Industriegesellschaft und Dienstleistungsgesellschaft: Unterschied zwischen den Seiten

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Die '''Industriegesellschaft''' ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad der [[Industrialisierung]] und den damit verbundenen [[Produktion]]s­weisen und [[Sozialstruktur|sozialen Strukturen]]. Die jeweilige [[Wirtschaftsordnung]] bleibt bei dieser Begriffsdefinition unberücksichtigt. Industriegesellschaften entstanden in der Folge eines Prozesses, der als [[Industrielle Revolution]] bezeichnet wird. Aus Sicht der Ethnologie werden sie als sogenannte [[Kalte und heiße Kulturen oder Optionen|„heiße“ Kulturen]] betrachtet, bei denen Fortschritt und Entwicklung das entscheidende Leitbild der zugrundeliegenden [[Weltanschauung]]en sind.
Der Begriff '''Dienstleistungsgesellschaft''' zielt auf den gesellschaftlichen [[Struktur (Soziologie)|Strukturwandel]] ab, der sich beginnend in den 1970er Jahren auf unterschiedliche Weise in allen westlichen [[Industriestaat]]en vollzogen hat. Tatsächlich handelt es sich um einen [[Euphemismus]] für den Abbau von Infrastrukturen in der [[Montanindustrie]], weniger um eine allgemeine [[De-Industrialisierung]]. In der Summe ist der [[Veränderung|Wandel]] mit einem erheblichen Rückgang der [[Numeral|Zahl]] der [[Arbeitsplatz|Arbeitsplätze]] verbunden.


== Merkmale ==
Zunächst verlagerten sich in der [[Grundstoff]]­industrie viele [[Produktion]]s­mengen in Länder mit günstigeren [[Bergbau|Gewinnungs]]­methoden für [[Kohle]] und [[Erze]] sowie [[Mineralöl]] und [[Erdgas]]. Dann verblieben in der verarbeitenden [[Industrie]] aufgrund von [[Automatisierung]] und [[Produktivitätssteigerung]] immer weniger Arbeitsplätze und gleichzeitig konnte die [[Nachfrage]] nach Industrieprodukten immer kostengünstiger durch [[Logistik|Transport]] von neuen [[Hersteller]]n zu den [[Verbraucher]]n befriedigt werden, so dass der [[Dienstleistungssektor]] (im Sinne der [[Drei-Sektoren-Hypothese]] von [[Jean Fourastié]]) einerseits immer mehr Arbeitskräfte und andererseits immer mehr Kaufkraft an sich binden konnte.
Wesentliche Merkmale der Industrie[[Gesellschaft (Soziologie)|gesellschaft]] sind die [[Produktion]] in [[Fabrik]]en und ein hoher Grad der [[Arbeitsteilung]]. Meist ist dies mit einer zunehmenden räumlichen Trennung von Arbeits- und Wohnstätten verbunden. Charakteristisch für die Industriegesellschaft sind ferner der Trend zur [[Verstädterung]], eine Zunahme der [[Bürokratie|Bürokratisierung]], die Erhöhung des materiellen [[Lebensstandard]]s, [[Umweltverschmutzung|Umweltprobleme]] sowie eine Konzentration des Produktiv[[kapital]]s.


== Industriegesellschaft als Zwischenstufe ==
[[Datei:Sektoral Beschäftigung EU 1960 1994.gif|mini|391px|Sektorale Verteilung der Beschäftigten in der EG / EU in % der Gesamtbeschäftigten]]Der Prozess der Umwandlung einer [[Industriegesellschaft]] hin zur Dienstleistungsgesellschaft wird als ''Tertiarisierung'' bezeichnet.
Die Industriegesellschaft wird als Stufe zwischen der [[Agrargesellschaft]] und der [[Dienstleistungsgesellschaft]] betrachtet; dies geht zurück auf eine Interpretation der [[Drei-Sektoren-Theorie]] von [[Jean Fourastié|Fourastié]] und anderen.


In hochindustrialisierten, markt[[wirtschaft]]lich orientierten [[Volkswirtschaft]]en ist heute der Anteil des Dienstleistungsbereichs an der [[Wertschöpfung (Wirtschaft)|Wertschöpfung]] größer als der des sekundären Sektors. Dort ist vielfach auch ein Prozess der [[Deindustrialisierung]] zu beobachten. [[Industrie]]n südostasiatischer [[Billiglohnland|Billiglohnländer]] verdrängten die konkurrierenden Industrien aus Industrieländern von vielen Märkten (z. B. [[Textilindustrie]] bzw. [[Textil- und Bekleidungsindustrie]] - siehe auch [[Textilindustrie in Bangladesch]]). Zunächst dominierte Japan, dann folgten die [[Tigerstaaten]] (Südkorea, Taiwan und Singapur sowie Hongkong) und die [[Volksrepublik China]]. Inzwischen wandern schon Industrien von China in noch billigere Länder wie [[Vietnam]] und [[Kambodscha]] ab.
Neben den veränderten materiellen Grundlagen wird mit Dienstleistungsgesellschaft auch eine Veränderung gesellschaftlicher Werte und  Normen verbunden.
 
== Ursachen der Tertiarisierung ==
Eine Reihe von Hypothesen versuchen das Phänomen der Tertiarisierung zu begründen. Hierzu zählen u. a. die [[Auslagerungsthese]] und die [[Interaktionsthese]]. Tatsächlich verwandelt sich die Struktur der Nachfrage in der Gesellschaft nicht, sondern durch [[Prekariat|Prekarisierung]] nimmt der Anteil der Personen mit geringem [[Einkommen]] zu und die frühere [[Vollbeschäftigung]] endet.
 
Durch die [[Produktivitätssteigerung]] in den ersten beiden Sektoren wurden Arbeitskräfte frei und der Dienstleistungsbereich diente als „Auffangbecken“ für die [[Personalfreisetzung|freigesetzten]] Arbeitskräfte. Zudem trennen sich im Rahmen des [[Outsourcing]] Unternehmen von Aktivitäten, die nicht zu den [[Kernkompetenz]]en gehören und kaufen diese Leistungen bei spezialisierten Anbietern für [[unternehmensbezogene Dienstleistungen]] ein. Beispiele: [[Instandhaltung]], EDV, [[Wachdienst]].
 
Es existiert eine beachtliche private, kaufkräftige Nachfrage nach [[Dienstleistung]]en, unter Umständen verstärkt durch die Veränderungen in den Lebensbedingungen (sinkende Arbeitszeit führt zu Nachfrage nach Freizeitangeboten) und in der Bevölkerungsstruktur.
 
Zusätzlich gibt es bei konstantem Bedarf im Bereich der Planung und Durchführung der Güterproduktion einen erhöhten Bedarf an Dienstleistungen bei der [[Lagerei|Lagerung]] und [[Logistik|Verteilung]] der Güter innerhalb des produzierenden Gewerbes und zu den Verbrauchern. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer ''industriellen Dienstleistungsgesellschaft'' in den Industriestaaten.
 
Eine Folge ist die wachsende Komplexität sozialer und ökonomischer Systeme. Voraussetzung für die Anpassung ist die allgemeine Verbreitung moderner [[Informationstechnik]] und schnellerer [[Kommunikation]]s­pfade. Dabei steigt der Bedarf an Vermittlung und Steuerung, hingegen kommt die Systematik der Regelung und die erforderliche [[Kapital]]isierung nicht in gleichem Maße nach. Insgesamt führt die Entwicklung also zu weiter verstärkter Arbeitsteilung. Zugleich kommt es zu vermehrter Bürokratisierung der Gesellschaft. Daneben nehmen die Ausfälle durch [[Insolvenz]]en und durch Nachfrageschwankungen zu. Die [[Requirement|Anforderungen]] an flexiblere Methoden der [[Management|Betriebsführung]] und die [[Organisation]]s­formen entwickeln sich nur langsam weiter.
 
== Entwicklung in Deutschland ==
Legt man die Beschäftigungsverhältnisse in den jeweiligen Wirtschaftssektoren oder den Anteil der Sektoren am BSP ([[Bruttonationaleinkommen|Bruttosozialprodukt]]) als Maß an, lässt sich daraus schließen, dass Deutschland bis Ende des 19. Jahrhunderts eine [[Agrargesellschaft]] und bis in die 70er des 20. Jahrhunderts eine [[Industriegesellschaft]] war. In dieser Lesart überholte dann der expansive tertiäre Sektor in den 1970ern den sekundären Sektor und man kann seitdem in der [[Bundesrepublik Deutschland]] von einer Dienstleistungsgesellschaft sprechen.
 
Interpretiert man die klassische Drei-Sektoren-Theorie von der Nachfrageseite her und betrachtet man dahingehend den Konsum klassischer personenbezogener Dienstleistungen (tertiärer Produkte) wie z.&nbsp;B. Frisör-, Konzert- oder Restaurant/Cafébesuche bzw. die Inanspruchnahme von Reinigungs- oder Renovierungsservice, kann man jedoch zu anderen Schlüssen kommen. Wie Jonathan Gershuny für Großbritannien und Boris Loheide für Deutschland nachgewiesen haben, ist dieser Konsum zumindest in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren widererwartend nicht nennenswert gestiegen. Stattdessen kauften die Menschen zunehmend Produkte des sekundären Sektors, mit denen solche Dienstleistungen ersetzt werden bzw. man sie sich selbst erbringen kann, wie z.&nbsp;B. Waschvollautomat, Home-Cinema oder Espressomaschinen. Gleichzeitig wälzen viele Unternehmen Serviceleistungen auf den Verbraucher ab, indem sie ihn sich sein Essen bzw. Kaffee selber am Tresen abholen (Systemgastronomie), sein Geld selber ziehen (Geldautomat) oder seine Möbel selber zusammenbauen (IKEA) lassen. Demzufolge leben wir weniger in einer Dienstleistungs- als in einer [[Selbstbedienungsgesellschaft]].<ref>Boris Loheide: ''Wer bedient hier wen? - Service oder Selfservice - Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft.'' Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008.</ref>
 
Die [[Deutsche Demokratische Republik|DDR]] hatte zum Zeitpunkt des [[Mauerfall]]es (1989) die gleiche sozioökonomische Struktur wie die Bundesrepublik Deutschland um 1965. Die Ursachen dafür liegen in der niedrigen [[Produktivität]] und der Vernachlässigung des Dienstleistungssektors durch die [[sozialistische Wirtschaftsplanung]]. Es waren zu viele Menschen in den ersten beiden Sektoren beschäftigt. Der Einsatz und Arbeitsumfang von Dienstleistungen ist schwer im Voraus planbar. Nach der [[Deutsche Wiedervereinigung|Wiedervereinigung]] haben die neuen Bundesländer sich schnell zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt.
 
== Folgen der Tertiarisierung ==
''Arbeitsmarkt insgesamt'': Die Berufe mit den höchsten Beschäftigungszuwächsen sind etwa: Bürokräfte, Pflegeberufe und Datenverarbeitungsfachleute. Die Anforderungen an die Arbeitnehmer steigen vor allem im Bereich der fachlichen und inhaltlichen Qualifikation und der sozialen Kompetenzen (zum Beispiel Teamfähigkeit und Eigenständigkeit).
 
Die über Jahrhunderte bedeutende Schicht der ''Bauern'' verlor immer mehr an Bedeutung. Heute sind sie in der EU mit weniger als 1 Prozent Anteil an allen Erwerbstätigen eine zu vernachlässigende Größe. Die Bauern verfügen über erhebliche Vermögenswerte, aber ihre finanzielle Situation ist häufig sehr angespannt. Bei einer durchschnittlichen [[Wochenarbeitszeit]] von 59 Stunden ist das durchschnittliche Nettohaushaltseinkommen pro Kopf sogar niedriger als das eines Arbeiters.
 
Seit der [[Industrielle Revolution|industriellen Revolution]] im 18. Jhd. war die ''Arbeiterschaft'' eine dominierende Schicht, bis sie Ende der 1970er Jahre von den Beamten und Angestellten abgelöst wurden. Im Zuge des [[Wirtschaftswunder]]s ist die zahlenmäßig schrumpfende Arbeiterschaft sozial aufgestiegen. Sie erreichte einen höheren [[Lebensstandard]] und eine bessere soziale Absicherung, doch ihre schwere physische Belastung blieb.
 
Kinder aus Arbeiterfamilien haben immer noch schlechtere Bildungschancen und das Arbeitermilieu bleibt unter sich. Menschen, die der Arbeiterschaft angehören, haben im Allgemeinen ein niedrigeres soziales Ansehen. Die Gefahr, arbeitslos zu werden, ist für Menschen aus dieser Gesellschaftsschicht höher.
 
''Angestellte und Beamte'': Heute ist die größte Gruppe in der Mitte der Gesellschaft die der Angestellten. Diese gesellschaftliche Schicht tritt erstmals um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Erscheinung. Bis heute ist ihr Anteil an den Erwerbstätigen bis auf 50 Prozent gestiegen.
 
Man kann ihre Tätigkeiten in drei klassische Bereiche gliedern: Kaufmännische Tätigkeiten, technische Tätigkeiten und Büro- und Verwaltungstätigkeiten. Viele Angestellte finden sich aber auch in den Berufsfeldern Verkehr, Kommunikation und Information. Die meisten Angestellten finden sich im tertiären Sektor. Seit der Tertiarisierung des sekundären Sektors gibt es außerdem eine zunehmende Zahl von Angestellten in der Industrie.
 
Die typischen Berufe der Dienstleistungsgesellschaft gelten als rationalisierungsresistent, da oft die [[Wikipedia:Arbeitsqualität|Qualität]] der Arbeit von ihrer Quantität abhängt.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Industriegesellschaft}}
* {{WikipediaDE|Dienstleistungsgesellschaft}}
 
== Literatur ==
* Martin Baethge, Ingrid Wilkens: ''Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert. Perspektiven und Strategien für die Entwicklung der Dienstleistungsbeschäftigung.'' Leske + Budrich, Opladen 2001, ISBN 3-8100-2570-4.
* Daniel Bell: ''Die nachindustrielle Gesellschaft.'' Campus, Frankfurt 1985, ISBN 3-593-33555-7.
* Christiane Bender, Hans Graßl: ''Arbeiten und Leben in der Dienstleistungsgesellschaft.'' UVK, Konstanz 2004, ISBN 3-89669-723-4.
* Jean Fourastié: ''Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts.'' Bund, Köln 1954, {{DNB|451328272}}.
* Alan Gartner, Frank Riessmann: ''Der aktive Konsument in der Dienstleistungsgesellschaft. Zur politischen Ökonomie des tertiären Sektors.'' Suhrkamp, Frankfurt 1978, ISBN 3-518-07204-8.
* Jonathan Gershuny: ''Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft. Produktion und Verbrauch von Dienstleistungen.'' Campus, Frankfurt 1981, ISBN 3-593-32847-X.
* Boris Loheide: ''Wer bedient hier wen? - Service oder Selfservice - Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft.'' Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-8364-5628-9.
* Hartmut Häußermann, Walter Siebel: ''Dienstleistungsgesellschaften.'' Suhrkamp, Frankfurt 1995, ISBN 3-518-11964-8. (Auszug: siehe Weblinks)


== Weblinks ==
== Weblinks ==
* {{HLS|25614|Industriegesellschaft|Autor= François Höpflinger}}
* Michael Burda: [http://doku.iab.de/mittab/1997/1997_4_mittab_burda.pdf ''Eine wichtige Säule des amerikanischen Beschäftigungserfolgs: der Dienstleistungssektor.''] Analyse des IAB. (PDF-Datei; 30 kB)
 
== Einzelnachweise ==
<references />
 
[[Kategorie:Gesellschaft]]
[[Kategorie:Wirtschaftswissenschaft]]
[[Kategorie:Wirtschaftsordnung]]


[[Kategorie:Industriegesellschaft|!]]
{{Wikipedia}}
{{Wikipedia}}

Version vom 27. September 2017, 07:31 Uhr

Der Begriff Dienstleistungsgesellschaft zielt auf den gesellschaftlichen Strukturwandel ab, der sich beginnend in den 1970er Jahren auf unterschiedliche Weise in allen westlichen Industriestaaten vollzogen hat. Tatsächlich handelt es sich um einen Euphemismus für den Abbau von Infrastrukturen in der Montanindustrie, weniger um eine allgemeine De-Industrialisierung. In der Summe ist der Wandel mit einem erheblichen Rückgang der Zahl der Arbeitsplätze verbunden.

Zunächst verlagerten sich in der Grundstoff­industrie viele Produktions­mengen in Länder mit günstigeren Gewinnungs­methoden für Kohle und Erze sowie Mineralöl und Erdgas. Dann verblieben in der verarbeitenden Industrie aufgrund von Automatisierung und Produktivitätssteigerung immer weniger Arbeitsplätze und gleichzeitig konnte die Nachfrage nach Industrieprodukten immer kostengünstiger durch Transport von neuen Herstellern zu den Verbrauchern befriedigt werden, so dass der Dienstleistungssektor (im Sinne der Drei-Sektoren-Hypothese von Jean Fourastié) einerseits immer mehr Arbeitskräfte und andererseits immer mehr Kaufkraft an sich binden konnte.

Sektorale Verteilung der Beschäftigten in der EG / EU in % der Gesamtbeschäftigten

Der Prozess der Umwandlung einer Industriegesellschaft hin zur Dienstleistungsgesellschaft wird als Tertiarisierung bezeichnet.

Neben den veränderten materiellen Grundlagen wird mit Dienstleistungsgesellschaft auch eine Veränderung gesellschaftlicher Werte und Normen verbunden.

Ursachen der Tertiarisierung

Eine Reihe von Hypothesen versuchen das Phänomen der Tertiarisierung zu begründen. Hierzu zählen u. a. die Auslagerungsthese und die Interaktionsthese. Tatsächlich verwandelt sich die Struktur der Nachfrage in der Gesellschaft nicht, sondern durch Prekarisierung nimmt der Anteil der Personen mit geringem Einkommen zu und die frühere Vollbeschäftigung endet.

Durch die Produktivitätssteigerung in den ersten beiden Sektoren wurden Arbeitskräfte frei und der Dienstleistungsbereich diente als „Auffangbecken“ für die freigesetzten Arbeitskräfte. Zudem trennen sich im Rahmen des Outsourcing Unternehmen von Aktivitäten, die nicht zu den Kernkompetenzen gehören und kaufen diese Leistungen bei spezialisierten Anbietern für unternehmensbezogene Dienstleistungen ein. Beispiele: Instandhaltung, EDV, Wachdienst.

Es existiert eine beachtliche private, kaufkräftige Nachfrage nach Dienstleistungen, unter Umständen verstärkt durch die Veränderungen in den Lebensbedingungen (sinkende Arbeitszeit führt zu Nachfrage nach Freizeitangeboten) und in der Bevölkerungsstruktur.

Zusätzlich gibt es bei konstantem Bedarf im Bereich der Planung und Durchführung der Güterproduktion einen erhöhten Bedarf an Dienstleistungen bei der Lagerung und Verteilung der Güter innerhalb des produzierenden Gewerbes und zu den Verbrauchern. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer industriellen Dienstleistungsgesellschaft in den Industriestaaten.

Eine Folge ist die wachsende Komplexität sozialer und ökonomischer Systeme. Voraussetzung für die Anpassung ist die allgemeine Verbreitung moderner Informationstechnik und schnellerer Kommunikations­pfade. Dabei steigt der Bedarf an Vermittlung und Steuerung, hingegen kommt die Systematik der Regelung und die erforderliche Kapitalisierung nicht in gleichem Maße nach. Insgesamt führt die Entwicklung also zu weiter verstärkter Arbeitsteilung. Zugleich kommt es zu vermehrter Bürokratisierung der Gesellschaft. Daneben nehmen die Ausfälle durch Insolvenzen und durch Nachfrageschwankungen zu. Die Anforderungen an flexiblere Methoden der Betriebsführung und die Organisations­formen entwickeln sich nur langsam weiter.

Entwicklung in Deutschland

Legt man die Beschäftigungsverhältnisse in den jeweiligen Wirtschaftssektoren oder den Anteil der Sektoren am BSP (Bruttosozialprodukt) als Maß an, lässt sich daraus schließen, dass Deutschland bis Ende des 19. Jahrhunderts eine Agrargesellschaft und bis in die 70er des 20. Jahrhunderts eine Industriegesellschaft war. In dieser Lesart überholte dann der expansive tertiäre Sektor in den 1970ern den sekundären Sektor und man kann seitdem in der Bundesrepublik Deutschland von einer Dienstleistungsgesellschaft sprechen.

Interpretiert man die klassische Drei-Sektoren-Theorie von der Nachfrageseite her und betrachtet man dahingehend den Konsum klassischer personenbezogener Dienstleistungen (tertiärer Produkte) wie z. B. Frisör-, Konzert- oder Restaurant/Cafébesuche bzw. die Inanspruchnahme von Reinigungs- oder Renovierungsservice, kann man jedoch zu anderen Schlüssen kommen. Wie Jonathan Gershuny für Großbritannien und Boris Loheide für Deutschland nachgewiesen haben, ist dieser Konsum zumindest in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren widererwartend nicht nennenswert gestiegen. Stattdessen kauften die Menschen zunehmend Produkte des sekundären Sektors, mit denen solche Dienstleistungen ersetzt werden bzw. man sie sich selbst erbringen kann, wie z. B. Waschvollautomat, Home-Cinema oder Espressomaschinen. Gleichzeitig wälzen viele Unternehmen Serviceleistungen auf den Verbraucher ab, indem sie ihn sich sein Essen bzw. Kaffee selber am Tresen abholen (Systemgastronomie), sein Geld selber ziehen (Geldautomat) oder seine Möbel selber zusammenbauen (IKEA) lassen. Demzufolge leben wir weniger in einer Dienstleistungs- als in einer Selbstbedienungsgesellschaft.[1]

Die DDR hatte zum Zeitpunkt des Mauerfalles (1989) die gleiche sozioökonomische Struktur wie die Bundesrepublik Deutschland um 1965. Die Ursachen dafür liegen in der niedrigen Produktivität und der Vernachlässigung des Dienstleistungssektors durch die sozialistische Wirtschaftsplanung. Es waren zu viele Menschen in den ersten beiden Sektoren beschäftigt. Der Einsatz und Arbeitsumfang von Dienstleistungen ist schwer im Voraus planbar. Nach der Wiedervereinigung haben die neuen Bundesländer sich schnell zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt.

Folgen der Tertiarisierung

Arbeitsmarkt insgesamt: Die Berufe mit den höchsten Beschäftigungszuwächsen sind etwa: Bürokräfte, Pflegeberufe und Datenverarbeitungsfachleute. Die Anforderungen an die Arbeitnehmer steigen vor allem im Bereich der fachlichen und inhaltlichen Qualifikation und der sozialen Kompetenzen (zum Beispiel Teamfähigkeit und Eigenständigkeit).

Die über Jahrhunderte bedeutende Schicht der Bauern verlor immer mehr an Bedeutung. Heute sind sie in der EU mit weniger als 1 Prozent Anteil an allen Erwerbstätigen eine zu vernachlässigende Größe. Die Bauern verfügen über erhebliche Vermögenswerte, aber ihre finanzielle Situation ist häufig sehr angespannt. Bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 59 Stunden ist das durchschnittliche Nettohaushaltseinkommen pro Kopf sogar niedriger als das eines Arbeiters.

Seit der industriellen Revolution im 18. Jhd. war die Arbeiterschaft eine dominierende Schicht, bis sie Ende der 1970er Jahre von den Beamten und Angestellten abgelöst wurden. Im Zuge des Wirtschaftswunders ist die zahlenmäßig schrumpfende Arbeiterschaft sozial aufgestiegen. Sie erreichte einen höheren Lebensstandard und eine bessere soziale Absicherung, doch ihre schwere physische Belastung blieb.

Kinder aus Arbeiterfamilien haben immer noch schlechtere Bildungschancen und das Arbeitermilieu bleibt unter sich. Menschen, die der Arbeiterschaft angehören, haben im Allgemeinen ein niedrigeres soziales Ansehen. Die Gefahr, arbeitslos zu werden, ist für Menschen aus dieser Gesellschaftsschicht höher.

Angestellte und Beamte: Heute ist die größte Gruppe in der Mitte der Gesellschaft die der Angestellten. Diese gesellschaftliche Schicht tritt erstmals um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Erscheinung. Bis heute ist ihr Anteil an den Erwerbstätigen bis auf 50 Prozent gestiegen.

Man kann ihre Tätigkeiten in drei klassische Bereiche gliedern: Kaufmännische Tätigkeiten, technische Tätigkeiten und Büro- und Verwaltungstätigkeiten. Viele Angestellte finden sich aber auch in den Berufsfeldern Verkehr, Kommunikation und Information. Die meisten Angestellten finden sich im tertiären Sektor. Seit der Tertiarisierung des sekundären Sektors gibt es außerdem eine zunehmende Zahl von Angestellten in der Industrie.

Die typischen Berufe der Dienstleistungsgesellschaft gelten als rationalisierungsresistent, da oft die Qualität der Arbeit von ihrer Quantität abhängt.

Siehe auch

Literatur

  • Martin Baethge, Ingrid Wilkens: Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert. Perspektiven und Strategien für die Entwicklung der Dienstleistungsbeschäftigung. Leske + Budrich, Opladen 2001, ISBN 3-8100-2570-4.
  • Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft. Campus, Frankfurt 1985, ISBN 3-593-33555-7.
  • Christiane Bender, Hans Graßl: Arbeiten und Leben in der Dienstleistungsgesellschaft. UVK, Konstanz 2004, ISBN 3-89669-723-4.
  • Jean Fourastié: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts. Bund, Köln 1954, DNB 451328272.
  • Alan Gartner, Frank Riessmann: Der aktive Konsument in der Dienstleistungsgesellschaft. Zur politischen Ökonomie des tertiären Sektors. Suhrkamp, Frankfurt 1978, ISBN 3-518-07204-8.
  • Jonathan Gershuny: Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft. Produktion und Verbrauch von Dienstleistungen. Campus, Frankfurt 1981, ISBN 3-593-32847-X.
  • Boris Loheide: Wer bedient hier wen? - Service oder Selfservice - Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft. Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-8364-5628-9.
  • Hartmut Häußermann, Walter Siebel: Dienstleistungsgesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt 1995, ISBN 3-518-11964-8. (Auszug: siehe Weblinks)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Boris Loheide: Wer bedient hier wen? - Service oder Selfservice - Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft. Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008.


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