Actus purus und Individuation: Unterschied zwischen den Seiten

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'''Actus Purus''' ([[Latein|lat.]] „reiner Akt“) ist ein Ausdruck der [[Scholastik| scholastischen]] Philosophie für die absolute Vollkommenheit [[Gott|Gottes]]. Nur Gott selbst ist vollkommene reine [[Wirklichkeit]] jenseits von [[Raum]] und [[Zeit]] und verleiht allen [[materiell]]en und [[immateriell]]en [[Ding]]en und [[Wesen]] ihr [[Sein]].
'''Individuation''' ({{laS|''individuare''}} „sich unteilbar machen“) ist der [[Prozess]], durch den sich das [[Individuum]] im Zuge seiner [[Ich]]-Werdung als einzigartige, unteilbare [[Ganzheit]] [[Wirklichkeit|verwirklicht]].


== Allgemeines ==
[[Kategorie:Philosophie]] [[Kategorie:Mensch]] [[Kategorie:Psychologie]]
 
Anders als Gott haben geschaffene Wesen stets auch nicht realisierte Möglichkeiten, sowohl bezüglich ihrer Unvollkommenheiten wie ihrer Vollkommenheiten. Nur Gott ist zur gleichen Zeit alles, was er sein kann, unendlich wirklich und unendlich vollkommen. Er ist kein [[Werden]]der, wie nach mancher [[Pantheismus|pantheistischen]] Auffassung, die Gott mit der sich [[Evolution|entwickelnden]] [[Schöpfung]] gleichsetzt, aber auch kein ewig und unveränderlich [[Sein|Seiender]], sondern ein Über-Seiender, denn er steht über allem [[Sein]]. Sein unendliches Potential entfaltet sich nicht schrittweise nach und nach, sondern ist immer schon restlos verwirklich. Er ist die vollkommene [[Ewigkeit]] ohne Anfang und ohne Ende. Nur für ihn gilt im vollsten Sinn: „[[Ich bin, der ich bin]]“ {{Bibel|2. Mos|3|14|LUT}}. Seine Eigenschaften und seine Handlungen sind identisch mit seinem Wesen, und zu seinem Wesen (''Wie-Sein'') gehört unablösbar seine Existenz (''Da-Sein'').
 
In Geschöpfen geht die Möglichkeit der Wirklichkeit voraus; bevor eine Vollkommenheit verwirklicht wird, muss ihre Verwirklichung möglich sein. Absolut betrachtet hingegen gilt das Umgekehrte: Die Wirklichkeit geht der Möglichkeit voraus. Denn um Veränderung zu erfahren, muss ein Ding bearbeitet, d.h. in einen neuen Zustand versetzt werden. Veränderung und Potentialität setzen also das Dasein ''in actu'' voraus. Dieses Dasein, sofern noch mit Potentialität vermischt, setzt eine ihm vorhergehende Wirklichkeit voraus - und so weiter, bis der ''Actus purus'', die Wirklichkeit ohne einen Rest von bloßer Möglichkeit, erreicht ist.
 
Das Konzept des actus purus wird im Sinne der reinen Form schon bei [[Aristoteles]] entwickelt.<ref>Vgl. Aristoteles: ''Metaphysik.'', XI 7, 1072b ff. nach Regenbogen, Arnim, Uwe Meyer: ''Wörterbuch der philosophischen Begriffe.'' Meiner, Hamburg 2005: ''actus purus.''</ref> „Actus“ ist das lateinische Wort für {{lang|grc|ἐνέργεια}}, ''energeia''. In der Metaphysik XII 7, 1072b ff. kennzeichnet Aristoteles den unbewegten Beweger als reine ''energeia''. Demgegenüber ist die [[prima materia]] ({{ELSalt|ὕλη πρώτη}} ''hyle prote'' oder {{lang|grc|πρώτη ὕλη}} ''prote hyle''; [[Latein|lat.]] ''erste Materie''), die [[Jungfräulichkeit|jungfräuliche]] [[Ursubstanz]], von der auch die [[Alchemie|Alchemisten]] sprechen, reine Potenz.
 
In der [[Hochscholastik]] wird die [[Akt und Potenz|Akt-Potenz-Lehre]] der aristotelische Metaphysik rezipiert und von [[Thomas von Aquin]] modifiziert. Für Thomas besteht folgende Schwierigkeit: Aus seiner Sicht steht fest, ''„dass ohne und außer Gott Nichts von Ewigkeit gewesen sein kann.“''<ref>Thomas von Aquin: ''[[Summe der Theologie]]'' [http://www.unifr.ch/bkv/summa/kapitel47-1.htm Iª q. 46 a. 1 co.]</ref> Die [[Welt]] besteht - anders als bei Aristoteles - nicht von [[Ewigkeit]], sondern wurde von Gott geschaffen. Wenn aber alle geschaffenen Wesen aus einer Verbindung von Akt und Potenz entstehen, dann scheint die Schöpfung eine bereits vorhandene Potentialität vorauszusetzen, so wie die Vase, die der Künstler formt, den Ton voraussetzt, aus dem sie geschaffen wird. Das kann aber im christlichen Sinn einer [[Schöpfung aus dem Nichts]] ([[lat.]] ''[[creatio ex nihilo]]'') nicht sein. Gott muss Stoff ''und'' Form hervorbringen, also auch über die Fähigkeit (die Potenz) verfügen, die zu formende Potenz (den Stoff) - in diesem Fall den Ton, der sich formen lässt - hervorzubringen und dadurch willentlich die Grundlage und den [[zeit]]lichen Anfang der Schöpfung zu schaffen. Diese Fähigkeit ist aber eine [[aktive Potenz]] - im Gegensatz zur [[Passive Potenz|passiven Potenz]] des Tons, der sich formen lässt. Die aktive Potenz ist zugleich reiner Akt. In Anwendung auf Gott führt dies zu dessen Kennzeichnung als ''actus purus'' ohne jeglichen Anteil an (passiver) Potentialität:
 
{{Zitat|Deus est actus purus, non habens aliquid de potentialitate|Thomas von Aquin, Summa theologica I q. 3 art. 2 resp.<ref>So die Wiedergabe in Wörterbüchern, genauer: "Respondeo dicendum quod impossibile est in Deo esse materiam. Primo quidem, quia materia est id quod est in potentia. Ostensum est autem quod Deus est purus actus, non habens aliquid de potentialitate. Unde impossibile est quod Deus sit compositus ex materia et forma.", vgl. etwa http://www.corpusthomisticum.org/sth1003.html#28338 bzw. http://www.unifr.ch/bkv/summa/kapitel4-2.htm (Lateinisch/Deutsch)</ref>}}
 
Weiter heißt es bei Thomas von Aquin:
 
{{Zitat|Der Erstwirkende wirkt aus freiem Willen. Und wenn Er auch von Ewigkeit her den Willen hatte, eine Wirkung hervorzubringen, so hat Er doch keine ewige Wirkung hervorgebracht; und zwar nicht etwa weil in Ihm eine Änderung vorgegangen, als Er nun die zeitliche Wirkung gründete, und auch nicht weil Er habe eine Zeit lang warten wollen. Denn anders muß hier geurteilt werden, wenn es sich um eine besondere beschränkte wirkende Ursächlichkeit oder wenn es sich um die erste allwirkende handelt, von welcher die ganze Wirkung ausgeht. Die erstere nämlich setzt bei ihrem Wirken den Stoff als vorhanden voraus; und deshalb darf sie nur nach dem geziemenden Verhältnisse zum Stoff die Form einführen. Deshalb wird bei ihr ganz vernünftigerweise erwogen, daß sie in diesen und nicht in jenen Stoff, unter diesen und nicht unter jenen Zeit- und Ortsverhältnissen die Form einführt; weil sie die Verschiedenheit des einen Stoffes zum anderen berücksichtigen muß. Dies alles würde aber unvernünftigerweise erwogen werden bei jener Ursächlichkeit, welche nichts voraussetzt, sondern Stoff und Form hervorbringt. In ihr wird vernünftigerweise nur erwogen, daß sie gemäß dem Zwecke und gemäß der gewollten Form einen entsprechenden Stoff herstelle. So berücksichtigt die beschränkte, wirkende Ursächlichkeit auch die Zeit gleich wie den Stoff; sie handelt demgemäß vernünftigerweise oft erst in einer späteren Zeit und nicht vorher. Die erstwirkende Ursache aber, die da den Stoff und die Zeit hervorbringt, berücksichtigt nicht, daß eine spätere Zeit mehr zusagen würde ihrer Wirkung, wie eine frühere, als ob sie die Zeit als eine Voraussetzung betrachtete, unter welcher erst sie wirken könnte. Vielmehr giebt sie ihrer Wirkung Zeit, so viel und wann sie will und wie es sich gebührt, damit ihre Macht offenbar werde. Denn die Welt führt in mehr offenbarer Weise zur Kenntnis der schaffenden Kraft, da sie nicht von Ewigkeit ist, als wenn sie von Ewigkeit wäre; da das, was nicht immer war, offenbar eine Ursache haben muß; was aber immer war, das zeigt dies nicht so deutlich.|Thomas von Aquin|''[[Summe der Theologie]]'' [https://bkv.unifr.ch/de/works/8/versions/811/divisions/169013 Iª q. 46 a. 1 ad 6]}}
 
[[Nikolaus von Kues]] bezeichnet Gott als "actus purissimum".<ref name="apel">''actus purus.'' In: Apel, Ludz: ''Philosophisches Wörterbuch.'' 6. Aufl. de Gruyter, Berlin/New York 1976.</ref>.
 
Nach [[Leibniz]] ist Gott absolute Tätigkeit und zugleich actus purus.<ref name="apel" />
 
== Zur erweiterten Kritik ==
Gott ist nicht actus purus, sondern tatsächlich höchster Akt "und" höchste Potenz "zugleich", so die unmissverständliche Feststellung von [[Joachim Stiller]]. Und damit liegt etwa [[Thomas von Aquin]], aber auch [[Aristoteles]] falsch, wenn sie "nur" von einem [[Actus purus]] sprechen.
 
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Actus purus}}
* [[Akt und Potenz]]
 
== Literatur ==
* Dietrich Schlüter: ''Akt/Potenz'', in: [[Wikipedia:HWPh|HWPh]] Bd.1, 134-142.
* [[Wikipedia:Georg Picht|Georg Picht]], ''Der Begriff des Energeia bei Aristoteles'', in: Georg Picht, ''Hier und Jetzt. Philospophieren nach Auschwitz und Hiroshima'', Bd. 1, S. 289 - 308
* Josef de Vries: ''Grundbegriffe der Scholastik'', 3. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993, ISBN 3-534-05985-9
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/philosophie_trinitaet_gott_ist_das_hoechste.pdf Gott ist das Höchste - Ein Beitrag zur natürlichen Theolgoie] PDF
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/philosophie_thomas_24_thesen.pdf Die 24 Thesen der thomistischen Philosophie] PDF
 
==Weblinks==
*[http://www.newadvent.org/cathen/01125b.htm ''Catholic Encyclopedia'' "Actus Purus"]
* [http://www.unifr.ch/bkv/summa/kapitel1.htm Die Summa theologica als Volltext] Seite in der Bibliothek der Kirchenväter
 
== Einzelnachweise ==
<references/>
 
[[Kategorie:Thomas von Aquin]]
[[Kategorie:Aristoteles]]
[[Kategorie:Scholastik]]
{{Wikipedia}}

Version vom 24. September 2016, 20:48 Uhr

Individuation (lat. individuare „sich unteilbar machen“) ist der Prozess, durch den sich das Individuum im Zuge seiner Ich-Werdung als einzigartige, unteilbare Ganzheit verwirklicht.