Salafismus

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Der Ausdruck Salafiyya (umgangssprachlich vereinfachend auch Salafismus) von arab. السلفية as-salafiyya) bezeichnet die Rückbesinnung auf die „Altvorderen“ (arab. Salaf ‚Vorfahren‘). Der Ausdruck wird auch verwendet, um bestimmte Strömungen des sunnitischen Islams zu bezeichnen, die sich ihrem Selbstverständnis nach an der Zeit der „Altvorderen“ orientieren. Unter den zeitgenössischen Strömungen zählt dazu einerseits die Schülerschaft Muhammad Abduhs, die eine Vereinbarkeit von Islam und Moderne vertritt, andererseits konservative Richtungen, welche sich auf Ibn Taimiya beziehen und nicht nur die Moderne, sondern auch Entwicklungen der islamischen Theologie und religiösen Praxis ablehnen wie etwa Traditionen bestimmter Rechtsschulen oder den Sufismus. Hierzu zählen die Wahhabiten; die Bezeichnung „Salafisten“ wird des Weiteren spezieller für nicht-saudische Wahhabiten gebraucht.[1]

Eine Minderheit der Salafisten folgt einer gewaltbereiten dschihadistischen Ideologie, die laut deutschem Verfassungsschutz mit einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar ist.[2][3][4] Alle islamistischen Terroristen des 11. September 2001, des schwersten Terroranschlages der Geschichte,[5] gehörten der salafistischen Strömung an.[3]

Der Begriff Salafiyya

Definition

Der Begriff "Salafiyya" setzt sich zusammen aus dem arabischen Wort für "Vorgänger, Altvordere" (salaf) und der Femininform der Nisbe-Endung (iyya), einem recht produktiven Abstrakta-bildenden Suffix, das sowohl dem deutschen /-heit/ entspricht, als auch der Bildung von /-ismen/ dient. Der Begriff Salafiyya kann damit frei als "die Orientierung an den frommen Altvorderen" wiedergegeben werden. Zu verschiedenen Zeiten haben sich Bewegungen herausgebildet, deren Verständnis des Islams sich an der Frühzeit der Religion orientiert und daher von ihren Anhängern als unverfälscht angesehen wird. Je nach Kontext waren diese radikalen Strömungen unterschiedlich geprägt und hatten unterschiedliche Forderungen. Gemeinsam ist ihnen jedoch ein Fundamentalismus im Wortsinne, da viele Jahrhunderte theologischer Entwicklung ignoriert werden, um direkt zu den Quellen Koran und Sunna zurückzugehen. Ein Anhänger der Salafiyya wird als Salafi bezeichnet, der inzwischen übliche Begriff Salafist bezieht sich meist nur auf die zeitgenössische Bewegung.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die reformistische Strömung des Modernismus’ als Salafiyya benannt und somit positiv konnotiert. Inzwischen hat der Begriff eine Bedeutungserweiterung erfahren und wird bisweilen inflationär benutzt. Er reicht bis zu den neofundamentalistischen Strömungen des Islams und bezeichnet im Alltagsgebrauch die „Rückwärtsgewandtheit“ von Muslimen, die versuchen, die Sitten und Gebräuche des 7. Jahrhunderts als erfundene Tradition in der modernen Welt zu leben. Teilweise werden auch militante Gruppierungen als salafistisch bezeichnet; die von Osama bin Laden inspirierte Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf in Algerien trägt den Begriff im Namen.

Die Salaf as-Ṣāliḥ

Die ehrwürdigen, rechtschaffenen Vorfahren (arab. as-Salaf as-Ṣāliḥ) sind die ersten drei Generationen von Muslimen. Diese standen entweder in unmittelbarem Kontakt mit dem Propheten Muhammad und waren dessen Anhänger (arab. sahaba) oder sie kannten die Nachfolger (arab. Tabi’un). Wer wiederum die tabi’in kannte, gehört zur dritten Generation, Nachfolger der Nachfolger (arab. Atba’ at-tabi’in). Dabei ist nach der Lehre entscheidend, dass die Bekanntschaft im Zustand des Glaubens stattgefunden hat und dieser Zustand bis zum Tode angehalten hat. Der letzte der Sahaba war Anas bin Malik († 710 oder 712 n. Chr.), als letzter der Salaf der dritten Generation gilt Ahmad bin Hanbal, der Begründer der hanbalitischen Rechtsschule, der 855 n. Chr. starb.[6] Sie waren an der Verbreitung des Islam und seiner Tradierung maßgeblich beteiligt.[7]

Manche zählen auch spätere Gelehrte zu den Salaf, wie etwa Ibn Taimiyya (1263- 1328) und Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703-1792), den Gründer und Wegbereiter des Wahhabismus’.

Abgrenzung zu Wahhabismus und Islamismus

Diejenigen Wahhabiten, welche den Bezug auf Muhammad bin Abd al-Wahhab in ihrer Selbstbezeichnung vermeiden möchten, bezeichnen sich ebenfalls als Salafis. Dies liegt daran, dass sie nicht als Anhänger einer Einzelperson gelten wollen, sondern für sich in Anspruch nehmen, den „ursprünglichen“ Islam zu praktizieren, da auch ihnen die Salaf als Autoritäten dienen. Mittlerweile werden Wahhabismus und Salafiyya teilweise austauschbar verwendet. Die Wahhabiten sind Teil der vormodernen Salafiyya und gehören auch zur zeitgenössischen Salafiyya; von der modernistischen Salafiyya waren sie zunächst stark unterschieden. Die salafistische Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts gilt als Vorläufer des Islamismus im Sinne einer politischen Ideologie, die einen islamischen Staat errichten möchte. Der Islamismus unterscheidet sich davon, wie bereits der Begriff nahelegt, durch die Ideologisierung, die zu der Schaffung des islamischen Systems führen soll, was bei der Salafiyya noch nicht im Blick ist. Schulze bezeichnet den Islamismus irreführenderweise auch als „Neo-Salafiyya“.[8]

Vormoderne Salafiyya

Bereits in frühen Jahrhunderten des Islams gab es Gelehrte, die der zeitgenössischen Theologie samt der gewachsenen Tradition kritisch gegenüberstanden und sich an den Fundamenten des Glaubens, Koran und Sunna, orientieren wollten. Dabei sollte idealerweise keine Regelung akzeptiert werden, die keine Grundlage in diesen Quellen hatte (Weisman, S. 275). All diese Punkte gelten auch für die moderne Salafiyya. Der prominenteste Vertreter, auf den die späteren Strömungen zurückgreifen sollten, war Ibn Taimiyya, der bis Anfang des 14. Jahrhunderts wirkte. Sowohl die Wahhabiten als auch die moderne Salafiyya sollten seine Schriften rezipieren.[9]

Der Gegenbegriff zu Salaf ist Chalaf, damit werden die nachfolgenden Generationen von Muslimen beschrieben, die über die Jahrhunderte hinweg die Tradition errichtet haben.[10] Den letzteren nachzufolgen gilt als reine Imitation (arab. Taqlid) und wird von den Salafiten zugunsten des eigenständigen Denkens verworfen. Die Chalaf werden also von den Salafiten übersprungen, sie versuchen möglichst nah an die Quelle zu gelangen. Das zugrundeliegende Koranverständnis war ein buchstäbliches.[11] Die problematische Quellenlage zum Frühislam wird dabei ignoriert.

Daher war die wichtigste Kritik, die sie gegenüber anderen Muslimen vorbrachten, der Vorwurf der verwerflichen Neuerung (arab. Bid'a), die von der ursprünglichen islamischen Praxis abweiche. Dieser Vorwurf traf zunächst die islamischen Theologen, die von griechischer Philosophie inspiriert waren (arab. Kalam). Später gerieten auch die Sufi-Orden ins Kreuzfeuer der Kritik.

Die modernistische Schule der Jahrhundertwende

Grundannahmen

Im ausgehenden 19. Jahrhundert stellte sich angesichts des Imperialismus in der islamischen Welt die Frage nach der Dominanz des Westens. In derselben Phase kamen zahlreiche westliche Missionare in die islamische Welt, deren Vorgehensweise auch die Muslime beeindruckte.[12]

Entgegen der empirischen Feststellung, dass die islamische Welt sich nun relativ im Rückstand befand, proklamierten die sog. Modernisten die Vereinbarkeit von Islam und Moderne. Bedeutende Vertreter dieser Denkrichtung waren Dschamal ad-Din al-Afghani, Muhammad Abduh, Raschid Rida, Abd al-Hamid bin Badis, al-Kawakibi und andere. Sie wollten die westliche Lebensart nicht komplett übernehmen, sondern durch den Rückgriff auf die Prinzipien des Islams die zivilisatorische Stagnation überwinden. Gesellschaftliche und technologische Reformen wurden angestrebt. Dem liegt ein Geschichtsbild zugrunde, dass der Erfolg einer Gesellschaft mit ihrer Religiosität zusammenhängt. Wenn also der Islam richtig verstanden und praktiziert würde, könnte die muslimische Welt wieder zu alter Stärke finden. Die Wurzel allen Übels liegen nach dieser Ansicht in der Uneinheitlichkeit der islamischen Gemeinschaft (Umma) und der „Verunreinigung“ des Islams durch fremde Einflüsse. Diesem Weltbild liegt eine Dekadenztheorie zugrunde; der Islam selbst wird folglich nicht als die tatsächliche religiöse Praxis seiner Anhänger verstanden, sondern als allein durch seine Ursprünge bestimmt.[13] Zentral ist hierbei die Rückbesinnung auf koranische Werte und Traditionen, die von den Gewohnheiten des Propheten, der Sunna, erklärt und ergänzt werden. Einen geringeren Stellenwert hat das Vorbild der Altvorderen, der Salaf.[14]

Der programmatische Begriff Islah (Reform) wird teilweise synonym zu Salafiyya verwendet.[6] Er bezeichnet jegliche Verbesserung der aktuellen Situation, nicht nur in Recht und Religion (Ablehnung der Praxis der Sufiorden), sondern vor allem auch in säkularen Bereichen wie Bildung, Sprache und Verwaltung.[15] Daraus resultieren widersprüchliche Einschätzungen der Salafiyya – während sie bei manchen als islamische „Reformation“ gilt, waren etwa für Elie Kedourie die beiden Protagonisten al-Afghani und Abduh überhaupt keine frommen Muslime, sondern „nur“ politische Aktivisten. Liberal gesinnte Sunniten wie auch säkulare Denker nahmen das Leitmotiv Islah auf.[16]

Verbreitung

Die Salafiyya wurde zunächst eher von Aktivisten als von Philosophen oder Theologen dominiert, entsprechend sind größere schriftliche Abhandlungen erst spät entstanden. Eine widerspruchsfreie Beschreibung der modernistischen Bewegung ist nicht möglich, da ihre eigenen Vertreter nicht nur unterschiedliche Akzente setzten, sondern ihre Standpunkte auch infolge biographisch und historisch bedingter Veränderungen modifizierten. Eine umfassende Dogmatik besteht ebenfalls nicht.[17] Auch waren die theologischen Ansichten anfangs weniger brisant als gesellschaftliche und politische Forderungen.[18] Das maßgebliche Medium der Salafiyya war anfangs die Zeitschrift „al-‘Urwa al-wuthqa“ (das festeste Band), die 1884 von Abduh und al-Afghani herausgegeben wurde, jedoch bald verboten wurde.[19] Später, ab 1898 wurde die Zeitschrift al-Manār (der Leuchtturm) zur wichtigsten Veröffentlichung der Bewegung. Sie wurde herausgegeben von Raschid Rida und diente anfangs als ein Sprachrohr von dessen Mentor Abduh. Hier erschienen etwa die Rechtsgutachten der beiden Denker sowie ein einflussreicher Korankommentar, der „Tafsir al-Manar“. Nach dem Tod Abduhs wurde auch der Tafsīr von Rida fortgeführt. Im Maghrib gab Abd al-Hamid bin Badis von 1924 an die Zeitschrift „asch-Schihab“ (der Meteor) heraus.[20] Durch die Verbreitung der Publikationen entstanden in der ganzen arabischen Welt Anhänger der Salafiyya, wobei die soziale Basis eine städtische Mittelschicht war und ihre größte Konzentration in Kairo war.[21] Auch in Damaskus wurden die Werke von Ibn Taimiyya wieder verstärkt rezipiert von einem Kreis um Dschamal ad-Din al-Qasimi und Abd ar-Razzaq al-Bitar, die eine traditionelle Ausbildung als Religionsgelehrte genossen hatten und vom Sufismus geprägt waren.[22] Weder ihre Kontakte zu den Modernisten in Ägypten noch ihr eigenständiger Idschtihad wurde von den örtlichen Religionsgelehrten gerne gesehen.[23]

Theologische Grundsätze

Theologisch stand das Konzept des Tauhid (Einheit, Einzigartigkeit Gottes) im Mittelpunkt, wie bereits bei den Wahhabiten. Das Gegenteil dessen ist Schirk, die „Beigesellung“ anderer Götter zu der Verehrung des einen Gottes oder Polytheismus, dessen Ablehnung ein wichtiger Teil des Islams ist.[24] Dies wurde manchen Sufi-Orden vorgeworfen, die sich nach Ansicht der Salafiyya durch die Anrufung von Mittlern des Schirk schuldig machten. Auch weitverbreitete Praktiken des Volksislams wie Aberglaube, Gräberkult und das Feiern von Muhammads Geburtstag, die keine Grundlage im Koran haben, prangerten die Modernisten an.

Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Rechtsschulen (arab. Madhhab) wird als Tradition bzw. Nachahmung und Spaltung der Umma abgelehnt. Stattdessen folgt man einer Art „Rechtsschule“ der Salaf, deren Konsens (arab. Idschma) für alle späteren Generationen wegweisend sein soll.[25]

Die Religionsgelehrten (arab. Ulama) galten einerseits als Regierungsmarionetten und andererseits als erstarrte Traditionalisten, die fraglos Gedankengebäude theologischer Schulen übernahmen, ohne sich selbständig um ein Verständnis des Islam zu bemühen. Die Vertreter der Salafiyya lehnten dies als blinde Nachahmung (arab. Taqlid) ab, was sie aber keineswegs daran hinderte, in ihrer Theologie auch auf althergebrachte konventionelle Argumentationsmuster zurückzugreifen.[26] Generell praktizierten sie jedoch Idschtihad, die eigenständige Rechtsfindung mithilfe der als authentisch betrachteten Quellen. Neben dem Koran ist dies die Sunna, wobei die Salafis nur einen sehr kleinen Teil der Hadithe für echt und fälschungssicher hielten, nämlich mehrfach überlieferte Hadithe. Insofern stützten sie sich fast ausschließlich auf den Koran.[27] Ihr Verständnis des Idschtihad ähnelte dem Prinzip des Analogieschlusses und durfte nur angewendet werden, wenn keine Regelung in den Quellen oder kein Konsens der Salaf vorlag.[28] Seit dem 10. Jahrhundert war der eigenständige Idschtihad zugunsten der bis dato gewachsenen Tradition aufgegeben worden. Durch die Ablehnung des Taqlid wollte die Salafiyya „das Tor des Idschtihad“ wieder öffnen.[29] Die Ausübung des Idschtihad sollte dabei auf die weltlichen Bereiche des Rechts und des Zusammenlebens beschränkt sein; in religiösen Fragen im engeren Sinne Idschtihad zu betreiben verwarf die Salafiyya als Häresie, solange sie nicht nur dazu diente, unklare Koranstellen zu verdeutlichen.[28] Insofern war auch in dieser rationalistisch erscheinenden Bewegung der Stellenwert der Vernunft keineswegs absolut, sondern sie hatte ihre Grenzen in der göttlichen Offenbarung. Der Grundannahme, dass letztere und die Vernunft jedoch prinzipiell identische Ergebnisse erzeugen, folgte auch die Übereinstimmung von Islam und moderner Naturwissenschaft. Dies sollte die These des Orientalisten Ernest Renan widerlegen, dass der Islam und wissenschaftliches Denken unvereinbar wären.[12] Im extremen Fall führte die Gegenbewegung zu der Entstehung von Korankommentaren, die übernatürliche Phänomene innerhalb des Korans mit Hilfe von moderner Technik und Naturwissenschaft zu erklären versuchten. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sämtliche fortschrittlichen Errungenschaften bereits im Koran vorgezeichnet sind. Ein Beispiel sind Geistwesen, die Dschinn, die Abduh als die kurz zuvor unter dem neu erfundenen Mikroskop entdeckten Mikroben interpretierte.[30] Auch das evolutionäre Prinzip wollte Abduh als „Gewohnheit Gottes“ in den Koran hineinlesen.[31] Eine Voraussetzung hierfür war, dass im Gegensatz zu den Salafiyya-Bewegungen anderer Epochen der Modernismus nicht literalistisch war.[32] Auf der anderen Seite verhinderten die Dogmen von der Unerschaffenheit des Korans und von seinem göttlichen Charakter weiterreichende rationalistische Interpretationen.[14] An die Stelle symbolischer Auslegung trat häufig der wortwörtliche Kommentar (Tafsīr) entsprechend der islamischen Tradition.[33] Die Gratwanderung zwischen dem Vorbild der Altvorderen und einer modernen Aufklärung war folglich von Widersprüchen geprägt.[17]

Da'wa oder Mission, wörtlich die Einladung zum Islam, stellt Abduh als individuelle Pflicht (arab. fard ‘ain) im Gegensatz zu einer Verpflichtung der Gemeinschaft dar.[34] Auch Raschid Rida strebte an, ein islamisches Pendant zu westlichen Missionstätigkeiten aufzubauen. In diesem Zusammenhang war besonders Bildung von großer Bedeutung. Das Da'wa-Verständnis der Salafiyya beinhaltete alle Maßnahmen, die zu einer „islamischeren Gesellschaft“ führen sollten. Neben der Verbreitung des Islam allgemein war dies auch eine Vorbildfunktion durch islamgemäßen Lebenswandel sowie die Tilgung von Korruption und Atheismus aus dem öffentlichen wie privaten Leben.[35] Bei den koranischen Regelungen wurde zurückgehend auf Ibn Taimiya unterschieden zwischen veränderlichen und unveränderlichen. Die letzten sind „ewige“ Regulierungen der Verehrung Gottes und der religiösen Rituale, die in Koran und authentischen Hadithen festgeschrieben sind (arab. ‘Ibadat). Jegliche Veränderung dieser Vorschriften ist eine unerlaubte Neuerung (arab. Bid'a). Hingegen beziehen sich die veränderlichen Regulierungen auf diesseitige gesellschaftliche Fragen (arab. Mu’amalat). Mit dem Wandel der Zeiten sollten für die sozialen Beziehungen Antworten gefunden werden, die der Moderne angemessen sind.[36] Durch ein unorthodoxes Prinzip der Rechtsfindung, das von Ibn Taimiyya entwickelt worden war, sollte der Nutzen (arab. maslaha) für die zeitgenössische Gemeinschaft beachtet werden.[32] Diejenigen mit Befehlsgewalt (arab. ulu-l-amr) sollten diesen in ihrer Gesetzgebung berücksichtigen.[14]

Politische Visionen

In realpolitischer Hinsicht waren die meisten Salafiyya-Anhänger prinzipiell antikolonialistisch. Nur die indischen Modernisten strebten eine engere Bindung an die Briten an, doch wussten auch ihre nahöstlichen Gleichgesinnten um die Freiheiten unter der britischen Herrschaft in Ägypten im Gegensatz zur osmanischen „Despotie“ (al-Kawakibi). Im Widerspruch zum untergehenden Osmanischen Reich sowie dem aufkommenden Nationalismus der Jungtürken verstanden sich Teile der Salafiyya als betont arabische Bewegung.[37] Der panislamische Gedanke war demnach eng mit einem arabischen Nationalismus verknüpft.[38] In diesem Zusammenhang und auch angesichts des Imperialismus der westlichen Mächte war die Förderung der arabischen Sprache ein Anliegen der Salafiyya.[32]

Alternativen zur Fremdherrschaft sollten Herrschaftsformen mit islamischer Begründung sein; einerseits befürwortete man ein Wiederaufleben eines arabischen Kalifats nach der Abschaffung des osmanischen Kalifats infolge der Gründung der modernen Türkei.[39] Andererseits wurden klassische Konzepte wie Beratschlagung und Konsens herangezogen, um eine Art islamische Demokratie zu propagieren – und den vermeintlich koranischen Ursprung dieser Regierungsform zu belegen. Dies zeigt, dass der Rückgriff auf die Quellen des Islams nicht zu einer reaktionären Bewegung führt, sondern eher nach Übereinstimmungen mit der modernen Zeit gesucht wurde.[29] Al-Kawakibi wollte demokratische Elemente sogar mit dem Kalifat kombinieren.[40]

Insgesamt übten Vertreter der Salafiyya Widerstand gegen die osmanische Herrschaft und den Kolonialismus und strebten tiefgreifende Veränderungen bei den etablierten Rechtsgelehrten sowie dem Volksislam an.[16] Dies resultierte im Misstrauen oder gar Verfolgung der anderen Seite, so dass sich die Ideen der Salafiyya aufgrund ihrer schmalen sozialen Basis nicht durchsetzen konnten.[41] Zwar wurde Abduh Großmufti von Ägypten und hatte in dieser Position große Einflussmöglichkeiten, doch traf er auch hier auf Widerstand.[16]

Einflüsse auf Islamismus und Nationalismus

Die Denker der modernen Salafiyya bereiteten den Nährboden für den Islamismus als politische Ideologie wie auch für einen säkularen Liberalismus, wobei beide sich als legitime Erben zu präsentieren versuchten.[42] Während die Modernisten zumeist eine religiöse Ausbildung durchlaufen hatten, entstammten die Aktivisten des Islamismus’ nicht den Ulama. Hierbei ist besonders der Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Banna, zu nennen, der als Volksschullehrer den Bildungsgedanken der Salafiyya in seine Agenda übernahm. Mit dem Aufkommen des aktivistischen, politischen Islams verschwand die Salafiyya als intellektuelle Geisteshaltung. Mehr noch als der Bildungsgedanke kam nun die Moral als Basis der Gesellschaft ins Zentrum. Bereits Raschid Rida hatte eine Entwicklung durchgemacht, die von den erneuernden Gedanken zu konservativen Standpunkten überging, und hatte sich den saudi-arabischen Wahhabiten angenähert. Diese Entwicklung entstand auch aus Furcht vor dem aufkeimenden liberalen Säkularismus, dem die Salafiyya mit einer Radikalisierung begegnete, die sich im alltäglichen Lebenswandel niederschlug.[43] Damit einher ging eine Einbuße an erneuerndem Elan in der gesamten Strömung, die nun ironischerweise selbst traditionell wirkte und den Muslimbrüdern als moderner Massenbewegung das Feld überließ.[44]

Einige Anliegen der Salafiyya wurden auch von säkularen Intellektuellen aufgenommen, wie etwa denen des Nationalismus. Insofern war die Salafiyya die Wegbereiterin für zwei gegensätzliche Strömungen, die nicht ihrer Idee der Vermittlung zwischen Erbe und Moderne entsprachen. In den 1950er und 60er Jahren führten die Tatsachen, dass die Salafiyya nicht mehr Motor der gesellschaftlichen Erneuerung war, sondern nunmehr im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen nationalistische und sozialistische Strömungen politisch an Einfluss gewannen, bis hin zu revolutionären Umstürzen in einigen arabischen Staaten, und dass letztere es eine Zeit lang verstanden, in ihren Diskursen die gesellschaftliche Erneuerung für sich zu reklamieren, zu einer Marginalisierung der Salafiyya.[45]

Neofundamentalismus – zeitgenössischer Salafismus

Nach der Enttäuschung über die nationalistischen und sozialistischen Politikresultate, insbesondere über die des Krieges zwischen den arabischen Staaten und Israel 1967, und nach dem Aufkommen der Islamischen Revolution im Iran 1979, erfuhren religiöse muslimische Strömungen in den arabischen Staaten einen enormen Auftrieb, im Zuge dessen sich auch eine Salafiyya-Bewegung wieder neu formiert hat.

Die sodann emporgekommene heutige Salafiyya-Bewegung hat sich jedoch von der modernen Schule weit entfernt. Für die Einstellung der neuen Formation verwendet Olivier Roy den präziser definierten Begriff Neofundamentalismus, der heterogene Gruppen umfasst.[46] Er ist zweigeteilt in einen konservativen Teil sowie einen dschihadistischen Flügel.[47]

  • Der erste geht zurück auf die vormoderne Salafiyya wahhabitischer Prägung und hat sein geistiges Zentrum heute dementsprechend in Saudi-Arabien.
  • Der dschihadistische Salafismus ist militant.

Während die moderne Salafiyya durch Rückbesinnung auf ursprüngliche Werte den Muslimen die verlorengegangene zivilisatorische Vorreiterrolle wieder verschaffen will, möchte der islamistische Neofundamentalismus die religiöse Zeituhr zurückdrehen und betrachtet die heutige Welt insgesamt feindlich. Insofern steht er der Salafiyya der Jahrhundertwende diametral entgegen. Er gilt als die am schnellsten wachsende radikale Strömung des Islams.[48] Es handelt sich um eine entterritorialisierte Bewegung, die losgelöst von jeder kulturellen „Verunreinigung“ die „wahre“ Religion praktizieren möchte.[49]

Politische Bewertung und Präventionsgipfeltreffen unter Mitwirkung von Muslimischen Verbänden

Im Rahmen der Innenministerkonferenz im Juni 2011 warnten die deutschen Innenminister vor den Gefahren des zeitgenössischen, neofundamentalistischen Salafismus. Zum Abschluss des Treffens meinte der hessische Staatsminister des Inneren und Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Boris Rhein, der Salafismus sei der „Nährboden für islamistischen Terrorismus.“[50] Radikale und islamistische Ausprägungen des Islam wie der zeitgenössische Salafismus sollen in Deutschland unter Mitwirkung von islamischen Verbänden wie des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland und der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DİTİB) durch „Präventionsgipfeltreffen“ eingedämmt und verhindert werden. Nicht nur von Sicherheitsbehörden, auch von muslimischen Organisationen in Deutschland werde eine pauschalisierende, negative Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Muslimen durch die Aktivitäten neofundamentalistischer Salafisten wahrgenommen.[51]

Bekannte Vertreter in den letzten Jahrzehnten

Salafiyya heute nach Ländern

Deutschland

Laut Islamwissenschaftler Benno Köpfer gibt es drei- bis fünftausend Salafisten in Deutschland,[54] der Islamwissenschaftler Guido Steinberg spricht von vier- bis fünftausend Anhängern.[55] Alle Terroristen des 11. September 2001 waren Salafisten, darunter auch die drei Selbstmordattentäter der Hamburger Zelle.[3]

Der Verein Einladung zum Paradies (EZP), der zu den Salafisten gerechnet wird, wird wegen seiner diskriminierenden Haltung gegenüber Frauen und Homosexuellen vom Verfassungsschutz beobachtet. Zu diesem Verein gehört auch der deutsche Konvertit Pierre Vogel, der besonders durch Video-Predigten im Internet missioniert.[56]

In jüngerer Zeit (2012) hat die Missionsaktivität extremistischer Salafismusprediger wie Ibrahim Abou-Nagie im Bundesgebiet deutlich zugenommen, insbesondere in NRW und Hessen. Ziel der intensivierten Anstrengungen sei es laut Verfassungsschutz „Konversionen zum Islam salafistischer Prägung herbeizuführen und damit diese Form des religiös motivierten Extremismus in Deutschland weiterzuverbreiten.“[2] Über die Osterfeiertage 2012 verteilten Salafisten in 35 deutschen Städten kostenlose Ausgaben des Koran. In der vom Hassprediger Ibrahim Abou-Nagie geleiteten und seit Monaten laufenden Kampagne wurden nach Schätzungen bislang dreihunderttausend Exemplare verteilt.[3] Verteilungsverbote einiger Städte wurden von salafistischen Helfern umgangen.[4]

Andere

International zählen Wiktorowicz[57] und Roy sehr unterschiedliche Organisationen auf, die der heutigen Salafiyya-Bewegung zuzuordnen sind:

Siehe auch

Literatur

  • Charles C. Adams: Islam and Modernism in Egypt. A Study of the Modern Reform Movement Inaugurated by Muhammad ’Abduh. London 1933.
  • David Dean Commins: Islamic Reform. Politics and Social Change in Late Ottoman Syria. New York, Oxford 1990. ISBN 0-19-506103-9
  • Werner Ende, Pessah Shinar: Salafiyya. In: The Encyclopedia of Islam. T. 2, Bd 8. Brill, Leiden 1995, S. 900–909. ISSN 1873-9830
  • Elie Kedourie: Afghani and ’Abduh. An Essay on Religious Unbelief and Political Activism in Modern Islam. London 1966.
  • Andreas Meier: Der politische Auftrag des Islam: Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal 1994.
  • Roel Meijer: Global Salafism. Islam's new religious movement, Columbia University Press, New York 2009. Darin: R. Meijer: Introduction, S. 1-32.
  • Ali Merad: Islah. In: The Encyclopedia of Islam. T. 2, Bd 4. Brill, Leiden 1978, S. 141–171. ISSN 1873-9830
  • Olivier Roy: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. Pantheon, München 2006, RM Buch und Medien, Gütersloh 2007, BpB, Bonn 2007. ISBN 3-89331-731-7
  • Reinhard Schulze: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. Beck, München 1994. ISBN 3-406-38108-1
  • Emad Eldin Shahin: Salafiyyah. In: The Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World. New York 1995, S. 463–469. ISBN 0-19-506613-8
  • Itzchak Weismann: Taste of Modernity. Sufism, Salafiyya, and Arabism in Late Ottoman Damascus. Brill, Leiden u.a. 2000. ISBN 90-04-11908-6
  • Quintan Wiktorowicz: The Management of Islamic Activism. Salafis, the Muslim Brotherhood, and State Power in Jordan. Albany NY 2001. ISBN 0-7914-4835-5

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. etwa Lutz Berger: Islamische Theologie, UTb / facultas, Wien 2010, S. 146.
  2. 2,0 2,1 Salafisten: Einen Koran in jeden Haushalt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 3. April 2012, abgerufen am 3. April 2012.
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 Süddeutsche Zeitung: Radikal-islamische Missionierung. Im Auftrag des Herrn, vom 09. April 2012, abgerufen am 10. April 2012
  4. 4,0 4,1 Die Welt: Wie Salafisten Verbote von Koran-Ständen umgehen, vom 9. April 2012, abgerufen am 10. April 2012
  5. US-Außenministerium: September 11 (PDF)
  6. 6,0 6,1 Shahin, S. 463
  7. Merad, S. 149
  8. Schulze 1994, S. 126
  9. Schulze 1994, S. 96
  10. Adams, S. 112
  11. Shahin, S. 464
  12. 12,0 12,1 Merad, S. 143
  13. Merad, S. 141
  14. 14,0 14,1 14,2 Merad, S. 146
  15. Merad, S. 144
  16. 16,0 16,1 16,2 Merad, S. 145
  17. 17,0 17,1 Merad, S. 157
  18. Merad, S. 159
  19. Meier, S. 85
  20. Merad, S. 150
  21. Schulze, S. 49
  22. Weismann, S. 274, 279
  23. Weismann, S. 280
  24. Wiktorowicz, S. 114f.
  25. Merad, S. 151
  26. Adams, S. 145
  27. Merad, S. 148
  28. 28,0 28,1 Merad, S. 153
  29. 29,0 29,1 Merad, S. 152
  30. Adams, S. 138
  31. Kerr, S. 130
  32. 32,0 32,1 32,2 Shahin, S. 466
  33. Merad, S. 147
  34. Adams, S. 173
  35. Merad, S. 158
  36. Adams, S. 175
  37. Weismann, S, 290
  38. Ende, S. 907
  39. Shahin, S. 466
  40. Meier, S. 97
  41. Dean Commins, S. 142
  42. Merad, S. 161
  43. Schulze, S. 100
  44. Merad, S. 160
  45. Vgl. auch Schulze, S. 118
  46. Roy, S. 230
  47. Roy, S. 232
  48. Stichwort:Hintergrund Salafismus Tagesschau.de. 22. Juni 2011, abgerufen am 25. Juni 2011
  49. Roy, S. 254f.
  50. Konferenz in Frankfurt am Main: Innenminister warnen vor Salafismus Tagesschau.de, 22. Juni 2011, abgerufen am 22. Juni 2011
  51. „Präventionsgipfel“ mit muslimischen Verbänden: Rezept gegen Radikalisierung dringend gesucht Tagesschau.de, 24. Juni 2011, abgerufen am 27. Juni 2011
  52. Bericht dazu von Güner Y. Balci: Integration in Berlin. Im Schatten der Al-Nur-Moschee; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 24. Februar 2009
  53. Die lässigen Gehirnwäscher Zeit.de, 4. Oktober 2007
  54. Tübinger Terrorismus-Konferenz: Islamisten sehen sich als Fremde und Verfolgte, Schwäbisches Tagblatt, 11. September 2010
  55. Terror in Germany: An interview with Guido Steinberg by Raff Pantucci, ca. 2011
  56. Wie Salafisten Frauen unterdrücken. Rheinische Post, 7. August 2010
  57. Wiktorowicz, S. 151
  58. Islamist Terrorism in the Sahel: Fact or Fiction? International Crisis Group, Africa Report Nr. 92, 31. März 2005
  59. Moshe Terdman: The Libyan Islamic Fighting Group (LIFG), GLORIA Center, Vol. 3, Number 2, Juni 2005
  60. Tine Gade: Fatah al-Islam in Lebanon: Between global and local jihad. Norwegian Defence Research Establishment (FFI), 5. Dezember 2007, S. 22 f
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