Konvergenz und Gedankenexperiment: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Schrodingers cat.svg|mini|Grafische Darstellung des Gedankenexperiments ''[[Wikipedia:Schrödingers Katze|Schrödingers Katze]]'': quantenmechanisch gesehen kann sie demnach gleichzeitig tot und lebendig sein.]]
Ein '''Gedankenexperiment''' oder '''Gedankenversuch''' ist ein gedankliches Hilfsmittel, um bestimmte [[Theorie]]n zu untermauern, zu widerlegen, zu veranschaulichen oder weiterzudenken. Es wird dabei gedanklich eine Situation konstruiert, die real so nicht oder nur sehr schwer herzustellen ist (zum Beispiel eine Reise mit annähernd [[Lichtgeschwindigkeit]]). Sodann malt man sich im Geiste aus, welche Folgen sich aus dieser Situation ergeben, wenn man die Theorie auf die Situation anwendet. Ein [[Experiment]] wird also in Gedanken [[Wikipedia:Simulation|simuliert]]. Ein Gedankenexperiment ist jedoch kein Experiment im eigentlichen Sinne. Letzteres beleuchtet Theorien durch [[empirisch]]e Anschauung ''von außen'', ein Gedankenexperiment ist jedoch innerhalb der Theorie gefangen, der empirische Aspekt fehlt.


'''Konvergenz''' (von [[lat.]] ''convergere'' „sich annähern, zusammenlaufen“) bedeutet in der [[Mathematik]], dass eine [[Folge (Mathematik)]] oder
== Gedankenexperiment versus reales Experiment ==
eine [[Funktion (Mathematik)]] einem bestimmten '''Grenzwert''' oder '''Limes''' beliebig nahe kommt.  
Dennoch sind inzwischen einige Gedankenexperimente, die zu der Zeit, als sie erdacht wurden, nicht realisierbar waren, heute in echten Experimenten durchführbar. So wurde zum Beispiel der empirische Nachweis erbracht, dass Uhren abhängig von der relativen Geschwindigkeit, mit der sie bewegt werden, unterschiedlich schnell gehen.


So konvergiert etwa die Folge <math>\frac{1}{n}</math> gegen den Grenzwert 0, d.h.:
Andere Gedankenexperimente haben sich später als prinzipiell nicht durchführbar herausgestellt. So ist beispielsweise heute bekannt, dass der [[Wikipedia:Maxwellscher Dämon|Maxwellsche Dämon]] prinzipiell nicht funktioniert, hauptsächlich aus „quantenmechanischen Gründen“. Als dieses Gedankenexperiment erdacht wurde, war aber auch noch nichts über die [[Quantenmechanik]] bekannt.


:<math>\lim_{n \to \infty} \frac{1}{n} = 0</math>
Noch komplexer sind die Zusammenhänge bei der Arbeit von Albert Einstein und Mitarbeitern über das [[Wikipedia:Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon|Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon]]: Hier haben die Autoren im Jahre 1935 aufgrund eines zutreffenden Gedankenexperiments fälschlicherweise die Quantenmechanik als „ergänzungsbedürftig“ verworfen: Dieser Irrtum hat sich aber erst mit großer Verspätung und trotz ausschließlich richtiger und zukunftsträchtiger Schlüsse in der Analyse als solcher herausgestellt (siehe dazu u.&nbsp;a. die realen optischen Experimente von [[Wikipedia:Alain Aspect|Alain Aspect]]), nachdem durch die sog. [[Wikipedia:Bellsche Ungleichung|Bell'schen Ungleichungen]] (eine 1964 durchgeführte mathematisch rigorose theoretische Arbeit) die philosophischen Grundlagen der EPR-Veröffentlichung [[Falsifikation|falsifiziert]] werden konnten.


== absolut konvergente Reihe ==
Gedankenexperimente sind somit verschieden von realen Experimenten und sind im Allgemeinen der [[Theoretische Physik|theoretischen Physik]] zuzuordnen; aber auch in anderen Disziplinen, z.&nbsp;B. in der [[Philosophie]], spielen sie eine wichtige Rolle. [[Wikipedia:Hans Christian Ørsted|Hans Christian Ørsted]] führte als Erster den Begriff ''Gedankenexperiment'' als Beziehung zwischen mathematischer und physikalischer Erkenntnis bei [[Immanuel Kant|Kant]] ein. Vor allem die von [[Albert Einstein]] gefundene [[spezielle Relativitätstheorie]] macht reichlich Gebrauch von Gedankenexperimenten. Einstein übernahm die Idee dazu von seinem zeitweiligen Lehrer [[Wikipedia:Ernst Mach|Ernst Mach]], auf dessen philosophisches Wirken die Bekanntheit dieses Begriffs zurückgeht.


Eine [[Reelle Zahl|reellwertige]] oder [[Komplexe Zahl|komplexwertige]] [[Reihe (Mathematik)|Reihe]] <math>\textstyle \sum_{n=0}^{\infty} a_n </math> heißt absolut konvergent, wenn die Reihe der Absolutbeträge konvergiert:  
Beliebt sind Gedankenexperimente besonders, um zu prüfen, ob eine Theorie zu [[Paradoxon|paradoxen]] Situationen führt. So wird das bekannte Beispiel von [[Wikipedia:Schrödingers Katze|Schrödingers Katze]], die mit einer quantenmechanisch beschriebenen Wahrscheinlichkeit ''gleichzeitig tot und lebendig'' ist, normalerweise als Beleg dafür angegeben, dass die betroffene Theorie in wenigstens einer Hinsicht unvollständig ist (zum Beispiel, indem sie Verletzungen der quantenmechanischen Kohärenz nicht berücksichtigt).
:<math>\sum_{n=0}^{\infty} |a_n| < \infty</math>  
 
=== Überprüfbarkeit ===
''Gedankenexperimente'' gehören zur jeweiligen theoretischen Disziplin (z.&nbsp;B. Theoretische Physik oder Theoretische Philosophie), während ''reale Experimente'' der jeweiligen experimentellen Disziplin angehören. Der Unterschied scheint selbstverständlich zu sein, ist aber subtil, wie am Beispiel der berühmten Arbeit Albert Einsteins zum [[Wikipedia:Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon|EPR-Effekt]] deutlich wird. In dieser Arbeit (1935) hat Einstein mit zwei Mitarbeitern nicht nur besagten Effekt aufgrund eines Gedankenexperiments vorgeschlagen (der Effekt konnte inzwischen realisiert werden), sondern vor allem auch aufgrund der ungewöhnlichen Eigenschaften des Effekts die Quantenmechanik als „unvernünftig und ergänzungsbedürftig“ zurückgewiesen.
 
Alle mathematischen Schlüsse dieser Arbeit waren korrekt, sodass Einstein damals kein logischer Irrtum nachgewiesen werden konnte, weder durch Gedankenexperimente noch durch reale Experimente. Erst 1964 gelang es dem theoretischen Physiker [[Wikipedia:John Stewart Bell|John Bell]], zu zeigen (siehe [[Wikipedia:Bellsche Ungleichung|Bellsche Ungleichung]]), dass die Gültigkeit der explizit angesprochenen philosophischen Grundlagen der EPR-Arbeit, die Annahme der sog. ''Realität und Lokalität'' einer physikalischen Theorie, experimentell überprüfbar ist, und zwar durch reale Experimente, nicht durch Gedankenexperimente. Solche realen Experimente wurden inzwischen mehrfach durchgeführt (z.&nbsp;B. durch [[Wikipedia:Alain Aspect|Alain Aspect]]) und haben stets die erwähnten philosophischen Grundannahmen der Einstein’schen Arbeit falsifiziert; d.&nbsp;h., dass die Quantenmechanik sich in jedem Fall als ''nicht ergänzungsbedürftig'' erwiesen hat. (Zum Thema „Falsifikation einer Theorie“ siehe die Philosophie von [[Karl Popper]].)
 
In diesem einen Fall hat sich also Einstein geirrt, aber gleichwohl mit dem erwähnten EPR-Effekt und der darauf aufbauenden [[Wikipedia:Quantenkryptographie|Quantenkryptographie]] (siehe auch [[Wikipedia:Quantenverschränkung|Quantenverschränkung]]) für die praktischen Anwendungen der von ihm so heftig bekämpften Quantenmechanik etwas ganz Wesentliches hinterlassen.
 
== Bekannte Gedankenexperimente ==
=== Naturwissenschaften ===
* [[Wikipedia:Braitenberg-Vehikel|Braitenberg-Vehikel]] – von [[Wikipedia:Valentino Braitenberg|Valentino Braitenberg]] erdachte [[Kybernetik|kybernetische]] [[Roboter]]fahrzeuge, die [[Verhalten (Biologie)|Verhaltensweisen]] von [[Lebewesen]] zu zeigen scheinen
* [[Wikipedia:Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon|EPR-Paradoxon]] ([[Quantenmechanik]]) (inzwischen experimentell durchgeführt)
* [[Wikipedia:Fahrstuhlexperiment|Fahrstuhlexperiment]] ([[Allgemeine Relativitätstheorie]]) – in einem geschlossenen Fahrstuhl ist es nicht möglich zu entscheiden, ob die Beschleunigung einer Testmasse durch den Fahrstuhlmotor oder ein externes Gravitationsfeld hervorgerufen wird, also müssen träge und schwere Masse gleich sein. Im [[Wikipedia:Freier Fall|frei fallenden]] Fahrstuhl herrscht keine Schwere (praktisch durch [[Wikipedia:Fallturmexperiment|Fallturmexperiment]]e oder durch die [[Schwerelosigkeit]] in einem Flugzeug im [[Wikipedia:Parabelflug|Parabelflug]] gezeigt)
* [[Wikipedia:Flatland|Flatland]] – ''A Romance in many Dimensions''. [[Wikipedia:Edwin Abbott Abbott|Edwin A. Abbott]]. Reise durch geometrische Grundformen 1884
* [[Wikipedia:Freier Fall|Freier Fall]] – [[Wikipedia:Giovanni Battista Benedetti|Giovanni Battista Benedetti]] widerlegte 1554 in seinem Werk ''Demonstratio proportionum motuum localium contra [[Aristoteles|Aristotilem]] et omnes philosophos'', dass verschieden schwere Körper verschieden schnell fallen. Das Gedankenexperiment findet sich auch in den ''Discorsi'' von [[Galileo Galilei]] und wurde häufig diesem zugeschrieben.
* [[Wikipedia:Laplacescher Dämon|Laplacescher Dämon]], der nach der [[Klassische Physik|klassischen Physik]] die Vergangenheit und Zukunft der Welt berechnen könnte
* [[Wikipedia:Lichtuhr|Lichtuhr]] ([[Spezielle Relativitätstheorie]]) – eine bewegte Uhr (von außen beobachtet) läuft langsamer
* [[Wikipedia:Maxwellscher Dämon|Maxwellscher Dämon]] – bringt den [[2. Hauptsatz der Thermodynamik]] mit [[Information]] in Zusammenhang
* [[Wikipedia:Photonenwaage|Photonenwaage]] – [[Albert Einstein]] versuchte [[Niels Bohr]] von der Unvollkommenheit der [[Quantenhypothese|Quantentheorie]] zu überzeugen
* [[Wikipedia:Planiversum|Planiversum]] – beschreibt das Leben in einer zweidimensionalen Welt
* [[Wikipedia:Schrödingers Katze|Schrödingers Katze]] (Quantenmechanik) – wirft interessante Fragen zum quantenmechanischen Messprozess auf
* [[Wikipedia:Stevinsches Gedankenexperiment|Stevinsches Gedankenexperiment]] – Erklärung der [[Wikipedia:Kräftegleichgewicht|Gleichgewichtsverhältnisse]] auf [[Wikipedia:Schiefe Ebene|schiefen Ebenen]] von [[Wikipedia:Simon Stevin|Simon Stevin]] um 1600
* [[Wikipedia:Zwillingsparadoxon|Zwillingsparadoxon]] ([[Spezielle Relativitätstheorie]]) – in einem schnellen Raumschiff läuft die Zeit von außen betrachtet langsamer ab, für die Insassen sind die Entfernungen verkürzt
 
=== Philosophie ===
Gedankenexperimente in der Philosophie haben meist ein wesentliches Merkmal, das sie von anderen illustrativen Mitteln unterscheidet: Sie gehen von kontrafaktischen Umständen aus. In einem solchen Gedankenexperiment wird gefragt, was wohl der Fall wäre, wenn die Dinge anders lägen als sie es tatsächlich tun. Der Grad der [[Kontrafaktizität]] kann verschieden hoch sein, aber im Grunde liegt immer eine hypothetische Situation vor. Die Form einer solchen Überlegung kann folgendermaßen dargestellt werden:
 
* Wir gehen normalerweise davon aus und behaupten, dass der Satz S wahr ist.
* In unserem Gedankenexperiment gehen wir jetzt aber davon aus, dass die Welt ganz anders (oder ein bisschen anders) funktioniert. Dann nehmen wir nicht mehr an, dass S wahr ist, sondern vielleicht ein anderer Satz F, der mit S unvereinbar ist.
* Wir haben also keinen Anlass, S für absolut wahr zu halten, sondern sehen S als Resultat unserer bestimmten, (möglicherweise veränderbaren) Situation an.
 
Beispiele:
 
* [[Wikipedia:Trolley-Problem|Trolley-Problem]] – [[Wikipedia:Philippa Foot|Philippa Foot]]
* [[Wikipedia:Gettier-Problem|Gettier-Problem]] – [[Wikipedia:Edmund Gettier|Edmund Gettier]]
* [[Wikipedia:Chinesisches Zimmer|Chinesisches Zimmer]] – [[John Searle]]
* [[Wikipedia:Schleier des Nichtwissens|Schleier des Nichtwissens]] – [[Wikipedia:John Rawls|John Rawls]]
* [[Wikipedia:Gehirn im Tank|Gehirn im Tank]] – [[Wikipedia:Hilary Putnam|Hilary Putnam]]
* [[Wikipedia:Mühlenbeispiel|Mühlenbeispiel]] - [[Gottfried Wilhelm Leibniz]]
* [[Wikipedia:Zwillingserde|Zwillingserde]] – [[Wikipedia:Hilary Putnam|Hilary Putnam]]
* [[Wikipedia:Sumpfmann|Sumpfmann]] – [[Donald Davidson]]
* [[Wikipedia:Geiger-Beispiel|Geiger-Beispiel]] – [[Wikipedia:Judith Jarvis Thomson|Judith Jarvis Thomson]]
* [[Wikipedia:Mary (Gedankenexperiment)|Mary]] – [[Frank Cameron Jackson]]
* [[Wikipedia:Nützlichkeits-Monster|Nützlichkeits-Monster]] − [[Wikipedia:Robert Nozick|Robert Nozick]]
* [[Wikipedia:Schiff des Theseus|Schiff des Theseus]]
 
Von Gedankenexperimenten aus der Philosophie zu unterscheiden sind Gleichnisse, die einen abstrakten Sachverhalt mit einer anschaulichen Situation verdeutlichen sollen. Bei dem [[Höhlengleichnis]] geht es [[Platon]] um die anschauliche Darstellung seiner [[Erkenntnistheorie]]; allerdings enthält das Gleichnis insofern auch Elemente eines Gedankenexperiments, als Platon weiterhin ausführt, wie es einer Person ergehen würde, die dem in der Höhle Gefesselten von der Außenwelt berichtet.<ref>Ulrich Gähde: ''Gedankenexperimente in Erkenntnistheorie und Physik''. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): ''Rationality, realism, revision''. Walter de Gruyter, 2000, ISBN 3110163934, S. 457.</ref>


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* [[Gleichnis]], die Sicht aus einer ungewohnten Perspektive ist eine Gemeinsamkeit mit dem Gedankenexperiment
== Literatur ==
* Bertram, G.W.  (Hg.) Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart 2012.
* Brooks, D. H. M. "The Method of Thought Experiment" in: Metaphilosophy, vol. 25, Nr. 1 S. 71–83.
* Haggqvist, S. Thought Experiments in Philosophy, Stockholm 1996.
* [[Wikipedia:Albrecht Behmel|Behmel, A.]] Gedankenexperimente in der Philosophie des Geistes, Stuttgart 2001.
* Macho, Th. u. A. WUNSCHEL (Hrsg.) Science & Fiction. Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt/M 2004.
* Engels, H. "Nehmen wir an…" Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Weinheim und Basel 2004.
* Kühne, U. Die Methode des Gedankenexperiments, Frankfurt/M 2005.
* Cohnitz, D. Gedankenexperimente in der Philosophie, Paderborn 2006.
* R. A. Sorensen: ''Thought Experiments'', Oxford University Press 1990.
* Michel, J. G. "Mit Gedankenexperimenten argumentieren: Eine Fallstudie in der Philosophie des Geistes." In ''Die Suche nach dem Geist'', J. G. Michel & G. Münster (Hrsg.), S. 81–120, Münster 2013.
* ''Special Issue: Ernst Mach und das Gedankenexperiment um 1900'', eingeleitet von Bernhard Kleeberg, in: ''Berichte zur Wissenschaftsgeschichte'', März 2015, [http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.v38.1/issuetoc Volume 38, Issue 1], S. 1–101.
== Weblinks ==
{{Commonscat|Thought experiments}}
{{Wiktionary}}
* {{SEP|http://plato.stanford.edu/entries/thought-experiment/}}
* [http://www.philosophie.uni-mainz.de/fehige/papers/gedankenexperimentSeitMach.pdf J. H. Y. Fehige, Uni Mainz "Das Gedankenexperiment – eine eigenständige Erkenntnismethode?"] – Über die epistemologische Diskussion seit Ernst Mach (PDF-Datei; 295 kB)
* [http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-ep000101139 Ulrich Kühne: "Gedankenexperiment und Erklärung" (1997)] – Aufsatz über die wissenschaftsphilosophische Bedeutung von Gedankenexperimenten in den Naturwissenschaften
* [http://www.jg-eberhardt.de/philo_exp/index.html Zusammenstellung von Joachim Eberhardt]
== Einzelnachweise ==
<references />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4280370-6}}


* {{WikipediaDE|Grenzwert (Folge)}}
[[Kategorie:Philosophie]]
* {{WikipediaDE|Grenzwert (Funktion)}}
[[Kategorie:Physik]]
[[Kategorie:Erkenntnistheorie]]
[[Kategorie:Gedankenexperiment| ]]


[[Kategorie:Mathematik]]
{{Wikipedia}}

Version vom 11. Juli 2018, 07:58 Uhr

Grafische Darstellung des Gedankenexperiments Schrödingers Katze: quantenmechanisch gesehen kann sie demnach gleichzeitig tot und lebendig sein.

Ein Gedankenexperiment oder Gedankenversuch ist ein gedankliches Hilfsmittel, um bestimmte Theorien zu untermauern, zu widerlegen, zu veranschaulichen oder weiterzudenken. Es wird dabei gedanklich eine Situation konstruiert, die real so nicht oder nur sehr schwer herzustellen ist (zum Beispiel eine Reise mit annähernd Lichtgeschwindigkeit). Sodann malt man sich im Geiste aus, welche Folgen sich aus dieser Situation ergeben, wenn man die Theorie auf die Situation anwendet. Ein Experiment wird also in Gedanken simuliert. Ein Gedankenexperiment ist jedoch kein Experiment im eigentlichen Sinne. Letzteres beleuchtet Theorien durch empirische Anschauung von außen, ein Gedankenexperiment ist jedoch innerhalb der Theorie gefangen, der empirische Aspekt fehlt.

Gedankenexperiment versus reales Experiment

Dennoch sind inzwischen einige Gedankenexperimente, die zu der Zeit, als sie erdacht wurden, nicht realisierbar waren, heute in echten Experimenten durchführbar. So wurde zum Beispiel der empirische Nachweis erbracht, dass Uhren abhängig von der relativen Geschwindigkeit, mit der sie bewegt werden, unterschiedlich schnell gehen.

Andere Gedankenexperimente haben sich später als prinzipiell nicht durchführbar herausgestellt. So ist beispielsweise heute bekannt, dass der Maxwellsche Dämon prinzipiell nicht funktioniert, hauptsächlich aus „quantenmechanischen Gründen“. Als dieses Gedankenexperiment erdacht wurde, war aber auch noch nichts über die Quantenmechanik bekannt.

Noch komplexer sind die Zusammenhänge bei der Arbeit von Albert Einstein und Mitarbeitern über das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon: Hier haben die Autoren im Jahre 1935 aufgrund eines zutreffenden Gedankenexperiments fälschlicherweise die Quantenmechanik als „ergänzungsbedürftig“ verworfen: Dieser Irrtum hat sich aber erst mit großer Verspätung und trotz ausschließlich richtiger und zukunftsträchtiger Schlüsse in der Analyse als solcher herausgestellt (siehe dazu u. a. die realen optischen Experimente von Alain Aspect), nachdem durch die sog. Bell'schen Ungleichungen (eine 1964 durchgeführte mathematisch rigorose theoretische Arbeit) die philosophischen Grundlagen der EPR-Veröffentlichung falsifiziert werden konnten.

Gedankenexperimente sind somit verschieden von realen Experimenten und sind im Allgemeinen der theoretischen Physik zuzuordnen; aber auch in anderen Disziplinen, z. B. in der Philosophie, spielen sie eine wichtige Rolle. Hans Christian Ørsted führte als Erster den Begriff Gedankenexperiment als Beziehung zwischen mathematischer und physikalischer Erkenntnis bei Kant ein. Vor allem die von Albert Einstein gefundene spezielle Relativitätstheorie macht reichlich Gebrauch von Gedankenexperimenten. Einstein übernahm die Idee dazu von seinem zeitweiligen Lehrer Ernst Mach, auf dessen philosophisches Wirken die Bekanntheit dieses Begriffs zurückgeht.

Beliebt sind Gedankenexperimente besonders, um zu prüfen, ob eine Theorie zu paradoxen Situationen führt. So wird das bekannte Beispiel von Schrödingers Katze, die mit einer quantenmechanisch beschriebenen Wahrscheinlichkeit gleichzeitig tot und lebendig ist, normalerweise als Beleg dafür angegeben, dass die betroffene Theorie in wenigstens einer Hinsicht unvollständig ist (zum Beispiel, indem sie Verletzungen der quantenmechanischen Kohärenz nicht berücksichtigt).

Überprüfbarkeit

Gedankenexperimente gehören zur jeweiligen theoretischen Disziplin (z. B. Theoretische Physik oder Theoretische Philosophie), während reale Experimente der jeweiligen experimentellen Disziplin angehören. Der Unterschied scheint selbstverständlich zu sein, ist aber subtil, wie am Beispiel der berühmten Arbeit Albert Einsteins zum EPR-Effekt deutlich wird. In dieser Arbeit (1935) hat Einstein mit zwei Mitarbeitern nicht nur besagten Effekt aufgrund eines Gedankenexperiments vorgeschlagen (der Effekt konnte inzwischen realisiert werden), sondern vor allem auch aufgrund der ungewöhnlichen Eigenschaften des Effekts die Quantenmechanik als „unvernünftig und ergänzungsbedürftig“ zurückgewiesen.

Alle mathematischen Schlüsse dieser Arbeit waren korrekt, sodass Einstein damals kein logischer Irrtum nachgewiesen werden konnte, weder durch Gedankenexperimente noch durch reale Experimente. Erst 1964 gelang es dem theoretischen Physiker John Bell, zu zeigen (siehe Bellsche Ungleichung), dass die Gültigkeit der explizit angesprochenen philosophischen Grundlagen der EPR-Arbeit, die Annahme der sog. Realität und Lokalität einer physikalischen Theorie, experimentell überprüfbar ist, und zwar durch reale Experimente, nicht durch Gedankenexperimente. Solche realen Experimente wurden inzwischen mehrfach durchgeführt (z. B. durch Alain Aspect) und haben stets die erwähnten philosophischen Grundannahmen der Einstein’schen Arbeit falsifiziert; d. h., dass die Quantenmechanik sich in jedem Fall als nicht ergänzungsbedürftig erwiesen hat. (Zum Thema „Falsifikation einer Theorie“ siehe die Philosophie von Karl Popper.)

In diesem einen Fall hat sich also Einstein geirrt, aber gleichwohl mit dem erwähnten EPR-Effekt und der darauf aufbauenden Quantenkryptographie (siehe auch Quantenverschränkung) für die praktischen Anwendungen der von ihm so heftig bekämpften Quantenmechanik etwas ganz Wesentliches hinterlassen.

Bekannte Gedankenexperimente

Naturwissenschaften

Philosophie

Gedankenexperimente in der Philosophie haben meist ein wesentliches Merkmal, das sie von anderen illustrativen Mitteln unterscheidet: Sie gehen von kontrafaktischen Umständen aus. In einem solchen Gedankenexperiment wird gefragt, was wohl der Fall wäre, wenn die Dinge anders lägen als sie es tatsächlich tun. Der Grad der Kontrafaktizität kann verschieden hoch sein, aber im Grunde liegt immer eine hypothetische Situation vor. Die Form einer solchen Überlegung kann folgendermaßen dargestellt werden:

  • Wir gehen normalerweise davon aus und behaupten, dass der Satz S wahr ist.
  • In unserem Gedankenexperiment gehen wir jetzt aber davon aus, dass die Welt ganz anders (oder ein bisschen anders) funktioniert. Dann nehmen wir nicht mehr an, dass S wahr ist, sondern vielleicht ein anderer Satz F, der mit S unvereinbar ist.
  • Wir haben also keinen Anlass, S für absolut wahr zu halten, sondern sehen S als Resultat unserer bestimmten, (möglicherweise veränderbaren) Situation an.

Beispiele:

Von Gedankenexperimenten aus der Philosophie zu unterscheiden sind Gleichnisse, die einen abstrakten Sachverhalt mit einer anschaulichen Situation verdeutlichen sollen. Bei dem Höhlengleichnis geht es Platon um die anschauliche Darstellung seiner Erkenntnistheorie; allerdings enthält das Gleichnis insofern auch Elemente eines Gedankenexperiments, als Platon weiterhin ausführt, wie es einer Person ergehen würde, die dem in der Höhle Gefesselten von der Außenwelt berichtet.[1]

Siehe auch

  • Gleichnis, die Sicht aus einer ungewohnten Perspektive ist eine Gemeinsamkeit mit dem Gedankenexperiment

Literatur

  • Bertram, G.W. (Hg.) Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart 2012.
  • Brooks, D. H. M. "The Method of Thought Experiment" in: Metaphilosophy, vol. 25, Nr. 1 S. 71–83.
  • Haggqvist, S. Thought Experiments in Philosophy, Stockholm 1996.
  • Behmel, A. Gedankenexperimente in der Philosophie des Geistes, Stuttgart 2001.
  • Macho, Th. u. A. WUNSCHEL (Hrsg.) Science & Fiction. Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt/M 2004.
  • Engels, H. "Nehmen wir an…" Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Weinheim und Basel 2004.
  • Kühne, U. Die Methode des Gedankenexperiments, Frankfurt/M 2005.
  • Cohnitz, D. Gedankenexperimente in der Philosophie, Paderborn 2006.
  • R. A. Sorensen: Thought Experiments, Oxford University Press 1990.
  • Michel, J. G. "Mit Gedankenexperimenten argumentieren: Eine Fallstudie in der Philosophie des Geistes." In Die Suche nach dem Geist, J. G. Michel & G. Münster (Hrsg.), S. 81–120, Münster 2013.
  • Special Issue: Ernst Mach und das Gedankenexperiment um 1900, eingeleitet von Bernhard Kleeberg, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, März 2015, Volume 38, Issue 1, S. 1–101.

Weblinks

Commons: Thought experiments - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema
 Wiktionary: Gedankenexperiment – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Ulrich Gähde: Gedankenexperimente in Erkenntnistheorie und Physik. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Rationality, realism, revision. Walter de Gruyter, 2000, ISBN 3110163934, S. 457.


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