Spekulation (Philosophie) und Abstraktion: Unterschied zwischen den Seiten

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'''Spekulation''' (von [[Wikipedia:latein|latein]] speculari: ''beobachten'') ist eine [[Philosophie|philosophische]] Denkweise zu [[Erkenntnis]]sen zu gelangen, indem man über die herkömmliche empirische oder praktische Erfahrung hinausgeht und sich auf das Wesen der Dinge und ihre ersten [[Prinzip|Prinzipien]] richtet. Der griechische Begriff "theoria" (Betrachtung) wurde im Lateinischen durch "speculatio" übersetzt und bedeutete gleichzeitig auch [[Kontemplation|"contemplatio"]].
Die '''Abstraktion''' (von [[lat.]] ''abs-trahere'' „abziehen, entfernen, trennen“) bezeichnet einen [[Denken|Denkprozess]], bei dem von [[konkret]]en einzelnen [[Objekt]]en allgemeingültige Eigenschaften abgezogen, d.h. abstrahiert und zu [[Allgemeinbegriffe]]n geformt werden. Von den Eigenschaften, die nur das einzelne Objekt betreffen, wird dabei abgesehen. Die [[Fähigkeit]] zur Abstraktion beruht auf der [[Intentionalität]] des [[Ich-Bewusstsein]]s, wodurch die [[Aufmerksamkeit]] [[wille]]ntlich auf ein bestimmtes Objekt bzw. auf einzelne seiner Details oder die diesen entsprechenden inneren [[Vorstellung]]en gerichtet werden kann. Nur mit entsprechender Abstraktionsfähigkeit lassen sich ''sinnlichkeitsfreie'' [[Vorstellung]]en gewinnen, die grundlegend für die [[geist]]ige [[Erkenntnis]] sind. Daher lautet auch eine der vier [[Grundregeln]] für den [[Geistesschüler]]: ''Es obliegt mir, die Scheu vor dem sogenannten Abstrakten zu überwinden.''


Umgangssprachlich wird der Ausdruck Spekulation abwertend so verwendet, dass man etwas behauptet, was man nicht belegen kann, dem also die [[rational]]e Basis fehlt.
{{GZ|Solange ein esoterischer Schüler an Begriffen hängt, die ihr Material
aus der Sinneswelt nehmen, kann er keine Wahrheit über die
höheren Welten erlangen. Er muß sich bemühen, sinnlichkeitsfreie
Vorstellungen sich anzueignen. Von allen vier Regeln ist
diese die schwerste, insbesondere in den Lebensverhältnissen unseres
Zeitalters. Das materialistische Denken hat den Menschen in
hohem Grade die Fähigkeit genommen, in sinnlichkeitsfreien
Begriffen zu denken. Man muß sich bemühen, entweder solche
Begriffe recht oft zu denken, welche in der äußeren sinnlichen
Wirklichkeit niemals vollkommen, sondern nur annähernd vorhanden
sind, zum Beispiel den Begriff des Kreises. Ein vollkommener
Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden,
aber allen kreisförmigen Gebilden liegt dieser gedachte Kreis als
ihr Gesetz zugrunde. Oder man kann ein hohes sittliches Ideal
denken; auch dieses kann in seiner Vollkommenheit von keinem
Menschen ganz verwirklicht werden, aber es liegt vielen Taten der
Menschen zugrunde als ihr Gesetz. Niemand kommt in einer
esoterischen Entwickelung vorwärts, der nicht die ganze Bedeutung
dieses sogenannten Abstrakten für das Leben einsieht und
seine Seele mit den entsprechenden Vorstellungen bereichert.|267|66f}}


== Augustinus ==
== Zu unterscheidende Bedeutungen von "abstrakt" ==
[[Wikipedia:Augustinus|Augustinus]] deutete den Begriff in bewusster Abgrenzung zur Tradition um: Unter Berufung auf 1.Kor. 13, 12 leitete er ihn von "speculum" (Spiegel) ab. In der Spekulation erblicke der Mensch die Wahrheit wie in einem dunklen Spiegel. Dieser Spiegel ist aufgrund des Sündenfalls verdunkelt, und der Mensch selbst stelle als geistiges Wesen und als Abbild Gottes den Spiegel dar, der durch gläubige Hinwendung zu Gott heller werden kann. Der Begriff wird hier mit Elementen der [[Neuplatonismus|neuplatonischen]] [[Emanation]]slehre überformt.


== Scholastik ==
Dem eigentlichen Wortsinn nach ist die Abstraktion ein Abziehen, und ein abstrakter Begriff ein den Wahrnehmungen „entnommener“, an ihnen gebildeter Begriff. Es werden jedoch auch Allgemeinbegriffe, die man nicht als von Wahrnehmungen abstrahiert auffasst, als „abstrakte“ Begriffe bezeichnet, i.S.v. Gedachtheit, wie im obigen Zitat Steiners: „Ein vollkommener Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden.“ Dabei bedeutet dieses Denken des vollkommenenen Kreises nicht ein Abstrahieren von den einzelnen konkret wahrnehmlichen einzelnen Kreisen, sondern das Fassen der Idee des Kreises aus dem Geistigen heraus. Dieses Fassen der Idee des Kreises ist gerade keine Abstraktion im Sinne der Konstruktion anhand von sinnlichen Wahrnehmungen, sondern liegt den Wahrnehmungen der konkreten einzelnen Kreise als Idee voraus, welche überhaupt erst die Wahrnehmung von Kreisen möglich macht. Diese allgemeine Idee eines Kreises z.B. wird gelegentlich auch als „abstrakte“ Idee bezeichnet, ohne daß damit eine Auffassung der Idee als „bloß abstrahiert“ im [[Nominalismus|nominalistischen]] Sinne verbunden sein muß.
In der [[Scholastik]] wird die Spekulation als Erkenntnis der Dinge in Gott durch die Begriffe des Denkens zur Form des Erkennens schlechthin. Das menschliche, [[diskursiv]]e Denken kann auf höchste Begriffe ([[Transzendentalien]]) zurückgeführt werden, wodurch es Anteil am intuitivem göttlichen Denken erlangen kann. Daher spielt in der Scholastik das formale Verfahren ([[Wikipedia:Syllogismus|Syllogismus]]) eine große Rolle, durch das der Mensch das Wesen der Dinge zwar nicht unmittelbar, aber auf vermittelte Weise begreift.


== Ockham ==
Gemäß der Erkenntnistheorie Rudolf Steiners wird der allgemeine Begriff aus dem Geistigen durch [[Intuition]] gefaßt und mit einem Wahrnehmlichen zu seiner Wirklichkeit verbunden. Es handelt sich also nicht um ein Abstrahieren aus der Wahrnehmung, sondern um ein Heranbringen eines Begriffes an eine Wahrnehmung und das Herstellen einer Verbindung zwischen Begriff und Wahrnehmung. Tatsächlich abstrahiert wird lediglich die (hinsichtlich des besonderen Wahrnehmungsbezugs [[konkret]]e) [[Vorstellung]], d.i. ein individualisierter Begriff, der aus der durch die gewöhnlich unbewußt sich vollziehende Wirklichkeitsbildung im Nachherein gebildet wird. Die Vorstellung wird jedoch nicht aus dem Reinwahrnehmlichen abstrahiert, sondern aus der vollzogenen Wirklichkeit einer Vereintheit von Allgemeinbegriff und einem besonderen Wahrnehmlichen. Die abstrakte Vorstellung repräsentiert im Bewußtsein die Wirklichkeit, in ihr kommt die vollzogene Wirklichkeitsbildung aus Begriff und Wahrnehmung zum Bewußtsein.<ref>[[Herbert Witzenmann]] unterscheidet zwischen inhärenter und repräsentierender Vorstellung. Vgl. H. Witzenmann: [[Sinn und Sein. Der gemeinsame Ursprung von Gestalt und Bewegung]], S. 91ff. Die inhärente Vorstellung ist diejenige, die sich bei einer Verbindung von Begriff und Wahrnehmung unmittelbar bildet. Die Vorstellung sitzt dabei gewissermaßen direkt im Gegenstand drin, die Denkbewegung löst sich aber gleich wieder heraus. Die repräsentierende Vorstellung ist dagegen eine Erinnerung.  "Im Erinnern wird der inhärierte Begriff von seinen Haftpunkten wieder abgelöst. Dies ist insofern und insoweit möglich, als der Vorgang der Inhärenzbildung seine Spuren sowohl in der Organisation des Urteilenden als Konditionen (Engramme) als auch in seiner Aktionsbereitschaft in der Art eines Übungserfolgs, als Disposition (Erinnerungsneigung und -erübung) hinterlassen hat, also dem "Gedächtnis" verblieb. Im Erinnern wird der individualisierte Begriff aus seinem Zusammenhang mit dem Wahrnehmlichen herausgeschält und isoliert. Die Erinnerung ist eine von ihren Haftpunkten losgelöste, doch deren Einprägungen beibehaltende Vorstellung. Hierbei handelt es sich um einen Abstraktionsvorgang, um ein Ablösen eines stellvertretenden Gebildes von den konkreten gebildehaften Gegebenheiten. (...) Nicht der lebendig-bewegliche allgemein-urbildliche, sondern der individualisierte, repräsentierende Begriff wird abstrahiert." (S. 91)</ref> Solche abstrakten Vorstellungen werden durch sinnlichkeitsfreies Denken überwunden, indem die Ideen als solche gedacht und zum Bewußtsein kommen. Dieses sinnlichkeitsfreie Denken wird aber wiederum auch als "abstraktes" Denken bezeichnet. Auch bei der Wortverwendung "Vorstellung" ist darauf zu achten, was gemeint ist. Rudolf Steiner selbst verwendet das Wort "Vorstellung" nicht nur für die individualisierten Begriffe, sondern auch für erfaßte Ideen, also Allgemeinbegriffe, die ''nicht'' abstrahiert sind im erläuterten Sinne.
Nach der Überwindung des [[Universalienstreit]]s wurde durch [[Wikipedia:Wilhelm von Ockham|Wilhelm von Ockham]] dem scholastischen Verständnis der Spekulation die Basis entzogen. Er setzte an die Stelle der Vermittlung des Erkennens über die Teilhabe an der göttlichen Intuition die unmittelbare intuitive Erkenntnis der Einzeldinge, die zu sinnlichen Wahrnehmung parallel verläuft. Damit bereitete Ockham den neuzeitlichen [[Empirismus]] vor, welcher in starken Kontrast zur Spekulation tritt.


== Kant ==
Ein weiteres Verständnis von Abstraktion ist dasjenige von Freilegung des Wesentlichen. Die [[Phänomenologie|phänomenologische]] [[Wesensschau]] sucht mittels der Methode der [[eidetische Reduktion|eidetischen Variation]] in den gegebenen Sachen, den Gegenständen des Bewußtseins, ihr jeweiliges Wesen auf. Insofern dieses Wesen eines Tisches z.B. als der Allgemeinbegriff des Tisches angesehen wird, kann man eine so verstandene Abstraktion als das Aufsuchen des Wesens oder Begriffes in einem (vorstellungsmäßig) gegebenen Wirklichen ansehen. Ob man das schließliche Erfassen des reinen Wesens oder Begriffes als ein erneutes, nunmehr bewußtes Hervorbringen des Begriffes aus dem Geistigen ins Bewußtsein auffäßt, oder diesen Begriff als im Gegenstand ruhend versteht, ist dabei für die Erfassung des Wesentlichen nicht relevant<ref>[[Husserl]] wendet sich mit seiner "transzendentalen" Phänomenologie im Gegensatz zu den realistischen Phänomenologen den davorliegenden Denkprozessen und Bewußtseinserlebnissen zu. Es ist zwar richtig, in einem erfaßten Begriff schon ein Geistiges zu sehen. Das Wesen des Geistigen selbst erschließt sich so aber noch nicht. [[Aufmerksamkeit]] und [[Denkaktivität]]en wie das Erfassen als dem Ergreifen von Geistigem sind als geistige Phänomene keine Begriffe, sondern deren Quellen, oder zumindest in diesen als von den Begriffen selbst unterschieden lebend. Eine Untersuchung solcher Phänomene erschöpft sich nicht in Begriffsanalyse und reicht weiter in das Wesen des Geistigen selbst hinein. "Das Denken ist ''jenseits'' von Subjekt und Objekt." ([[GA 4]]).</ref>. Der Begriff wird jedenfalls nach phänomenologischer Auffassung nicht aus einem begriffslosen Wahrnehmlichen abstraktiv generiert, wie es z.B. ein [[Sensualismus|Sensualist]] wie [[David Hume]] annimmt, und seine Erfassung oder Bildung wird auch nicht als ein rein konstruktives Geschehen lediglich im Bewußtsein ([[Abbildtheorie]], [[Konstruktivismus (Philosophie)|Konstruktivismus)]] angesehen.
[[Immanuel Kant|Kant]] steht in der Tradition der empiristischen Sichtweise. Bei ihm wird unter spekulativer Vernunft eine Art transzendente Vernunft im Gegensatz zum immanenten ''Naturgebrauch'' verstanden. Diese Spekulation kann nach Kant keine Erkenntnisse schaffen, was nur die immanente Vernunft kann.


== Hegel ==
== Traum, Abstraktion, Imagination ==
Im [[Deutscher Idealismus|Deutschen Idealismus]] begann eine Rehabilitation des Spekulationsbegriffs.
Für [[Hegel|Hegel]] ist die ''Spekulation'' ein zentraler Begriff seiner [[Dialektik|Dialektik]].


Das ''räsonierende'' Denken Kants bleibe noch ganz in der [[Subjekt-Objekt-Spaltung]] verhaftet. Hegel definiert so den Unterschied der Begriffe Verstand und Vernunft.
Das bildlose abstrakte Denken, wie es heute in den Wissenschaften und immer mehr auch im Alltagsleben gepflegt wird, ist nur eine Durchgangsstufe in der menschheitlichen Entwicklung. Ihm ging ein [[traum]]artiges bildhaftes Denken voran, das sich etwa in den [[Mythologie]]en der verschiedenen Völker niederschlug. Zukünftig wird sich in Form der [[Imagination]] ein vollkommen waches [[Bilderbewusstsein]] entwickeln, bei dem das [[Selbstbewusstsein]], das im [[Traum]] weitgehend verloren geht, voll gewahrt bleibt.


Zur Vernunft wird das philosophische Denken erst durch die spekulative Erweiterung des Verstandes. Besonders anschaulich wird dieser Unterschied in den Vorlesungen zur Religionsphilosophie deutlich gemacht. Der ontologische [[Wikipedia:Gottesbeweis|Gottesbeweis]] wird von Kant kritisiert, weil das tatsächliche Vorhandensein die Definition (gegenüber dem nur vorgestellten) nicht vergrößert.
{{GZ|Aber dieses abstrakte Denken ist nur eine Entwickelungsphase
im Leben der Menschheit. Ihm geht ein bildhaftes, mit
den Dingen verbundenes und in den Menschentaten pulsierendes
Denken voraus. Im bewußten Menschenleben wirkt dieses
Denken allerdings traumhaft, aber es ist der Schöpfer aller
Frühstadien der Kulturen...


Dies ist aus Sicht Hegels aber nur eine quantitative Sichtweise. Im spekulativen Denken wird das Denken um eine qualitative Komponente erweitert (''es schlägt um'', vergleiche auch: [[Wikipedia:Dialektische Grundgesetze|Dialektische Grundgesetze]]).
Doch dieses abstrakte Denken ist nur eine Durchgangs stufe
der denkerischen Fähigkeit. Wer es in seiner völligen Reinheit
erlebt hat, wer seine Kälte und Kraftlosigkeit, aber auch seine
Durchsichtigkeit mit vollem menschlichen Anteil in sich aufgenommen
hat, der kann bei ihm nicht stehen bleiben. Es ist
ein totes Denken; aber es kann zum Leben erweckt werden.
Es hat die Bildhaftigkeit verloren, die es als Traumerlebnis gehabt
hat; aber es kann diese wieder erringen im Lichte eines
intensiveren Bewußtseins. Von traumhafter Bildlichkeit durch
vollbewußte Abstraktion zur ebenso vollbewußten Imagination:
das ist der Entwickelungsgang des menschlichen Denkens.
Der Aufstieg zu dieser bewußten Imagination steht als
Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit. Goethe
hat einen Anfang damit gemacht, indem er für das Verständnis
der Pflanzengestaltung das Ideenbild der Urpflanze
forderte. Und dieses imaginative Denken kann wieder Impulse
des Handelns aus sich heraustreiben.|36|88f}}


== Whitehead ==
== Siehe auch ==
Die organische Philosophie [[Wikipedia:Alfred North Whitehead|Alfred North Whitehead]]s wird von ihm selbst als ''spekulativ'' bezeichnet. Zu einem solchen spekulativen Denken gelangt man, wenn man von eigenen speziellen und perspektivistischen Betrachtungsweisen absieht.
*[[Vorstellung]]
*{{wikipediaDE|Abstraktion}}
*{{wikipediaDE|Abstraktionstheorie}}
*[[konkret]]


[[Kategorie:Metaphysik]]
== Literatur ==
* [[Rudolf Steiner]]: ''Seelenübungen'', [[GA 267]] (2001),  ISBN 3-7274-2670-5 {{Vorträge1|157}}


{{Wikipedia}}
{{GA}}
 
== Weblinks ==
* {{Eisler|Abstract}}
* {{Eisler|Abstraction}}
* {{Kirchner|Abstraktion}}
* {{UTB-Philosophie|Axel Spree|65|Abstrakt}}
 
== Einzelanchweise ==
<references/>
 
[[Kategorie:Philosophie]] [[Kategorie:Erkenntnistheorie]][[Kategorie:Denken]] [[Kategorie:Abstraktum]]

Version vom 20. Oktober 2019, 08:22 Uhr

Die Abstraktion (von lat. abs-trahere „abziehen, entfernen, trennen“) bezeichnet einen Denkprozess, bei dem von konkreten einzelnen Objekten allgemeingültige Eigenschaften abgezogen, d.h. abstrahiert und zu Allgemeinbegriffen geformt werden. Von den Eigenschaften, die nur das einzelne Objekt betreffen, wird dabei abgesehen. Die Fähigkeit zur Abstraktion beruht auf der Intentionalität des Ich-Bewusstseins, wodurch die Aufmerksamkeit willentlich auf ein bestimmtes Objekt bzw. auf einzelne seiner Details oder die diesen entsprechenden inneren Vorstellungen gerichtet werden kann. Nur mit entsprechender Abstraktionsfähigkeit lassen sich sinnlichkeitsfreie Vorstellungen gewinnen, die grundlegend für die geistige Erkenntnis sind. Daher lautet auch eine der vier Grundregeln für den Geistesschüler: Es obliegt mir, die Scheu vor dem sogenannten Abstrakten zu überwinden.

„Solange ein esoterischer Schüler an Begriffen hängt, die ihr Material aus der Sinneswelt nehmen, kann er keine Wahrheit über die höheren Welten erlangen. Er muß sich bemühen, sinnlichkeitsfreie Vorstellungen sich anzueignen. Von allen vier Regeln ist diese die schwerste, insbesondere in den Lebensverhältnissen unseres Zeitalters. Das materialistische Denken hat den Menschen in hohem Grade die Fähigkeit genommen, in sinnlichkeitsfreien Begriffen zu denken. Man muß sich bemühen, entweder solche Begriffe recht oft zu denken, welche in der äußeren sinnlichen Wirklichkeit niemals vollkommen, sondern nur annähernd vorhanden sind, zum Beispiel den Begriff des Kreises. Ein vollkommener Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden, aber allen kreisförmigen Gebilden liegt dieser gedachte Kreis als ihr Gesetz zugrunde. Oder man kann ein hohes sittliches Ideal denken; auch dieses kann in seiner Vollkommenheit von keinem Menschen ganz verwirklicht werden, aber es liegt vielen Taten der Menschen zugrunde als ihr Gesetz. Niemand kommt in einer esoterischen Entwickelung vorwärts, der nicht die ganze Bedeutung dieses sogenannten Abstrakten für das Leben einsieht und seine Seele mit den entsprechenden Vorstellungen bereichert.“ (Lit.:GA 267, S. 66f)

Zu unterscheidende Bedeutungen von "abstrakt"

Dem eigentlichen Wortsinn nach ist die Abstraktion ein Abziehen, und ein abstrakter Begriff ein den Wahrnehmungen „entnommener“, an ihnen gebildeter Begriff. Es werden jedoch auch Allgemeinbegriffe, die man nicht als von Wahrnehmungen abstrahiert auffasst, als „abstrakte“ Begriffe bezeichnet, i.S.v. Gedachtheit, wie im obigen Zitat Steiners: „Ein vollkommener Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden.“ Dabei bedeutet dieses Denken des vollkommenenen Kreises nicht ein Abstrahieren von den einzelnen konkret wahrnehmlichen einzelnen Kreisen, sondern das Fassen der Idee des Kreises aus dem Geistigen heraus. Dieses Fassen der Idee des Kreises ist gerade keine Abstraktion im Sinne der Konstruktion anhand von sinnlichen Wahrnehmungen, sondern liegt den Wahrnehmungen der konkreten einzelnen Kreise als Idee voraus, welche überhaupt erst die Wahrnehmung von Kreisen möglich macht. Diese allgemeine Idee eines Kreises z.B. wird gelegentlich auch als „abstrakte“ Idee bezeichnet, ohne daß damit eine Auffassung der Idee als „bloß abstrahiert“ im nominalistischen Sinne verbunden sein muß.

Gemäß der Erkenntnistheorie Rudolf Steiners wird der allgemeine Begriff aus dem Geistigen durch Intuition gefaßt und mit einem Wahrnehmlichen zu seiner Wirklichkeit verbunden. Es handelt sich also nicht um ein Abstrahieren aus der Wahrnehmung, sondern um ein Heranbringen eines Begriffes an eine Wahrnehmung und das Herstellen einer Verbindung zwischen Begriff und Wahrnehmung. Tatsächlich abstrahiert wird lediglich die (hinsichtlich des besonderen Wahrnehmungsbezugs konkrete) Vorstellung, d.i. ein individualisierter Begriff, der aus der durch die gewöhnlich unbewußt sich vollziehende Wirklichkeitsbildung im Nachherein gebildet wird. Die Vorstellung wird jedoch nicht aus dem Reinwahrnehmlichen abstrahiert, sondern aus der vollzogenen Wirklichkeit einer Vereintheit von Allgemeinbegriff und einem besonderen Wahrnehmlichen. Die abstrakte Vorstellung repräsentiert im Bewußtsein die Wirklichkeit, in ihr kommt die vollzogene Wirklichkeitsbildung aus Begriff und Wahrnehmung zum Bewußtsein.[1] Solche abstrakten Vorstellungen werden durch sinnlichkeitsfreies Denken überwunden, indem die Ideen als solche gedacht und zum Bewußtsein kommen. Dieses sinnlichkeitsfreie Denken wird aber wiederum auch als "abstraktes" Denken bezeichnet. Auch bei der Wortverwendung "Vorstellung" ist darauf zu achten, was gemeint ist. Rudolf Steiner selbst verwendet das Wort "Vorstellung" nicht nur für die individualisierten Begriffe, sondern auch für erfaßte Ideen, also Allgemeinbegriffe, die nicht abstrahiert sind im erläuterten Sinne.

Ein weiteres Verständnis von Abstraktion ist dasjenige von Freilegung des Wesentlichen. Die phänomenologische Wesensschau sucht mittels der Methode der eidetischen Variation in den gegebenen Sachen, den Gegenständen des Bewußtseins, ihr jeweiliges Wesen auf. Insofern dieses Wesen eines Tisches z.B. als der Allgemeinbegriff des Tisches angesehen wird, kann man eine so verstandene Abstraktion als das Aufsuchen des Wesens oder Begriffes in einem (vorstellungsmäßig) gegebenen Wirklichen ansehen. Ob man das schließliche Erfassen des reinen Wesens oder Begriffes als ein erneutes, nunmehr bewußtes Hervorbringen des Begriffes aus dem Geistigen ins Bewußtsein auffäßt, oder diesen Begriff als im Gegenstand ruhend versteht, ist dabei für die Erfassung des Wesentlichen nicht relevant[2]. Der Begriff wird jedenfalls nach phänomenologischer Auffassung nicht aus einem begriffslosen Wahrnehmlichen abstraktiv generiert, wie es z.B. ein Sensualist wie David Hume annimmt, und seine Erfassung oder Bildung wird auch nicht als ein rein konstruktives Geschehen lediglich im Bewußtsein (Abbildtheorie, Konstruktivismus) angesehen.

Traum, Abstraktion, Imagination

Das bildlose abstrakte Denken, wie es heute in den Wissenschaften und immer mehr auch im Alltagsleben gepflegt wird, ist nur eine Durchgangsstufe in der menschheitlichen Entwicklung. Ihm ging ein traumartiges bildhaftes Denken voran, das sich etwa in den Mythologieen der verschiedenen Völker niederschlug. Zukünftig wird sich in Form der Imagination ein vollkommen waches Bilderbewusstsein entwickeln, bei dem das Selbstbewusstsein, das im Traum weitgehend verloren geht, voll gewahrt bleibt.

„Aber dieses abstrakte Denken ist nur eine Entwickelungsphase im Leben der Menschheit. Ihm geht ein bildhaftes, mit den Dingen verbundenes und in den Menschentaten pulsierendes Denken voraus. Im bewußten Menschenleben wirkt dieses Denken allerdings traumhaft, aber es ist der Schöpfer aller Frühstadien der Kulturen...

Doch dieses abstrakte Denken ist nur eine Durchgangs stufe der denkerischen Fähigkeit. Wer es in seiner völligen Reinheit erlebt hat, wer seine Kälte und Kraftlosigkeit, aber auch seine Durchsichtigkeit mit vollem menschlichen Anteil in sich aufgenommen hat, der kann bei ihm nicht stehen bleiben. Es ist ein totes Denken; aber es kann zum Leben erweckt werden. Es hat die Bildhaftigkeit verloren, die es als Traumerlebnis gehabt hat; aber es kann diese wieder erringen im Lichte eines intensiveren Bewußtseins. Von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewußte Abstraktion zur ebenso vollbewußten Imagination: das ist der Entwickelungsgang des menschlichen Denkens. Der Aufstieg zu dieser bewußten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit. Goethe hat einen Anfang damit gemacht, indem er für das Verständnis der Pflanzengestaltung das Ideenbild der Urpflanze forderte. Und dieses imaginative Denken kann wieder Impulse des Handelns aus sich heraustreiben.“ (Lit.:GA 36, S. 88f)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelanchweise

  1. Herbert Witzenmann unterscheidet zwischen inhärenter und repräsentierender Vorstellung. Vgl. H. Witzenmann: Sinn und Sein. Der gemeinsame Ursprung von Gestalt und Bewegung, S. 91ff. Die inhärente Vorstellung ist diejenige, die sich bei einer Verbindung von Begriff und Wahrnehmung unmittelbar bildet. Die Vorstellung sitzt dabei gewissermaßen direkt im Gegenstand drin, die Denkbewegung löst sich aber gleich wieder heraus. Die repräsentierende Vorstellung ist dagegen eine Erinnerung. "Im Erinnern wird der inhärierte Begriff von seinen Haftpunkten wieder abgelöst. Dies ist insofern und insoweit möglich, als der Vorgang der Inhärenzbildung seine Spuren sowohl in der Organisation des Urteilenden als Konditionen (Engramme) als auch in seiner Aktionsbereitschaft in der Art eines Übungserfolgs, als Disposition (Erinnerungsneigung und -erübung) hinterlassen hat, also dem "Gedächtnis" verblieb. Im Erinnern wird der individualisierte Begriff aus seinem Zusammenhang mit dem Wahrnehmlichen herausgeschält und isoliert. Die Erinnerung ist eine von ihren Haftpunkten losgelöste, doch deren Einprägungen beibehaltende Vorstellung. Hierbei handelt es sich um einen Abstraktionsvorgang, um ein Ablösen eines stellvertretenden Gebildes von den konkreten gebildehaften Gegebenheiten. (...) Nicht der lebendig-bewegliche allgemein-urbildliche, sondern der individualisierte, repräsentierende Begriff wird abstrahiert." (S. 91)
  2. Husserl wendet sich mit seiner "transzendentalen" Phänomenologie im Gegensatz zu den realistischen Phänomenologen den davorliegenden Denkprozessen und Bewußtseinserlebnissen zu. Es ist zwar richtig, in einem erfaßten Begriff schon ein Geistiges zu sehen. Das Wesen des Geistigen selbst erschließt sich so aber noch nicht. Aufmerksamkeit und Denkaktivitäten wie das Erfassen als dem Ergreifen von Geistigem sind als geistige Phänomene keine Begriffe, sondern deren Quellen, oder zumindest in diesen als von den Begriffen selbst unterschieden lebend. Eine Untersuchung solcher Phänomene erschöpft sich nicht in Begriffsanalyse und reicht weiter in das Wesen des Geistigen selbst hinein. "Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt." (GA 4).