere Element die äussere Gestalt eher nach sich, als die innere umbilden kann. Wir können dieses am besten bei den Robbenarten sehen, deren Äusseres so viel von der Fischgestalt annimmt, wenn ihr Skelett uns noch das vollkommene vierfüssige Tier darstellt.

Wir treten also weder der Urkraft der Natur, noch der Weisheit und Macht eines Schöpfers zu nahe, wenn wir annehmen, dass jene mittelbar zu Werke gehe, dieser mittelbar im Anfang der Dinge zu Werke gegangen sei. Ist es nicht dieser grossen Kraft anständig, dass sie das Einfache einfach, das Zusammengesetzte zusammengesetzt hervorbringe? Treten wir ihrer Macht zu nahe, wenn wir behaupten: sie habe ohne Wasser keine Fische, ohne Luft keine Vögel, ohne Erde keine übrigen Tiere hervorbringen können, so wenig als sich die Geschöpfe ohne die Bedingung dieser Elemente existierend denken lassen? Gibt es nicht einen schöneren Blick in den geheimnisreichen Bau der Bildung, welche, wie nun immer mehr allgemein anerkannt wird, nach einem einzigen Muster gebaut ist, wenn wir, nachdem wir das einzige Muster immer genauer erforscht und erkannt haben, nunmehr fragen und untersuchen: was wirkt ein allgemeines Element unter seinen verschiedenen Bestimmungen auf eben diese allgemeine Gestalt? Was wirkt die determinierte und determinierende Gestalt diesen Elementen entgegen? Was entsteht durch diese Wirkung für eine Gestalt der festen, der weicheren, der innersten und der äussersten Teile? Was, wie gesagt, die Elemente in allen ihren Modifikationen durch Höhe und Tiefe, durch Weltgegenden und Zonen hervorbringen.

Wie vieles ist hier schon vorgearbeitet? Wie vieles braucht nur ergriffen und angewandt zu werden, ganz allein auf diesen Wegen?

Und wie würdig ist es der Natur, dass sie sich immer derselben Mittel bedienen muss, um ein Geschöpf hervorzubringen und zu ernähren! So wird man auf eben diesen Wegen fortschreiten und, wie man nur erst die unorganisierten, undeterminierten Elemente als Vehikel der unorganisierten Wesen angesehen, so wird man sich nunmehr in der Betrachtung erheben und wird die organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen Elementen ansehen. Das ganze Pflanzenreich zum Exempel wird uns wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches ebensogut zur bedingten Existenz der Insekten nötig ist als das Weltmeer und die Flüsse zur bedingten Existenz der Fische, und wir werden sehen, dass eine ungeheure Anzahl lebender Geschöpfe in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt werde, ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder nur als ein grosses Element ansehen, wo ein Geschlecht auf dem andern und durch das andere, wo nicht entsteht, doch sich erhält. Wir werden uns gewöhnen, Verhältnisse und Beziehungen nicht als Bestimmungen und Zwecke anzusehen, und dadurch ganz allein in der Kenntnis, wie sich die bildende Natur von allen Seiten und nach allen Seiten äussert, weiterkommen. Und man wird sich durch die Erfahrung überzeugen, wie es bisher der Fortschritt der Wissenschaft bewiesen hat, dass der reellste und ausgebreitetste Nutzen für die Menschen nur das Resultat grosser und uneigennütziger Bemühungen sei, welche weder taglöhnermässig ihren Lohn am Ende der Woche fordern dürfen, aber auch dagegen ein nützliches Resultat für die Menschheit weder am Ende eines Jahres, noch Jahrzehnts, noch Jahrhunderts vorzulegen brauchen.