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[[Bild:DuBois-Reymond.jpg|thumb|Emil Heinrich du Bois-Reymond prägte den Ausspruch „Ignoramus et ignorabimus“]]
#REDIRECT [[Ignoramus et ignorabimus]]
'''Ignoramus et ignorabimus''' ([[lat.]] „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“) ist ein Ausspruch des Physiologen [[Emil Heinrich Du Bois-Reymond|Emil Heinrich Du Bois-Reymond]], der bekannt geworden ist als ein Ausdruck der [[Skepsis]] gegenüber den Erklärungsansprüchen der [[Naturwissenschaft]]en. Das vollständige Zitat lautet:
:''„Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein „Ignoramus“ auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: „Ignorabimus“.'' (Über die Grenzen des Naturerkennens, S 464)
 
Du Bois-Reymond äußerte die Worte erstmals 1872 in dem Vortrag „Über die Grenzen des Naturerkennens“, den er auf der Versammlung der [[Wikipedia:Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte|Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte]] (GDNÄ) in [[Wikipedia:Leipzig|Leipzig]] hielt. Du Bois-Reymond postuliert hier zwei grundsätzliche Grenzen des Naturerkennens: Unerkennbar sei zum einen das Wesen von Materie und Kraft, zum anderen das Verhältnis, in dem Bewusstseinszustände zu ihren materiellen Voraussetzungen stehen.
 
In seinem 1880 vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gehaltenen Vortrag „Die sieben Welträthsel“ unterscheidet er – wie der Titel schon sagt – insgesamt sieben [[Wikipedia:Welträtsel|Welträtsel]], von denen er einige für grundsätzlich unlösbar hält:
 
*1. Das Wesen der Materie und Kraft
*2. Der Ursprung der Bewegung
*3. Die Entstehung der Empfindung
*4. Die Entstehung des Lebens
*5. Die zweckmäßige Einrichtung der Natur
*6. Das menschliche Denken und Sprechen.
*7. Die Willensfreiheit
 
Die ersten drei Welträtsel bezeichnete Du Bois-Reymond im Kantischen Sinne als [[transzendent]], mithin prinzipiell unlösbar. Die der [[Evolution|Entstehung des Lebens]] und der zweckmäßigen Einrichtung der Natur hielt Du Bois-Reymond dagegen für prinzipiell lösbar, wenn auch noch nicht für gelöst.<ref>Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Geschichte der Philosophie, Bd. 2, S. 721</Ref> Die Fähigkeit des vernünftigen Denkens und die damit verbundene Frage nach dem Ursprung der Sprache sei ebenfalls grundsätzlich aufklärbar. Ob das Rätsel der menschlichen Willensfreiheit lösbar sei, ließ er hingegen offen, bemühte sich indes, dieses Rätsel – wie das der menschlichen Sprache – im Erklärungsrahmen eines psychologischen [[Determinismus]] aufzuklären.<ref>Kirchner/Michaelis, ''Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe'', Geschichte der Philosophie, S. 282</Ref>
 
Du Bois-Reymonds Thesen erregten große Aufmerksamkeit und wurden sehr kontrovers diskutiert. [[Ernst Haeckel]]s erfolgreichstes Buch „Die Welträthsel“ etwa ist eine Reaktion auf die Thesen Du Bois-Reymonds. Auch der [[Mathematik]]er [[David Hilbert]], der von einer grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen [[Natur]] und [[Denken]], zwischen [[Experiment]] und [[Theorie]], überzeugt war, trat den Ansichten Du Bois-Reymonds entgegen:
 
{{LZ|Für den Mathematiker
gibt es kein Ignorabimus, und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaft
überhaupt nicht. Einst sagte der Philosoph COMTE - in der Absicht,
ein gewiß unlösbares Problem zu nennen -, daß es der Wissenschaft
nie gelingen würde, das Geheimnis der chemischen Zusammensetzung der
Himmelskörper zu ergründen. Wenige Jahre später wurde durch die Spektralanalyse
von KIRCHHOFF und BUNSEN dieses Problem gelöst, und heute können
wir sagen, daß wir die entferntesten Sterne als wichtigste physikalische
und chemische Laboratorien in Anspruch nehmen, wie wir solche auf der
Erde gar nicht finden. Der wahre Grund, warum es COMTE nicht gelang, ein
unlösbares Problem zu finden, besteht meiner Meinung nach darin, daß es ein
unlösbares Problem überhaupt nicht gibt. Statt des törichten Ignorabimus
heiße im Gegenteil unsere Losung:
 
<center>Wir müssen wissen,<br />
Wir werden wissen.</center>|D. Hilbert, S. 387}}
 
[[Rudolf Steiner]] hatte sich schon in seinen frühen [[Erkenntnistheorie|erkenntnistheoretischen]] Schriften gegen die Annahme prinzipiell unüberschreitbarer Erkenntnisgrenzen ausgesprochen. In seiner «[[Philosophie der Freiheit]]» ([[GA 4]]) heißt es:
 
{{GZ|Wir haben festgestellt, daß die Elemente zur Erklärung der
Wirklichkeit den beiden Sphären: dem Wahrnehmen und
dem Denken zu entnehmen sind. Unsere Organisation bedingt
es, wie wir gesehen haben, daß uns die volle, totale
Wirklichkeit, einschließlich unseres eigenen Subjektes, zunächst
als Zweiheit erscheint. Das Erkennen überwindet
diese Zweiheit, indem es aus den beiden Elementen der
Wirklichkeit: der Wahrnehmung und dem durch das Denken
erarbeiteten Begriff das ganze Ding zusammenfügt. Nennen
wir die Weise, in der uns die Welt entgegentritt, bevor sie
durch das Erkennen ihre rechte Gestalt gewonnen hat, die
Welt der Erscheinung im Gegensatz zu der aus Wahrnehmung
und Begriff einheitlich zusammengesetzten Wesenheit.
Dann können wir sagen; Die Welt ist uns als Zweiheit
(dualistisch) gegeben, und das Erkennen verarbeitet sie zur
Einheit (monistisch). Eine Philosophie, welche von diesem
Grundprinzip ausgeht, kann als monistische Philosophie
oder ''[[Monismus]]'' bezeichnet werden.|4|112}}
 
{{GZ|''Du Bois-Reymond'' denkt, daß
die unwahrnehmbaren Atome der Materie durch ihre Lage
und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, um dann
zu dem Schlüsse zu kommen: Wir können niemals zu einer
befriedigenden Erklärung darüber kommen, wie Materie
und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, denn «es
ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer
Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff-
usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie
liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten,
wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner
Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewußtsein
entstehen könne». Diese Schlußfolgerung ist charakteristisch
für die ganze Denkrichtung. Aus der reichen
Welt der Wahrnehmungen wird abgesondert: Lage und Bewegung.
Diese werden auf die erdachte Welt der Atome
übertragen. Dann tritt die Verwunderung darüber ein, daß
man aus diesem selbstgemachten und aus der Wahrnehmungswelt
entlehnten Prinzip das konkrete Leben nicht
herauswickeln kann.|4|114}}
 
{{GZ|Es folgt aus dem Begriffe des Erkennens, wie wir ihn
bestimmt haben, daß von Erkenntnisgrenzen nicht gesprochen
werden kann. Das Erkennen ist keine allgemeine Weltangelegenheit,
sondern ein Geschäft, das der Mensch mit
sich selbst abzumachen hat. Die Dinge verlangen keine Erklärung.
Sie existieren und wirken aufeinander nach den
Gesetzen, die durch das Denken auffindbar sind. Sie existieren
in unzertrennlicher Einheit mit diesen Gesetzen. Da
tritt ihnen unsere Ichheit gegenüber und erfaßt von ihnen
zunächst nur das, was wir als Wahrnehmung bezeichnet
haben. Aber in dem Innern dieser Ichheit findet sich die
Kraft, um auch den andern Teil der Wirklichkeit zu finden.
Erst wenn die Ichheit die beiden Elemente der Wirklichkeit,
die in der Welt unzertrennlich verbunden sind, auch für
sich vereinigt hat, dann ist die Erkenntnisbefriedigung eingetreten:
das Ich ist wieder bei der Wirklichkeit angelangt.
Die Vorbedingungen zum Entstehen des Erkennens sind
also durch und für das Ich. Das letztere gibt sich selbst die
Fragen des Erkennens auf. Und zwar entnimmt es sie aus
dem in sich vollständig klaren und durchsichtigen Elemente
des Denkens. Stellen wir uns Fragen, die wir nicht beantworten können, so kann der Inhalt der Frage nicht in allen
seinen Teilen klar und deutlich sein. Nicht die Welt stellt an
uns die Fragen, sondern wir selbst stellen sie.|4|115f}}
 
Erkenntnisgrenzen seien laut Steiner stets nur temporärer Natur und könnten durch die geistige Entwicklung des Menschen auch immer wieder überwunden werden. In seinen Vorträgen über «[[Grenzen der Naturerkenntnis]]» ([[GA 322]]) sagte er dazu:
 
{{GZ|Im Grunde genommen
will dieses Ignorabimus sagen: Wir haben uns in der historischen
Menschheitsentwickelung auf der einen Seite zur Klarheit an
der Natur gebracht und den Materiebegriff konstruiert. Wir haben in
diesem Naturbilde den Menschen, das heißt, uns selbst verloren. Wir
sehen wiederum zurück in unser Bewußtsein. Wir wollen dasjenige,
was wir uns als das Bedeutsamste für die neuere Naturerklärung errungen
haben, die Klarheit, da drinnen anwenden. Das Bewußtsein
stößt diese Klarheit wieder aus. Diese mathematische Klarheit läßt
sich nicht anwenden. Wir finden zwar den Menschen, aber unser Bewußtsein
ist noch nicht stark genug, noch nicht intensiv genug, um
diesen Menschen zu erfassen.
 
Man möchte wiederum mit einem Ignorabimus antworten. Das
darf aber nicht sein, denn wir brauchen etwas anderes als ein Ignorabimus
gegenüber den sozialen Forderungen der modernen Welt. Nicht
in einer Einrichtung der Menschennatur, sondern einfach in dem gegenwärtigen
Stande der historischen Menschheitsentwickelung liegt die
Grenzbestimmung, zu der am 14. August 1872 Du Bois-Reymond mit
seinem Ignorabimus gekommen ist. Wie ist über dieses Ignorabimus
hinauszukommen? Das ist die große Frage. Sie muß beantwortet werden,
nicht aus einem bloßen Erkenntnisbedürfnis heraus, sondern aus
einem allgemeinsten Menschheitsbedürfnisse heraus.|322|18f}}
 
Noch heute gibt es in der [[Philosophie des Geistes]] – und besonders in der [[Qualia]]debatte – zahlreiche Reaktionen auf die Ignoramus-et-ignorabimus-Rede, da Du Bois-Reymond das [[Bewusstsein]] für grundsätzlich unerklärlich hielt. Er behauptete:
 
:''Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: "Ich fühle Schmerz, ruhte Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot," und der ebenso unmittelbar daraus fließenden Gewißheit: "Also bin ich"? Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammensein Bewußtsein entstehen könne.'' {{Lit|Über die Grenzen des Naturerkennens, S 458}}
 
Auf diese Argumentation wurde etwa von [[Peter Bieri]] (Zustimmung) und [[Wikipedia:Hans Flohr|Hans Flohr]] (Ablehnung) Bezug genommen.
 
== Literatur ==
 
* Emil du Bois-Reymond: ''Über die Grenzen des Naturerkennens'', 1872, Nachdruck u.a. in: Emil du Bois-Reymond: ''Vorträge über Philosophie und Gesellschaft'', Hamburg, Meiner, 1974.
* Ders.: ''Die sieben Welträthsel'', 1880, Nachdruck u.a. in: Emil du Bois-Reymond: ''Vorträge über Philosophie und Gesellschaft'', Hamburg, Meiner, 1974.
* [[David Hilbert]]: ''[http://www-gdz.sub.uni-goettingen.de/cgi-bin/digbib.cgi?PPN237820250 Gesammelte Abhandlungen]''. Dritter Band: ''[http://www-gdz.sub.uni-goettingen.de/cgi-bin/digbib.cgi?PPN237834022 Analysis, Grundlagen der Mathematik, Physik, Verschiedenes, Lebensgeschichte]''. Julius Springer, Berlin 1935
* Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit, hg. v. Kurt Bayertz et al., Hamburg, Meiner, 2007.
* [[Rudolf Steiner]]: ''Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften'', [[GA 1]] (1987), ISBN 3-7274-0011-0 {{Schriften|001}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung''. 8. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2002, ISBN 3-7274-0020-X {{Schriften|002}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Wahrheit und Wissenschaft''. 5. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1980, ISBN 3-7274-0030-7 {{Schriften|003}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Philosophie der Freiheit'', [[GA 4]] (1995), ISBN 3-7274-0040-4 {{Schriften|004}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?'', [[GA 10]] (1993), ISBN 3-7274-0100-1 {{Schriften|010}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Geheimwissenschaft im Umriß'', [[GA 13]] (1989), ISBN 3-7274-0130-3 {{Schriften|013}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Grenzen der Naturerkenntnis'', [[GA 322]] (1981), ISBN 3-7274-3220-9 {{Vorträge|322}}
 
{{GA}}
 
== Weblinks ==
* ''Über die Grenzen des Naturerkennens'' [http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit28636 Digitalisat]
* ''Die sieben Welträtsel'' [http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit28646 Digitalisat]
* [http://freenet-homepage.de/mvhs.philosophie/Weltraetsel.htm E. Du Bois-Reymond: ''Die sieben Welträtsel'']
 
== Einzelnachweise ==
<references/>
 
[[Kategorie:Erkenntnistheorie]]
 
{{Wikipedia}}

Aktuelle Version vom 17. Februar 2010, 15:53 Uhr

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