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Joachim Stiller und Vorurteil: Unterschied zwischen den Seiten
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[[ | Ein '''Vorurteil''' ({{EnS|prejudice}}) ist ''im weitesten Sinn'' ein [[Urteil]], das in einer gegebenen Situation ''nicht'' durch das aktuelle [[Denken]] nach einer gründlichen Untersuchung der Sachlage gefällt wird, sondern [[gewohnheit]]smäßig mehr oder weniger fertig dem [[Gedächtnis]] entnommen ist. Da Vorurteile sehr fest im [[Ätherleib]] sitzen, sind sie entsprechend schwer zu ändern und werden als mehr oder weniger unverrückbare [[Tatsache]] gewertet. Sie prägen nicht nur das [[Denken]] sondern oft auch beinahe [[instinktiv]] das [[Verhalten]]. Eine mildere Form des Vorurteils, die einen weniger zwanghaften Charakter hat und weniger unmittelbar das [[Handeln]] impulsiert, ist die '''Voreingenommenheit''' oder '''Befangenheit''' ({{EnS|bias}}). Vorurteile erleichtern oder ermöglichen überhaupt erst die rasche Orientierung im Alltagsleben, behindern aber umgekehrt auch jede tiefer gehende neue [[Erkenntnis]]. | ||
{{Zitat|Vorurteil nennt ursprünglich einen harmlosen Tatbestand. In alten Zeiten | |||
war es das auf frühere Erfahrung und Entscheidung begründete Urteil, praejudicium. | |||
Später hat die Metaphysik, Descartes, Leibniz zumal, eingeborene | |||
Wahrheiten, Vorurteile im strengen Sinne, zur höchsten philosophischen | |||
Wahrheit erklärt. Sätze "a priori" , der Erfahrung logisch vorgeordnet, bilden | |||
nach Kant die reine Wissenschaft. Nur in England, wo Erfahrung seit | |||
Jahrhunderten als die oberste Instanz der Erkenntnis erschien, galt prejudice, | |||
das heißt die Ansicht, die der Prüfung durch die Tatsachen vorhergeht oder | |||
ihr sich gar entziehen will, von der Bibel abgesehen, längst als Vorurteil im | |||
negativen Sinn. | |||
Daß Abbreviaturen eigener Erlebnisse und dessen, was vom Hörensagen | |||
stammt, im Vollzug des Lebens eine Rolle spielen, ist offenbar. Was einmal | |||
gelernt und aufgenommen ist, wird in allgemeinen Vorstellungen aufgestapelt. | |||
Bewußt und halbbewußt, automatisch und absichtlich wird jeder neue | |||
Gegenstand mittels des so erworbenen Arsenals begrifflich eingeschätzt. Die | |||
Verhaltensweisen der Individuen in den Situationen des Alltags haben auf | |||
Grund von bruchstückhaftem Wissen sich eingeschliffen, sind Reaktionen aus | |||
Vorurteilen. Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch | |||
weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte | |||
einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen. | |||
Nur muß er imstande sein, die Generalisierung einzuschränken, wenn er nicht | |||
unter die Räder kommen will. Jenseits des Kanals fahren Autos auf der | |||
linken Straßenseite, und hierzulande wechseln die Kunden in immer rascherem | |||
Tempo den Geschmack. Man kann sie nicht stets nach demselben Schema | |||
zufriedenstellen. Solche Vorurteile näher zu bestimmen, zwingt das eigene | |||
Interesse.|[[Wikipedia:Max Horkheimer|Max Horkheimer]]|''Über das Vorurteil'', [http://archive.org/stream/MaxHorkheimerUeberDasVorurteil/Max_Horkheimer_%C3%9Cber_das_Vorurteil_#page/n3/mode/2up S. 5f]}} | |||
[[ | Häufig sind Vorurteile auch mit einer ''positiven'' oder ''negativen'' [[Wertung]] verbunden und sind in diesem Sinn zugleich [[Werturteil]]e. Im [[Wirtschaftsleben]] beispielsweise tragen positive Vorurteile entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg eines [[Wikipedia:Unternehmen|Unternehmen]]s, einer [[Wikipedia:Marke (Marketing)|Marke]] oder eines [[Produkt]]s bei. | ||
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Als Vorurteile ''im engeren Sinn'' werden insbesondere '''soziale Vorurteile''' aufgefasst, die aus [[Egoismus|egoistischen]] und [[Gruppenegoismus|gruppenegoistischen]] [[Triebfeder]]n entstehen. Auch sie sind stets mit einer ''positiven'' oder ''negativen'' Wertung verbunden und meist sehr stark [[Emotion|emotional]] aufgeladen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das [[Individualität|individuelle]] [[Wesen]] der Mitmenschen ausklammern, und diese nur nach dem hemmenden oder fördernden [[Wert]] für das eigene [[Ego]] beurteilen. Persönliche Vorurteile resultieren vornehmlich aus [[Sympathie und Antipathie]], die oft auch [[Karma|karmische]] Ursachen hat. Besonders schädlich für das [[Soziales Leben|soziale Leben]] sind Vorurteile gegen einzelne Menschengruppen, die dann oft nur mehr durch stark vereinfachende und wenig wirklichkeitsgemäße [[Stereotyp]]e charakterisiert werden. Typischerweise wird dabei die eigene Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, stark positiv überbewertet, während eine oder mehrere andere Gruppen ebenso stark abgewertet werden. Damit wird die soziale Kluft innerhalb einer gegebenen [[Gesellschaft]] zunehmend verschärft bis hin zu so sozial zerstörerischen Phänomenen wie [[Rassismus]] und [[Nationalismus]]. Gruppenegoistische Vorurteile führen sehr leicht zu einer Gewalteskalation, wenn die eigene Gruppe als bedroht empfunden wird. Der US-amerikanische [[Psychologe]] [[Wikipedia:Gordon Allport|Gordon Allport]] (1897-1967) hat 1954 in seiner klassischen Arbeit über „Die Natur des Vorurteils“ (''The nature of prejudice'') folgende typische Eskalationsstufen beschrieben: ''Verleumdung, Kontaktvermeidung, Diskriminierung, körperliche Gewalt, Vernichtung'' (→ [[Wikipedia:Allport-Skala|Allport-Skala]]). | |||
[[Wahrnehmungsurteile]], durch die wir gegebene [[Wahrnehmung]]en rasch identifizieren, beruhen überwiegend auf lange, oft schon seit der frühen Kindheit eingeübten, unbewusst bleibenden und daher kaum verrückbaren Vorurteilen, die gegebenenfalls auch zu typischen [[Wahrnehmungstäuschung]]en führen, die sich oft selbst dann nicht aufheben lassen, wenn wir sie mit dem wachen [[Verstand]] durchschauen. Bei den uns aus dem Alltagsleben gut vertrauten [[Ding]]en fließen [[Wahrnehmung]] und [[Begriff]] so selbstverständlich und rasch zusammen, dass wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst werden. Der zugehörige Begriff ist längst in uns vorgebildet und muss nicht erst mühsam suchend der Wahrnehmung entgegengebracht werden. Die Wahrnehmung wird dadurch unvermerkt mit [[Vorstellung]]en durchsetzt. Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten - und so für alle Sinne. Für die rasche routinierte Orientierung im Alltagsleben sind solche Begriffe und Vorstellungen unerlässlich. Allerdings beziehen sie sich heute, wo wir durch eine stark [[Materialismus|materialistische]] [[Denken|Denkweise]] geprägt sind, meist nur auf das rein [[Gegenstand|gegenständlich]]e [[Raum|räumlich]]-[[Materie|materielle]] Dasein. Wir erkennen auf diese Weise eine bestimmte Gruppe sinnlicher Wahrnehmungen sofort als Eiche, als Buche, als Bergkristall, als Löwe usw. Diese „Dinge“ erscheinen uns derart ganz unmittelbar als gegebene gegenständliche materielle Wirklichkeit und wir glauben ihr ganzes [[Wesen]] darin erschöpft. Das ist aber nicht der Fall. Ihr eigentliches, tieferes Wesen erschließt sich nur, wenn es gelingt, diesen „Erkenntnisautomatismus“ zu durchbrechen. Dazu muss einerseits die Wahrnehmung von den begrifflichen Elementen befreit und zu einer möglichst [[Reine Wahrnehmung|reinen Wahrnehmung]] geläutert werden und andererseits der Begriff geistig vertieft werden, was nur durch eine entsprechende [[geistige Schulung]] möglich ist. | |||
{{GZ|Nicht wahr, unser gewöhnliches Geistesleben im wachen Zustande | |||
verläuft ja so, daß wir wahrnehmen und eigentlich immer im Wahrnehmen | |||
schon das Wahrgenommene mit Vorstellungen durchtränken, | |||
im wissenschaftlichen Denken ganz systematisch das Wahrgenommene | |||
mit Vorstellungen verweben, durch Vorstellungen systematisieren | |||
und so weiter. Dadurch, daß man sich ein solches Denken angeeignet | |||
hat, wie es allmählich hervortritt im Verlaufe der «[[Philosophie der Freiheit]]», kommt man nun wirklich in die Lage, so scharf | |||
innerlich seelisch arbeiten zu können, daß man, indem man wahrnimmt, | |||
ausschließt das Vorstellen, daß man das Vorstellen unterdrückt, | |||
daß man sich bloß dem äußeren Wahrnehmen hingibt. Aber damit | |||
man die Seelenkräfte verstärke und die Wahrnehmungen im richtigen | |||
Sinne gewissermaßen einsaugt, ohne daß man sie beim Einsaugen mit | |||
Vorstellungen verarbeitet, kann man auch noch das machen, daß man | |||
nicht im gewöhnlichen Sinne mit Vorstellungen diese Wahrnehmungen | |||
beurteilt, sondern daß man sich symbolische oder andere Bilder schafft | |||
zu dem mit dem Auge zu Sehenden, mit dem Ohre zu Hörenden, auch | |||
Wärmebilder, Tastbilder und so weiter. Dadurch, daß man gewissermaßen | |||
das Wahrnehmen in Fluß bringt, dadurch, daß man Bewegung | |||
und Leben in das Wahrnehmen hineinbringt, aber in einer solchen | |||
Weise, wie es nicht im gewöhnlichen Vorstellen geschieht, sondern im | |||
symbolisierenden oder auch künstlerisch verarbeitenden Wahrnehmen, | |||
dadurch kommt man viel eher zu der Kraft, sich von der Wahrnehmung | |||
als solcher durchdringen zu lassen* Man kann sich ja schon gut | |||
vorbereiten für eine solche Erkenntnis bloß dadurch, daß man wirklich | |||
im strengsten Sinne sich heranerzieht zu dem, was ich charakterisiert | |||
habe als den Phänomenalismus, als das Durcharbeiten der Phänomene. | |||
Wenn man wirklich an der materiellen Grenze des Erkennens | |||
getrachtet hat, nicht in Trägheit durchzustoßen durch den Sinnesteppich | |||
und dann allerlei Metaphysisches da zu suchen in Atomen | |||
und Molekülen, sondern wenn man die Begriffe verwendet hat, um | |||
die Phänomene anzuordnen, um die Phänomene hin zu verfolgen bis | |||
zu den Urphänomenen, dann bekommt man dadurch schon eine Erziehung, | |||
die dann auch alles Begriffliche hinweghalten kann von den | |||
Phänomenen. Und symbolisiert man dann noch, verbildlicht man die | |||
Phänomene, dann bekommt man eine starke seelische Macht, um gewissermaßen | |||
die Außenwelt begriffsfrei in sich einzusaugen.|322|113f}} | |||
== Vorurteilslosigkeit als Grundbedingung jeder geistigen Schulung == | |||
Jede Art von Vorurteil, sei es auch vollkommen [[wertfrei]], behindert die [[geistige Entwicklung]]. Jede [[geistige Schulung]] muss daher mit einer strengen [[Selbsterziehung]] zur [[Vorurteilslosigkeit]] verbunden sein. Nur durch Vorurteilslosigkeit kann das [[Geistselbst]] ([[Manas]]) entwickelt werden. Darauf zielt insbesondere auch die fünfte [[Nebenübung]]. In der freien Nachschrift (''Aufzeichnung A'' in der Handschrift von ''Camilla Wandrey'') zu einer von [[Rudolf Steiner]] am 2. Januar 1914 in [[Wikipedia:Leipzig|Leipzig]] gehaltenen esoterischen Stunde heißt es: | |||
{{GZ|Auf der fünften Stufe entwickeln wir Manas oder Geistselbst. | |||
Da dürfen wir uns nicht festlegen auf dasjenige, was wir bisher | |||
gesehen, gelernt, gehört haben. Wir müssen lernen, von alle dem | |||
abzusehen, uns allem, was uns entgegentritt, ganz wie ausgeleert | |||
von dem Bisherigen zu erhalten. Manas kann nur entwickelt | |||
werden, wenn man lernt, alles, was wir uns durch Eigendenken | |||
erworben haben, doch nur zu empfinden als etwas Minderwertiges | |||
gegenüber dem, was wir uns erwerben können, indem wir | |||
uns den Gedanken öffnen, die aus dem gottgewobenen Kosmos | |||
einströmen. Aus diesen göttlichen Gedanken ist alles, was uns | |||
umgibt, entstanden. Wir haben sie nicht durch unser bisheriges | |||
Denken finden können. Da verbergen es uns die Dinge. Jetzt | |||
lernen wir hinter allem wie ein verborgenes Rätsel dies Göttliche | |||
zu erahnen. Immer mehr lernen wir in Bescheidenheit einsehen, | |||
wie wenig wir bisher von diesen Rätseln ergründet haben. Und | |||
wir lernen, daß wir eigentlich alles aus unserer Seele entfernen | |||
müssen, was wir bisher gelernt haben, daß wir ganz unbefangen, | |||
wie ein Kind, allem entgegentreten müssen - daß sich nur der | |||
Unbefangenheit der Seele darbieten die göttlichen Rätsel, die uns | |||
umgeben. Kindlich muß die Seele werden, um in die Reiche der | |||
Himmel eindringen zu können. Der kindlichen Seele strömt | |||
dann entgegen die verborgene Weisheit - Manas - wie ein Geschenk | |||
der Gnade aus der geistigen Welt.|266c|244f}} | |||
== Literatur == | |||
=== | # {{Literatur | ||
|Autor=[[Wikipedia:Walter Lippmann|Walter Lippmann]] | |||
|Hrsg=[[Wikipedia:Elisabeth Noelle-Neumann|Elisabeth Noelle-Neumann]] | |||
|Titel=''Die öffentliche Meinung'' | |||
|Verlag=Brockmeyer | |||
|Ort=Bochum | |||
|Datum=1990 | |||
|ISBN=3-88339-786-5 | |||
|Originaltitel=''Public Opinion'' | |||
|Originalsprache=en | |||
|Online=[http://www.gutenberg.org/etext/6456 gutenberg.org]}} | |||
#[[Wikipedia:Max Horkheimer|Max Horkheimer]]: ''Über das Vorurteil'', Springer Fachmedien, Wiesbaden 1963, ISBN ISBN 978-3-663-03191-8 [http://archive.org/details/MaxHorkheimerUeberDasVorurteil archive.org] | |||
#Rudolf Steiner: ''Aus den Inhalten der esoterischen Stunden, Band III: 1913 und 1914; 1920 – 1923'', [[GA 266/3]] (1998), ISBN 3-7274-2663-2 {{Schule|266c}} | |||
#Rudolf Steiner: ''Grenzen der Naturerkenntnis'', [[GA 322]] (1981), ISBN 3-7274-3220-9 {{Vorträge|322}} | |||
{{GA}} | |||
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Version vom 27. Juli 2017, 02:15 Uhr
Ein Vorurteil (eng. prejudice) ist im weitesten Sinn ein Urteil, das in einer gegebenen Situation nicht durch das aktuelle Denken nach einer gründlichen Untersuchung der Sachlage gefällt wird, sondern gewohnheitsmäßig mehr oder weniger fertig dem Gedächtnis entnommen ist. Da Vorurteile sehr fest im Ätherleib sitzen, sind sie entsprechend schwer zu ändern und werden als mehr oder weniger unverrückbare Tatsache gewertet. Sie prägen nicht nur das Denken sondern oft auch beinahe instinktiv das Verhalten. Eine mildere Form des Vorurteils, die einen weniger zwanghaften Charakter hat und weniger unmittelbar das Handeln impulsiert, ist die Voreingenommenheit oder Befangenheit (eng. bias). Vorurteile erleichtern oder ermöglichen überhaupt erst die rasche Orientierung im Alltagsleben, behindern aber umgekehrt auch jede tiefer gehende neue Erkenntnis.
„Vorurteil nennt ursprünglich einen harmlosen Tatbestand. In alten Zeiten war es das auf frühere Erfahrung und Entscheidung begründete Urteil, praejudicium. Später hat die Metaphysik, Descartes, Leibniz zumal, eingeborene Wahrheiten, Vorurteile im strengen Sinne, zur höchsten philosophischen Wahrheit erklärt. Sätze "a priori" , der Erfahrung logisch vorgeordnet, bilden nach Kant die reine Wissenschaft. Nur in England, wo Erfahrung seit Jahrhunderten als die oberste Instanz der Erkenntnis erschien, galt prejudice, das heißt die Ansicht, die der Prüfung durch die Tatsachen vorhergeht oder ihr sich gar entziehen will, von der Bibel abgesehen, längst als Vorurteil im negativen Sinn.
Daß Abbreviaturen eigener Erlebnisse und dessen, was vom Hörensagen stammt, im Vollzug des Lebens eine Rolle spielen, ist offenbar. Was einmal gelernt und aufgenommen ist, wird in allgemeinen Vorstellungen aufgestapelt. Bewußt und halbbewußt, automatisch und absichtlich wird jeder neue Gegenstand mittels des so erworbenen Arsenals begrifflich eingeschätzt. Die Verhaltensweisen der Individuen in den Situationen des Alltags haben auf Grund von bruchstückhaftem Wissen sich eingeschliffen, sind Reaktionen aus Vorurteilen. Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen. Nur muß er imstande sein, die Generalisierung einzuschränken, wenn er nicht unter die Räder kommen will. Jenseits des Kanals fahren Autos auf der linken Straßenseite, und hierzulande wechseln die Kunden in immer rascherem Tempo den Geschmack. Man kann sie nicht stets nach demselben Schema zufriedenstellen. Solche Vorurteile näher zu bestimmen, zwingt das eigene Interesse.“
Häufig sind Vorurteile auch mit einer positiven oder negativen Wertung verbunden und sind in diesem Sinn zugleich Werturteile. Im Wirtschaftsleben beispielsweise tragen positive Vorurteile entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens, einer Marke oder eines Produkts bei.
Als Vorurteile im engeren Sinn werden insbesondere soziale Vorurteile aufgefasst, die aus egoistischen und gruppenegoistischen Triebfedern entstehen. Auch sie sind stets mit einer positiven oder negativen Wertung verbunden und meist sehr stark emotional aufgeladen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das individuelle Wesen der Mitmenschen ausklammern, und diese nur nach dem hemmenden oder fördernden Wert für das eigene Ego beurteilen. Persönliche Vorurteile resultieren vornehmlich aus Sympathie und Antipathie, die oft auch karmische Ursachen hat. Besonders schädlich für das soziale Leben sind Vorurteile gegen einzelne Menschengruppen, die dann oft nur mehr durch stark vereinfachende und wenig wirklichkeitsgemäße Stereotype charakterisiert werden. Typischerweise wird dabei die eigene Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, stark positiv überbewertet, während eine oder mehrere andere Gruppen ebenso stark abgewertet werden. Damit wird die soziale Kluft innerhalb einer gegebenen Gesellschaft zunehmend verschärft bis hin zu so sozial zerstörerischen Phänomenen wie Rassismus und Nationalismus. Gruppenegoistische Vorurteile führen sehr leicht zu einer Gewalteskalation, wenn die eigene Gruppe als bedroht empfunden wird. Der US-amerikanische Psychologe Gordon Allport (1897-1967) hat 1954 in seiner klassischen Arbeit über „Die Natur des Vorurteils“ (The nature of prejudice) folgende typische Eskalationsstufen beschrieben: Verleumdung, Kontaktvermeidung, Diskriminierung, körperliche Gewalt, Vernichtung (→ Allport-Skala).
Wahrnehmungsurteile, durch die wir gegebene Wahrnehmungen rasch identifizieren, beruhen überwiegend auf lange, oft schon seit der frühen Kindheit eingeübten, unbewusst bleibenden und daher kaum verrückbaren Vorurteilen, die gegebenenfalls auch zu typischen Wahrnehmungstäuschungen führen, die sich oft selbst dann nicht aufheben lassen, wenn wir sie mit dem wachen Verstand durchschauen. Bei den uns aus dem Alltagsleben gut vertrauten Dingen fließen Wahrnehmung und Begriff so selbstverständlich und rasch zusammen, dass wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst werden. Der zugehörige Begriff ist längst in uns vorgebildet und muss nicht erst mühsam suchend der Wahrnehmung entgegengebracht werden. Die Wahrnehmung wird dadurch unvermerkt mit Vorstellungen durchsetzt. Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten - und so für alle Sinne. Für die rasche routinierte Orientierung im Alltagsleben sind solche Begriffe und Vorstellungen unerlässlich. Allerdings beziehen sie sich heute, wo wir durch eine stark materialistische Denkweise geprägt sind, meist nur auf das rein gegenständliche räumlich-materielle Dasein. Wir erkennen auf diese Weise eine bestimmte Gruppe sinnlicher Wahrnehmungen sofort als Eiche, als Buche, als Bergkristall, als Löwe usw. Diese „Dinge“ erscheinen uns derart ganz unmittelbar als gegebene gegenständliche materielle Wirklichkeit und wir glauben ihr ganzes Wesen darin erschöpft. Das ist aber nicht der Fall. Ihr eigentliches, tieferes Wesen erschließt sich nur, wenn es gelingt, diesen „Erkenntnisautomatismus“ zu durchbrechen. Dazu muss einerseits die Wahrnehmung von den begrifflichen Elementen befreit und zu einer möglichst reinen Wahrnehmung geläutert werden und andererseits der Begriff geistig vertieft werden, was nur durch eine entsprechende geistige Schulung möglich ist.
„Nicht wahr, unser gewöhnliches Geistesleben im wachen Zustande verläuft ja so, daß wir wahrnehmen und eigentlich immer im Wahrnehmen schon das Wahrgenommene mit Vorstellungen durchtränken, im wissenschaftlichen Denken ganz systematisch das Wahrgenommene mit Vorstellungen verweben, durch Vorstellungen systematisieren und so weiter. Dadurch, daß man sich ein solches Denken angeeignet hat, wie es allmählich hervortritt im Verlaufe der «Philosophie der Freiheit», kommt man nun wirklich in die Lage, so scharf innerlich seelisch arbeiten zu können, daß man, indem man wahrnimmt, ausschließt das Vorstellen, daß man das Vorstellen unterdrückt, daß man sich bloß dem äußeren Wahrnehmen hingibt. Aber damit man die Seelenkräfte verstärke und die Wahrnehmungen im richtigen Sinne gewissermaßen einsaugt, ohne daß man sie beim Einsaugen mit Vorstellungen verarbeitet, kann man auch noch das machen, daß man nicht im gewöhnlichen Sinne mit Vorstellungen diese Wahrnehmungen beurteilt, sondern daß man sich symbolische oder andere Bilder schafft zu dem mit dem Auge zu Sehenden, mit dem Ohre zu Hörenden, auch Wärmebilder, Tastbilder und so weiter. Dadurch, daß man gewissermaßen das Wahrnehmen in Fluß bringt, dadurch, daß man Bewegung und Leben in das Wahrnehmen hineinbringt, aber in einer solchen Weise, wie es nicht im gewöhnlichen Vorstellen geschieht, sondern im symbolisierenden oder auch künstlerisch verarbeitenden Wahrnehmen, dadurch kommt man viel eher zu der Kraft, sich von der Wahrnehmung als solcher durchdringen zu lassen* Man kann sich ja schon gut vorbereiten für eine solche Erkenntnis bloß dadurch, daß man wirklich im strengsten Sinne sich heranerzieht zu dem, was ich charakterisiert habe als den Phänomenalismus, als das Durcharbeiten der Phänomene. Wenn man wirklich an der materiellen Grenze des Erkennens getrachtet hat, nicht in Trägheit durchzustoßen durch den Sinnesteppich und dann allerlei Metaphysisches da zu suchen in Atomen und Molekülen, sondern wenn man die Begriffe verwendet hat, um die Phänomene anzuordnen, um die Phänomene hin zu verfolgen bis zu den Urphänomenen, dann bekommt man dadurch schon eine Erziehung, die dann auch alles Begriffliche hinweghalten kann von den Phänomenen. Und symbolisiert man dann noch, verbildlicht man die Phänomene, dann bekommt man eine starke seelische Macht, um gewissermaßen die Außenwelt begriffsfrei in sich einzusaugen.“ (Lit.:GA 322, S. 113f)
Vorurteilslosigkeit als Grundbedingung jeder geistigen Schulung
Jede Art von Vorurteil, sei es auch vollkommen wertfrei, behindert die geistige Entwicklung. Jede geistige Schulung muss daher mit einer strengen Selbsterziehung zur Vorurteilslosigkeit verbunden sein. Nur durch Vorurteilslosigkeit kann das Geistselbst (Manas) entwickelt werden. Darauf zielt insbesondere auch die fünfte Nebenübung. In der freien Nachschrift (Aufzeichnung A in der Handschrift von Camilla Wandrey) zu einer von Rudolf Steiner am 2. Januar 1914 in Leipzig gehaltenen esoterischen Stunde heißt es:
„Auf der fünften Stufe entwickeln wir Manas oder Geistselbst. Da dürfen wir uns nicht festlegen auf dasjenige, was wir bisher gesehen, gelernt, gehört haben. Wir müssen lernen, von alle dem abzusehen, uns allem, was uns entgegentritt, ganz wie ausgeleert von dem Bisherigen zu erhalten. Manas kann nur entwickelt werden, wenn man lernt, alles, was wir uns durch Eigendenken erworben haben, doch nur zu empfinden als etwas Minderwertiges gegenüber dem, was wir uns erwerben können, indem wir uns den Gedanken öffnen, die aus dem gottgewobenen Kosmos einströmen. Aus diesen göttlichen Gedanken ist alles, was uns umgibt, entstanden. Wir haben sie nicht durch unser bisheriges Denken finden können. Da verbergen es uns die Dinge. Jetzt lernen wir hinter allem wie ein verborgenes Rätsel dies Göttliche zu erahnen. Immer mehr lernen wir in Bescheidenheit einsehen, wie wenig wir bisher von diesen Rätseln ergründet haben. Und wir lernen, daß wir eigentlich alles aus unserer Seele entfernen müssen, was wir bisher gelernt haben, daß wir ganz unbefangen, wie ein Kind, allem entgegentreten müssen - daß sich nur der Unbefangenheit der Seele darbieten die göttlichen Rätsel, die uns umgeben. Kindlich muß die Seele werden, um in die Reiche der Himmel eindringen zu können. Der kindlichen Seele strömt dann entgegen die verborgene Weisheit - Manas - wie ein Geschenk der Gnade aus der geistigen Welt.“ (Lit.:GA 266c, S. 244f)
Literatur
- Walter Lippmann: 'Die öffentliche Meinung'. Brockmeyer, Bochum 1990 (Originaltitel: Public Opinion), ISBN 3-88339-786-5 (gutenberg.org).
- Max Horkheimer: Über das Vorurteil, Springer Fachmedien, Wiesbaden 1963, ISBN ISBN 978-3-663-03191-8 archive.org
- Rudolf Steiner: Aus den Inhalten der esoterischen Stunden, Band III: 1913 und 1914; 1920 – 1923, GA 266/3 (1998), ISBN 3-7274-2663-2 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Grenzen der Naturerkenntnis, GA 322 (1981), ISBN 3-7274-3220-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv. Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen. Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners. |