Emergenz: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 9. August 2018, 01:11 Uhr

Als Emergenz (von lat. emergere „auftauchen, hervorkommen, sich zeigen“) wird heute das Phänomen bezeichnet, dass sich manche spontan und unvorhersehbar auftretenden Eigenschaften eines strukturierten Systems nicht allein aus seinen Teilen erklären lassen. Der österreichische Verhaltensbiologe Konrad Lorenz hatte statt dessen die Bezeichnung Fulguration (von lat. fulgurBlitz“) vorgeschlagen, um deutlich darauf hinzuweisen, dass dabei nicht bereits vorhandene, aber bisher verborgene Eigenschaften "auftauchen", wie die deutsche Übersetzung des Wortes Emergenz suggeriert, sondern tatsächlich spontan völlig neu entstehen.

Auf die Übersummativität, nach der das Ganze mehr ist als seine Teile, hatte schon Aristoteles erstmals in philosophischer Klarheit hingewiesen:

„Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloss die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde.“ (Lit.: Aristoteles, Metaphysik, Buch 8.6. 1045a: 8-10.)

Die Emergenztheorie wurde namentlich von den britischen Philosophen Samuel Alexander (1859-1938) und Conwy Lloyd Morgan (1852-1936) entwickelt, welche die Bewusstseinsbildung als ein evolutionäres Phänomen ansahen, das sich biologisch nicht hinreichend erklären lasse. Ein weiterer wichtiger Vertreter der Emergenzphilosophie, dessen Erkenntnisse in der Philosophie des Geistes heute wieder zunehmend Beachtung finden, ist C. D. Broad (1887-1971).

Das Phänomen der Emergenz ist allerdings noch viel weiter zu fassen und nicht nur auf die Entstehung des Bewusstseins beschränkt.

„Zu den rätselhaftesten und doch grundlegenden Phänomenen des Universums gehört die Emergenz: das Auftreten neuer Eigenschaften auf jeder höheren Komplexitätsstufe, die sich auf der vorangehenden Stufe nicht vorhersehen lassen haben. Ein Beispiel: Von lebloser Materie lassen sich die Kennzeichen des Lebens nicht ableiten. Unabhängig davon, wie weit man die Forschung in Physik und Chemie treibt, wird man auf diesem Weg nie das spezifische Verhalten lebender Organismen vorhersagen können. Es scheint ein allgemeingültiges Prinzip zu sein, dass sich das (komplexere) Ganze nicht auf seine (einfacheren) Teile zurückführen lässt. Davon ausgenommen ist keine Stufe zunehmender Komplexität. Auf der Ebene der Atome: Bei einer isolierten Betrachtung der Wasserstoff- und Sauerstoffatome deutet nichts auf die Eigenschaften eines Wassermoleküls. Oder am Ende der Skala: Die Merkmale des Bewusstseins ergeben sich nicht aus der Extrapolation des Verhaltens.“ (Lit.: Kiefer, S. 33)

Emergente Phänomene sind in diesem Sinn irreduzibel und unvorhersagbar. Der Begriff „Emergenz“ gibt demgemäß nur einen Hinweis darauf, dass neue Phänomene erscheinen, liefert aber keine weitere Erklärung dafür, warum sie auftreten - er kann also nicht mehr als einen Anreiz für weitere Forschungen geben.

„Die Vorstellung, dass das Wort „Emergenz“ etwas erklären würde, ist weit verbreitet. Daher ist es von zentraler Bedeutung zu erkennen, dass „Emergenz“ lediglich als Auftrag verstanden werden darf, das mit ihm gekennzeichnete Problem zu lösen. Danach wird dieser Begriff überflüssig.“ (Lit.: Görnitz, S. 754)

Schädlich ist überdies ein inflationärer Gebrauch des Emergenzbegriffs, um voreilig Erklärungslücken zu schließen, die durch einen entsprechenden Forschungseinsatz sehr wohl mittels eines reduktionistischen Ansatzes zu überbrücken wären.

Das Gegenteil der Emergenz, das Verschwinden von Eigenschaften, wird als Submergenz bezeichnet. Tatsächlich ist die Emergenz neuer Phänomene in einem übergeordneten ganzheitlichen System stets mit einer Submergenz der Eigenschaften seiner Teile verbunden, die aber in dem höheren Ganzen gleichsam im Sinne Hegelsaufgehoben“ sind und bei der Zerteilung des Systems wieder in Erscheinung treten können. Darauf hatte schon Rudolf Steiner in seinen Ausführungen über die Ureiweißatmosphäre der Erde hingewiesen. Das Eiweiß sei nicht einfach aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff aufgebaut, sondern eine höher geartete Substanz:

„Heute denkt man sich überhaupt bei allem: es sei zusammengesetzt; aber das ist ein Unsinn. Dasjenige, was man als gewisse höher geartete Substanzen kennt, das ist nicht immer aus dem zusammengesetzt, was dann erscheint, wenn man es analysiert; sondern die Dinge hören auf, in der höheren Substanz darinnen zu sein. Der Kohlenstoff ist da drinnen nicht Kohlenstoff, der Sauerstoff nicht Sauerstoff und so weiter, sondern das ist eine höher geartete Substanz.“ (Lit.:GA 232, S. 74)

Diese Aussage entspricht dem Konzept der modernen Quantentheorie. Der Chemiker Hans Primas betonte daher:

„Wenn wir die Quantenmechanik für eine gute Theorie der Materie halten, dann ist die Aussage «Die Materie ist aufgebaut aus elementaren Bausteinen» naturwissenschaftlich falsch. Entscheidend ist nicht die Tatsache, dass die Atome der Chemiker weiter teilbar sind – das wäre eine triviale Nomenklaturfrage –, sondern dass die materielle Realität ein Ganzes ist, das überhaupt nicht aus Teilen aufgebaut ist.“ (Lit.: Primas, S. 50)

Da sich gegenwärtig viele Forscher dem Reduktionismus verpflichtet fühlen, wollen sie nur ein schwachen Form der Emergenz akzeptieren, d.h. eine nur vorläufigen Unerklärbarkeit emergenter Systeme aus ihren Elementen. Darin läge gerade die Aufgabe und der Fortschritt der Wissenschaft, dass sie immer mehr komplexe Phänomene auf elementare Grundlagen zurückführe - und das sei in der Vergangenheit auch immer wieder höchst erfolgreich gelungen. Das sei geradezu ein Beweis für die Fruchtbarkeit des Reduktionismus, dass aus elementaren Grundlagen auch hochkomplexe Phänomene emergieren könnten. Und nur so könne eine einheitliche (monistische) Wissenschaftsgrundlage geschaffen werden. So betonte etwa der Physiker und Nobelpreisträger (1969) Murray Gell-Mann:

„Wir müssen diese Prinzipien also nicht als eigenständige metaphysische Axiome annehmen. Sie folgen aus der grundlegenden Theorie. Sie sind was wir emergente Eigenschaften nennen. Man braucht nicht -- man braucht nicht noch etwas, um noch etwas zu bekommen. Das bedeutet Emergenz. Das Leben kann aus Physik und Chemie entstehen, plus eine Menge Zufälle. Der menschliche Geist kann aus Neurobiologie und einer Mene Zufälle entspringen, so wie chemische Verbindungen aus Physik und bestimmten Zufällen entstehen. Es schmälert nicht die Bedeutung dieser Fächer zu wissen, dass sie grundlegenderen Gesetzen folgen, und Zufällen. Das ist die allgemeine Regel und es ist von entscheidender Bedeutung, dass zu erkennen. Man braucht nicht etwas mehr, um etwas mehr zu bekommen.“

Murray Gell-Mann: Beauty and truth in physics, Vortrag im März 2007 in Monterey, Kalifornien video transcript

So einseitig das reduktionistische Bestreben auch ist, kann es dennoch, wenn es an seine Grenzen stößt, zugleich die beste Grundlage dafür schaffen, klar und deutlich jene Erscheinungen zu identifizieren die nun tatsächlich eine starken Form der Emergenz zeigen. Damit wird der Blick auf neue Seinsebenen mit eigenständigen Gesetzmäßigkeiten eröffnet, die grundsätzlich nicht auf jene der darunterliegenden Ebenen reduziert werden können und mit diesen zwar nicht in einer im physikalischen Sinn kausalen, sehr wohl aber in einer gesetzmäßigen ideellen Verbindung stehen. Ziel der Wissenschaft muss es dann sein, die eigenständigen Gesetzmäßigkeiten der höheren Seinsebenen mit ihnen gemäßen, noch zu entwickelnden bzw. weiterzuentwickelnden Methoden zu erforschen und ihren ideellen Bezug zu den unteren Daseinsebenen aufzuklären.

Wäre alles Geschehen innerhalb der physischen Welt streng deterministisch, so wäre diese allerdings vollkommen in sich abgeschlossen und ausschließlich durch sich selbst bestimmt. Die starke Form der Emergenz wäre dann unmöglich. Nach den Ergebnissen der Quantentheorie ist aber ein durchgängiger Determinismus innerhalb der physikalisch fassbaren Welt nicht haltbar. Im Rahmen der Quantenmechanik sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen über künftige Beobachtungen möglich, was nach der Kopenhagener Deutung bedeutet, dass das raum-zeitliche Verhalten eines mikrophysikalischen Systems grundsätzlich indeterminiert ist, dafür aber ein streng gesetzmäßig geordnetes Feld von Möglichkeiten eröffnet. Auch für die moderne Evolutionstheorie ist der - quantentheoretisch zu rechtfertigende - Zufall ein wesentlicher Faktor. Gerade dadurch eröffnet sich aber aus geisteswissenschaftlicher Sicht der Ausblick auf höhere „emergente“ Weltebenen, die gesetzmäßig mit den untergeordneten Ebenen verbunden sind.

In der Anthroposophie werden folgende vier grundlegenden Weltebenen unterschieden:

Peter Heusser bemerkt dazu:

„Sucht man Wirklichkeit nicht nur im Wahrgenommenen, Erscheinenden, sondern anerkennt man im Sinne des ontologischen Universalienrealismus auch dessen Gesetzmäßigkeit als zu seiner Wirklichkeit dazugehörig, dann erscheint Monismus unter Beibehaltung der seinsmäßigen Verschiedenheit der Erscheinungswelt erreichbar. Denn das Gemeinsame (monistische) der verschiedenen (dualistischen) Erscheinungen muss dann nicht mehr auf der Erscheinungsseite erzwungen werden - was unmöglich ist-, sondern liegt auf der Gesetzesseite des Erkannten erfahrbar vor: Die Gesetze der psychischen und physischen Erscheinungen haben zwar ihren je verschiedenen, spezifischen Inhalt. Aber ihrer Form nach sind alle in derselben Weise Gesetze, bestehen also gewissermaßen aus derselben «Substanz». Diese ist reiner Geist, um mit Hegel zu sprechen.

Deswegen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Physischem und Geistigem nicht erst beim Gehirn-Geist-Problem, sondern bereits beim Physischen selbst (vgl. Kap. 3.2). Und da kann aufgrund des erkenntniswissenschaftlich Beobachtbaren zunächst nicht mehr und nicht weniger gesagt werden als: Die räumlichen Erscheinungen des Physischen erweisen sich als konstituiert von ihren Gesetzen, die zeitlichen Prozesse des Lebendigen erweisen sich als geprägt von den ihrigen, die psychischen Phänomene folgen psychologischen Gesetzen, und die im Denken erreichbaren rein geistigen Phänomene, der Inhalt der Gesetze selbst, folgt rein logischen Gesetzen bzw. ist logischer Natur. Das Konstitutive (Gesetzliche) jeder Schicht, der physischen, organischen, seelischen und geistigen, ist auf gleiche Weise im Denken erreichbar, aber die jeweiligen Erscheinungen können nur auf ganz verschiedenartigen Beobachtungswegen und auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen des Seins erreicht werden. Das gesamte Sein ist also seiner Erscheinung nach - nicht dualistisch, sondern multiperspektivisch, seiner gesetzmäßigen Essenz nach monistisch.“ (Lit.: Heusser, S. 191)

und weiter:

„Resultate dieses Vorgehens sind , dass jedem Phänomenbereich seine eigenen Eigenschaften und Gesetze zugesprochen werde können, die nicht aus denenigen anderer Phanomenbereiche ableitbar sind, dass nicht nur die Phänomene, sondern auch die sie bestimmenden Gesetze zur Wirklichkeit gehören, dass gegenseitige Abhängigkeit der Phänomenbereiche nicht nur Verursachung zu sein braucht, sondern auch Bedingung sein kann, dass Kausalität nicht nur Fremdverursachung, sondern auch Selbstverursachung bedeuten kann, kurz, dass verschiedene Formen von Wirksamkeit anerkannt und alle Phänomenbereiche der Wirklichkeit als epistemologisch und ontologisch gleichberechtigt angesehen werden müssen. Durch Integration der Erkenntnisse aus diesen Bereichen ergibt sich eine umfassende wissenschaftliche Sicht auf den Menschen in seiner komplexen physischen, lebendigen, seelischen und geistigen Realität, eine Sicht, die mit Recht eine «integrative» oder «Ganzheitsauffassung» genannt werden kann.“ (Lit.: ebd. S. 251)

Siehe auch

Literatur

  • Aristoteles: Metaphysik. Griechisch–deutsch. Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ, Erster Halbband (Bücher I–VI), 3. verbesserte Auflage, Meiner, Hamburg 1989, ISBN 978-3-7873-0932-0, Zweiter Halbband (Bücher VII–XIV), 3. verbesserte Auflage, Meiner, Hamburg 1991, ISBN 978-3-7873-1021-0 Einführender Kommentar
  • Aristoteles: Metaphysik. Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz durch Horst Seidl, Band 5 der Aristoteles Studienausgabe „Philosophische Schriften“, Meiner, Hamburg 1995, ISBN 978-3-7873-1243-6
  • Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Hrsg. und übersetzt von Franz Schwarz, Reclam, Stuttgart, ISBN 978-3-15-007913-3
  • Aristoteles: Metaphysik. Übersetzt von Thomas A. Szlezak, Akademie Verlag, Berlin 2003, ISBN 978-3-05-003879-7
  • Aristoteles: Metaphysik, übersetzt und kommentiert von Hans G. Zekl, Königshausen & Neumann, 2003, ISBN 978-3-8260-2555-6
  • W. D. Ross: Aristotle’s Metaphysics. Oxford: Clarendon Press, 2. A. 1953. Mit umfangreichem Kommentar
  • Hans Primas: Umdenken in der Naturwissenschaft in: Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1992) 137/l, S. 41-62 (genehmigter Nachdruck aus «GAIA; Ecological Perspectives in Science, Humanities and Economics» (1992) 1, l, 5-15 pdf
  • Marek B. Majorek: Rudolf Steiners Geisteswissenschaft: Mythisches Denken oder Wissenschaft?, 2 Bände, Verlag Narr Francke Attempto, Tübingen 2015, ISBN 978-3772085635, eBook: ASIN B0714F4N5R
  • Bernhard Kiefer: Das Prinzip der Emergenz. Schweizerischer Nationalfonds. Horizonte 2007
  • Thomas und Brigitte Görnitz: Von der Quantenphysik zum Bewusstsein - Kosmos, Geist und Materie. Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg, 2016, ISBN 978-3-662-49081-5.
  • Peter Heusser: Anthroposophie und Wissenschaft: Eine Einführung. Erkenntniswissenschaft, Physik, Chemie, Genetik, Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Philosophie des Geistes, Anthropologie, Anthroposophie, Medizin, Verlag am Goetheanum, Dornach 2016, ISBN 978-3723515686
  • Rudolf Steiner: Mysteriengestaltungen, GA 232 (1998), ISBN 3-7274-2321-8 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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