Tetraktys und Ousia: Unterschied zwischen den Seiten

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Die '''Tetraktys''' ([[Wikipedia:Altgriechische Sprache|griechisch]] τετρακτύς ''tetraktýs'' „Vierheit“ oder „Vierergruppe“) ist ein Begriff aus der Zahlenlehre der antiken [[Pythagoreer]]. Die Tetraktys spielte in der pythagoreischen [[Kosmologie]] und Musiktheorie eine zentrale Rolle, da man in der Tetraktys den Schlüssel zum Verständnis der [[Weltharmonie]] sah. Die [[Pythagoreer]] schworen sogar auf die Tetraktys:
'''Ousía''' ({{ELSalt|οὐσία}}) ist ein Terminus der [[Wikipedia:Metaphysik|Metaphysik]] und [[Wikipedia:Ontologie|Ontologie]]. Es handelt sich um ein vom Partizip ''seiend'' abgeleitetes Substantiv und wird ins Deutsche mit '''Seiendheit''' am genauesten übersetzt.<ref>Wolfgang Schneider, ''Ousia und Eudaimonia'', Walter de Gruyter 2001, S. 128</ref> Häufig wird es aber auch mit ''das wahrhafte Sein''<ref>Wilhelm Pape: ''Handwörterbuch der griechischen Sprache''. Braunschweig 1914, Band 2, S. 420</ref>, auch die ''[[Wirklichkeit]]'', ''[[Substanz]]'' oder ''[[Wesen]]''<ref>So Eisler, ''Wörterbuch der philosophischen Begriffe'', S. 723; Kirchner u.a., Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, S. 692</ref> wiedergegeben. Im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutet es auch das Vermögen, das Eigentum, d.h. die Gesamtheit der Dinge, die einem Menschen gehören.


{{Zitat|Segne uns, geheiligte Zahl, du, die du Götter und Menschen erschaffen hast! Oh heilige, heilige Tetraktys, du umfasst die Wurzel und den Ursprung der ewig fließenden Schöpfung!}}
== Platon ==
Bei [[Platon]] ist ousia das unwandelbare Sein selbst:


Die pythagoräische [[Vierheit]] hängt laut [[Rudolf Steiner]] mit den vier grundlegenden [[Wesensglieder]]n des [[Mensch]]en zusammen ([[#Die Tetraktys und die vier Wesensglieder|siehe unten]]):
:''Es genügt also, fuhr ich fort, den ersten und obersten Abschnitt des Erkennens Wissenschaft (epistêmê) zu nennen, den zweiten Verstandeseinsicht (dianoia), den dritten Glauben an die Sinne, den vierten bloßen Schein von Wahrheit, und einerseits die beiden letzten zusammen Meinung (doxa), andererseits die ersten zusammen Vernunfteinsicht (noêsis), dabei bezieht sich Meinung auf das wandelbare Werden, Vernunfteinsicht auf das unwandelbare Sein (ousia), so daß wie Sein zum Werden, so Vernunfteinsicht zu Meinung, und wie Wissenschaft zu Glauben an die Sinne, so Verstandeseinsicht zu Scheinwissen sich verhält.''<ref>Platon, ''Politeia'', Buch VII., 534a</ref>


{{GZ|Die pythagoräische Vierheit ist nichts anderes als diese Vierheit: [[physischer Leib]], [[Ätherleib]], [[Astralleib]] und [[Ich]].|55|73}}
Ousia ist gleichbleibend, wesenhaft und der „ewigen Wahrheit“ verpflichtet:


== Geschichte ==
:''Welche von beiden Hauptlebensbedingungen scheinen nun nach deiner Meinung des höheren reinen Seins (ousia) teilhaftiger zu sein: etwa die wie Brot, Trank, Fleisch, überhaupt sämtliche leibliche Nahrung, oder das, was in sich begreift wahre Vorstellung, Wissenschaft, Vernunfteinsicht und überhaupt wiederum jede geistige Stärkung! Bilde aber dein Urteil hier auf folgende Weise: Das an das immer Gleichbleibende, Unsterbliche und an die ewige Wahrheit sich Haltende, das selbst so Beschaffene und in einem solchen Entstehende, ist das ein wesenhafteres Sein als das mit dem niemals sich Gleichbleibenden und Vergänglichen Verwandte, selbst so Beschaffene und auch in einem solchen Entstehendes? - Ein weit wesenhafteres Sein, sagte er, hat das mit dem ewig Gleichbleibenden Verwandte.''<ref>Platon, ''Politeia'', Buch IX., 585b f.</ref>
=== Antike ===
[[Datei:Bildx1.png|thumb|Tetraktys mit Punkten]]
[[Datei:Bild x 2.jpg|thumb|Tetraktys mit Dreiecken]]


Als Tetraktys bezeichneten die Pythagoreer die Gesamtheit der Zahlen 1, 2, 3 und 4, deren Summe 10 ergibt. Da die [[Zehn]] ([[Wikipedia:Altgriechische Sprache|griechisch]] δεκάς ''dekás'' "Zehnzahl", "Zehnergruppe") die Summe der ersten vier Zahlen ist, nahm man an, dass die Vierheit die Zehn „erzeugt“. Der Zehn kam schon durch den Umstand, dass sie bei Griechen und „Barbaren“ (Nichtgriechen) gleichermaßen als Grundzahl des [[Wikipedia:Dezimalsystem|Dezimalsystem]]s diente, eine herausgehobene Rolle zu.<ref>Walter Burkert: ''Weisheit und Wissenschaft'', Nürnberg 1962, S. 64.</ref> Von den Pythagoreern wurde die Zehn überdies, wie [[Aristoteles]] berichtet, wegen ihres Zusammenhangs mit der Tetraktys als „etwas Vollkommenes“ betrachtet, das „das ganze Wesen der Zahlen umfasst“.<ref>Aristoteles: ''[[Wikipedia:Metaphysik (Aristoteles)|Metaphysik]]'' 986a8-10.</ref> Daher wurde die Zehn auch „heilige Zahl“ genannt.<ref>Van der Waerden (1979) S. 457f.</ref> 
== Aristoteles ==
Zu einer ganz anderen zentralen Bedeutung gelangte der Begriff in der aristotelischen Philosophie:


[[Vier]] ist die [[Zahl des Kosmos]], die [[Zahl der Schöpfung]], der äußeren Erscheinungswelt überhaupt und manifestiert sich in den [[Raum|räumlichen]] und [[zeit]]lichen Gegebenheiten der [[Welt]], etwa in den vier [[Himmelsrichtungen]], den vier [[Jahreszeiten]] oder den vier [[Mond]]phasen.
:''Aristoteles aber bestimmte das Seiende als das sich in den Erscheinungen selbst entwickelnde Wesen. Er verzichtete darauf, etwas von den Erscheinungen selbst Verschiedenes (eine zweite Welt) als ihre Ursache auszudenken, und er lehrte, daß das im Begriff erkannte Sein der Dinge '''keine andere Wirklichkeit''' besitze, als die Gesamtheit der Erscheinungen, in denen es sich verwirkliche. So betrachtet, nimmt das Sein (ousia) erst vollständig den Charakter des Wesens (to ti ên einai) an, welches den alleinigen Grund seiner einzelnen Gestaltungen bildet, aber nur in diesen selbst wirklich ist: und alle Erscheinung wird zur Verwirklichung des Wesens.''<ref>Windelband, ''Lehrbuch der Geschichte der Philosophie'', S. 115 f.</ref>


Man kann in diesem Sinn auch von dem '''Pythagoräischen Viereck''' oder vom '''Pythagoräischen Quadrat''' sprechen, das seinerseits wieder mit dem [[Wikipedia:Kreis|Kreis]] als der vollkommensten aller [[Geometrie|geometrischen]] Figuren korrespondiert, denn das [[Wikipedia:Viereck|Viereck]] ist das einzige [[Wikipedia:Polygon|Polygon]], bei der die [[Wikipedia:Winkelsumme|Summe der Innenwinkel]] stets 360° beträgt, also einem vollen Kreisumlauf entspricht. Im Spezialfall des [[Wikipedia:Quadrat|Quadrat]]s setzt sich diese [[Wikipedia:Winkelsumme|Winkelsumme]] aus vier [[Wikipedia:Rechter Winkel|rechten Winkeln]] (90°) zusammen: 4 x 90° = 360°. Das [[Fünfeck]] hat bereits eine Winkelsumme von 3 x 180° = 540°, was 1½ Kreisumläufen entsprich, das [[Wikipedia:Sechseck|Sechseck]] 4 x 180° = 720° (2 Kreisumläufe) usw. Im allgemeinen Fall eines beliebigen n-Ecks beträgt die Winkelsumme <math> \sum {\alpha =}(n - 2) \cdot 180^\circ</math>.  
In der frühen Schrift ''[[Kategorien]]'' bezeichnet ''ousía'' als ''erste Substanz'' das selbstständige Einzelding, das ''[[hypokeimenon]]'', das Zugrundeliegende, d.h. das [[Subjekt]] oder [[Substrat]] ('Sokrates') gegenüber seinen zufälligen Eigenschaften, [[Akzidenz|Akzidenzien]] ('weiß'). ''Zweite Substanz'' nennt [[Aristoteles]] hier das Allgemeine, unter das diese Einzeldinge fallen, ('Mensch').


Die pythagoreische Kosmologie ging von der Annahme aus, dass der Kosmos nach mathematischen Regeln harmonisch geordnet ist. In dieser Weltdeutung war die Tetraktys ein Schlüsselbegriff, da sie die universelle Harmonie ausdrückte. Daher nahmen manche Pythagoreer an, dass es zehn bewegte Himmelskörper geben müsse, obwohl nur neun sichtbar waren – eine Spekulation, die ihnen Aristoteles verübelte.
In den späteren Abhandlungen der ''[[Wikipedia:Metaphysik (Aristoteles)|Metaphysik]]'' treten Einzeldinge der Kategorien weiterhin als Substanzen auf, die zweiten Substanzen nicht mehr. Im Zentrum steht nun die Frage 'Was ist im höchsten Maße wirklich?' im folgenden Sinne: 'Was ist die ''ousía'' der Einzeldinge?' Aristoteles' Antwort lautet in ''Metaphysik'' Zeta: die [[Form]], das ''[[eidos]]''.


{{Zitat|Da sie die Zehn für die vollkommene Zahl halten und der Meinung sind, sie befasse die gesamte Natur der Zahlen in sich, so stellen sie die Behauptung auf, auch die Körper, die sich am Himmel umdrehen, seien zehn an der Zahl, und da uns nur neun in wirklicher Erfahrung bekannt sind, so erfinden sie sich einen zehnten in Gestalt der Gegenerde.|Aristoteles|''Metaphysik'' 986a10-15}}
Die allgemein übliche Übersetzung von ''ousia'' mit [[Substanz]] erklärt sich philosophiegeschichtlich damit, dass die [[Kategorien]]-Schrift im lateinisch geprägten Mittelalter als logische Lehrschrift einen großen Einfluss auf das philosophische Denken ausübte, während die in ontologischer Hinsicht wesentlich elaboriertere Schrift [[Wikipedia:Metaphysik (Aristoteles)|Metaphysik]] über Jahrhunderte nicht verfügbar war und erst wesentlich später ins Lateinische übersetzt wurde.


Die Entdeckung der Weltharmonie wurde [[Pythagoras von Samos]], dem Begründer der pythagoreischen Tradition, zugeschrieben. Daher gab es bei den Pythagoreern eine Eidesformel, die lautete:
''substantia'' (= das Zugrundeliegende) entspricht der oben dargestellten ontologischen Konzeption der [[Kategorien]]. Im Kontext der [[Wikipedia:Metaphysik (Aristoteles)|Metaphysik]] ist ''substantia'' bzw. Substanz jedoch eigentlich eine zu eingeschränkte Übersetzung für ''ousia'', da hier eine differenziertere Theorie des Seienden erörtert wird, in der neben dem Zugrundeliegenden noch andere inhaltliche Bestimmungen der ''ousia'' eine Rolle spielen. Der Begriff ''[[Substanz]]'' hatte sich aber durch die große Verbreitung der [[Kategorien]]-Schrift als philosophischer Fachausdruck bereits fest etabliert.


{{Zitat|Nein, bei dem, der unserer Seele die Tetraktys übergeben hat, welche die Quelle und Wurzel der ewig strömenden Natur enthält.}}
== Weitere Philosophen ==
Nach [[Boëthius]] ist ousia die Form. Nach den [[Stoa|Stoikern]] ist ousia als oberste Kategorie die qualitätslose Materie. Nach [[Plotin]] ist ousia, was nicht in einem [[hypokeimenon]] ist <ref>Plotin, ''Enneaden'' VI, 3, 5</ref>, was sich selbst angehört. Das beharrliche Substrat der körperlichen Veränderungen ist die Materie. Als „Potenz der Begriffe“ ist die Seele ousia.<ref>Plotin, ''Enneaden'' VI, 2, 5. vgl. VI, 3, 2</ref>


Mit demjenigen, der die Tetraktys übergab, war Pythagoras gemeint.
Nach [[Johannes Scotus Eriugena]] ist ousia ganz und ungeteilt in den Arten derselben enthalten.<ref>Johannes Scotus Eriugena, ''De divisione naturae'', Buch I., 49</ref> Sie ist unkörperlich.<ref>Johannes Scotus Eriugena, ''De divisione naturae'', Buch I., 33</ref> Das Allgemeine ist nach Johannes Scotus Eriugena real, als Idee vor den Dingen und als Essenz in den Dingen. Die Dialektik als die Lehre von den allgemeinen Begriffen und Wesenheiten geht von den Gattungen zu den Arten und von diesen wieder zu den Gattungen. Die Kategorien stehen untereinander in Beziehung, wobei die Substanz (ousia) die Grundlage der anderen ist.<ref>Eisler, ''Philosophen-Lexikon'', S. 303</ref>


In den „[[Goldene Verse|Goldenen Versen]]“ (''carmen aureum''), einem in der Antike und dann erneut in der Renaissance populären Gedicht, das die pythagoreischen Lehren zusammenfasste, steht eine etwas abweichende Fassung der Formel (Verse 47 und 48):
== Anmerkungen ==
 
<references/>
{{Zitat|Ja, bei dem, der unserer Seele die Tetraktys übergeben hat, Quelle der ewig strömenden Natur.}}
 
Die Tetraktys wurde mit Zählsteinen (''psēphoi'') ausgedrückt, indem die vier Zahlen in Form eines gleichseitigen [[Wikipedia:Dreieck|Dreieck]]s übereinander angeordnet wurden:
 
<center>
{|
|-----
| &nbsp;&nbsp; || &nbsp;&nbsp; || &nbsp;&nbsp;
| ° || &nbsp;&nbsp; || &nbsp;&nbsp; || &nbsp;&nbsp;
|-----
|
||  || ° ||
|| °
|
||
|-----
|
|| ° || || ° || || ° ||
|-----
| ° || || ° ||
|| °
|
|| °
|}
</center>
 
Auch hierin lag eine Symbolik, da das gleichseitige Dreieck als eine vollkommene Figur galt. Die [[Zehn]] ist die vierte [[Wikipedia:Dreieckszahl|Dreieckszahl]]<ref name=Dreieckszahl>Ganz allgemein ist die n-te [[Wikipedia:Dreieckszahl|Dreieckszahl]] die Summe der ersten n [[Wikipedia:Natürliche Zahlen|natürlichen Zahlen]]. Die [[Wikipedia:Folge (Mathematik)|Folge]] der Dreieckszahlen beginnt also: 1, 3, 6, 10, 15, 21, 28, 36, 45, 55, 66, 78, 91, 105, 120, 136, ...</ref> und beinhaltet, wie [[Wikipedia:Pythagoras von Samos|Pythagoras von Samos]] meinte, das ganze [[Wikipedia:Dezimalsystem|dezimale]] Zahlensystem. Sie galt als vollkommen und heilig.
 
In der Musik stellten die Pythagoreer fest, dass die harmonischen Grundkonsonanzen [[Quarte]], [[Quinte]] und [[Oktave]], denen die Zahlenverhältnisse 4:3 (= 8:6), 3:2 (= 9:6) und 2:1 (= 12:6) zugeordnet wurden, mit den vier Zahlen der Tetraktys ausgedrückt werden können, ebenso wie auch zwei weitere Intervalle: die aus Oktave und Quinte bestehende [[Duodezime]] (3:1) und die Doppeloktave (4:1). Nur diese fünf Intervalle wurden als symphon anerkannt.<ref>Leonid Zhmud: ''Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus'', Berlin 1997, S. 184f. Eine der Hauptquellen ist [[Sextus Empiricus]], ''Adversus Mathematicos'' 4, 2−9.</ref> Die Undezime (8:3), die nicht in den Rahmen der Tetraktys passt, wurde also aufgrund einer theoretischen Überlegung von den konsonanten Intervallen ausgeschlossen, obwohl sie als konsonant oder zumindest nicht als dissonant wahrgenommen wird. Die Theorie der Tetraktys hatte Vorrang gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung. Diese Vorgehensweise wurde von dem empirisch denkenden Musiktheoretiker [[Claudius Ptolemäus|Ptolemaios]] kritisiert.
 
Neben der Gruppe der Zahlen 1–4 gab es bei den Pythagoreern noch andere bedeutsame Vierergruppen von Zahlen, die ebenfalls Tetraktys genannt wurden. In der Musiktheorie war die Gruppe 6, 8, 9, 12 besonders wichtig, da diese Zahlen den unveränderlichen Saiten der [[Wikipedia:Lyra (Zupfinstrument)|Lyra]] (Hypate, Mese, Paramese, Nete) zugeordnet waren. Der Musiktheoretiker [[Wikipedia:Nikomachos von Gerasa|Nikomachos von Gerasa]] bezeichnet diese Gruppe daher als "erste" Tetraktys, wobei "erste" rangmäßig zu verstehen ist. Er gibt an, dass die 6 dem tiefsten Ton, der Hypate, entspricht, die 12 dem höchsten, der Nete.<ref>Barbara Münxelhaus: ''Pythagoras musicus'', Bonn 1976, S. 22-24, 26-28, 41, 71, 84f., 110, 185-191.</ref>
 
Auch in der Geometrie fand sich mit den vier Elementen Punkt, Linie (Länge), Fläche (Breite) und Körperlichkeit (Tiefe) eine Vierheit, die für die Pythagoreer auf die Tetraktys deutete. Der Punkt wurde der Eins, die Länge der Zwei, die Fläche der Drei und die Körperlichkeit der Vier zugeordnet.<ref>Sextus Empiricus: ''Adversus Mathematicos'' 4,4–6.</ref>
 
Der jüdische Gelehrte [[Wikipedia:Philon von Alexandria|Philon von Alexandria]] verwendete das Tetraktys-Konzept bei der Kommentierung des Buches [[Wikipedia:1. Buch Mose|Genesis]]. Er bezog es auf die Erschaffung der Gestirne am vierten Schöpfungstag.
 
=== Mittelalter ===
 
Die auf dem Tetraktys-Konzept fußende pythagoreische Konsonanzlehre prägte die [[mittelalter|mittelalter]]liche [[Musik]]theorie weitgehend. Die abweichende Auffassung des Ptolemaios war ebenfalls bekannt, da der spätantike Gelehrte [[Wikipedia:Boëthius|Boëthius]] sie im fünften Buch seiner Schrift ''De institutione musica'' dargelegt hatte. Die Frage der Einbeziehung der Undezime in die Gruppe der Konsonanzen wurde kontrovers erörtert, wobei die pythagoreische Auffassung überwog.<ref>Münxelhaus (1976) S. 88-94.</ref>
 
=== Neuzeit ===
 
[[Nikolaus von Kues]] vertrat in seiner Schrift ''De coniecturis'' (1440) die Auffassung, dass in den Zahlen 1, 2, 3 und 4 und ihren Kombinationen alle Harmonie bestehe; er berief sich aber nicht ausdrücklich auf die pythagoreische Tradition.<ref>''De coniecturis'' II.2 (83); siehe dazu Werner Schulze: ''Harmonik und Theologie bei Nikolaus Cusanus'', Wien 1983, S. 70f.</ref> Der Humanist [[Wikipedia:Johannes Reuchlin|Johannes Reuchlin]] verglich in seinem 1494 erschienenen Werk ''De verbo mirifico'' (''Über das Wunder wirkende Wort'') das Tetragramm, das den Gottesnamen [[JHWH]] darstellt, mit der Tetraktys. [[Raffael]] gab sie auf seinem [[Wikipedia:Fresko|Fresko]] ''[[Die Schule von Athen]]'' auf einer Tafel wieder. Auch [[Johannes Kepler]] hat sich in seinem 1619 erschienenen Werk ''Harmonice mundi'' mit der Tetraktys befasst.
 
== Die Tetraktys und die vier Wesensglieder ==
 
{{GZ|Das, was wir mit
Augen sehen, mit den Sinnen äußerlich wahrnehmen können,
das, was der Materialismus als das einzige Wesen
der Natur betrachtet, ist der Geistesforschung nichts anderes
als das erste Glied der menschlichen Wesenheit: der
[[physischer Leib|physische Leib]]. Wir wissen, daß dieser in bezug auf seine
Stoffe und Gesetze dem Menschen mit der ganzen übrigen
leblosen Welt gemeinsam ist. Wir wissen aber auch, daß
dieser physische Körper aufgerufen wird zum Leben durch
das, was wir den sogenannten [[Ätherleib|Äther]]- oder [[Lebensleib]]
nennen; und wir wissen dies, weil für die geistige Forschung
dieser Lebensleib nicht eine Spekulation, sondern eine Wirklichkeit
ist, die erschaut werden kann, wenn der Mensch die
höheren Sinne, die in ihm schlummern, in sich eröffnet hat.
Wir betrachten den zweiten Teil der menschlichen Wesenheit,
den Ätherleib, als etwas, was der Mensch gemeinschaftlich
hat mit der übrigen Pflanzenwelt. Als das dritte
Glied der menschlichen Wesenheit betrachten wir den [[Astralleib]],
den Träger von Lust und Unlust, von Begierde und
Leidenschaft, den der Mensch mit der Tierheit gemeinsam
hat. Und dann sehen wir, daß des Menschen Selbstbewußtsein,
die Möglichkeit, zu sich «[[Ich]]» zu sagen, die Krone der
Menschennatur ist, die er mit keinem anderen Wesen gemeinsam
hat; daß dieses Ich als die Blüte der drei Leiber,
des physischen, Äther- und Astralleibes hervorgeht. So
sehen wir einen Zusammenhang dieser vier Glieder, auf
welchen die Geistesforschung immer hingewiesen hat. Die
pythagoräische Vierheit ist nichts anderes als diese Vierheit:
[[physischer Leib]], [[Ätherleib]], [[Astralleib]] und [[Ich]]. Diejenigen,
die sich tiefer mit Theosophie beschäftigt haben, wissen, daß
dieses Ich aus sich selber herausarbeitet, was wir das [[Geistselbst]]
oder [[Manas]], den [[Lebensgeist]] oder [[Buddhi]] und den
eigentlichen [[Geistmensch]]en oder [[Atma]] nennen.|55|73f}}
 
{{GZ|So setzt sich der vierfache Mensch zusammen. Das ist das '''Quadrat der Pythagoreer''':
 
# Das Rückenmark und das Gehirn sind das Organ des Ich.
# Das warme Blut und das Herz sind das Organ des Kama (Astralleib).
# Der Solarplexus (Sonnengeflecht) ist das Organ des Ätherkörpers.
# Der eigentliche physische Körper ist ein komplizierter physikalischer Apparat.
 
So hat man den Menschen vierfach aufgebaut.|93a|90}}
 
== Siehe auch ==
 
* {{WikipediaDE|Tetraktys}}
* {{Freimaurer|Tetraktys}}


== Literatur ==
== Literatur ==
* Charles H. Kahn: ''Pythagoras and the Pythagoreans'', Indianapolis 2001, S. 31-36, 84f. ISBN 0-87220-576-2
* Rudolf Eisler: ''Wörterbuch der philosophischen Begriffe'', Berlin 1904
* [[Wikipedia:Bartel Leendert van der Waerden|Bartel Leendert van der Waerden]]: ''Die Pythagoreer'', Zürich 1979, S. 103-109 ISBN 3-7608-3650-X
* Rudolf Eisler: ''Philosophen-Lexikon'', Berlin 1912
* Paul Kucharski: ''Etude sur la doctrine pythagoricienne de la tétrade'', Paris 1952
* Friedrich Kirchner und Carl Michaëlis: ''Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe''. 5. Aufl., Leipzig 1907
* Armand Delatte: ''Etudes sur la littérature pythagoricienne'', Paris 1915 [S. 249-268: Kapitel ''La tétractys pythagoricienne'']
* Wolfgang Schneider: ''Ousia und Eudaimonia'', Walter de Gruyter, Berlin 2001
* Theo Reiser: ''Das Geheimnis der pythagoreischen Tetraktys'', Lambert Schneider, Heidelberg 1967
* Wilhelm Windelband: ''Lehrbuch der Geschichte der Philosophie'', Tübingen 1912
* Rudolf Steiner: ''Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit'', [[GA 55]] (1983), ISBN 3-7274-0550-3 {{Vorträge|055}}
* Rudolf Steiner: ''Grundelemente der Esoterik'', [[GA 93a]] (1987), ISBN 3-7274-0935-5 {{Vorträge|093a}}
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/zahlenmystik2a.pdf Einführung in die Zahlenmystik - Teil II] PDF
 
{{GA}}
 
== Weblinks ==
{{Wiktionary}}
* [http://tetraktys.de/ Tetraktys-Interpretation] von Holger Ullmann
 
== Einzelnachweise ==
<references/>


[[Kategorie:Formsymbol]] [[Kategorie:Zahlen]] [[Kategorie:Wesensglieder]] [[Kategorie:Zehnheit]]
[[Kategorie:Griechische Philosophie]]
[[Kategorie:Ontologie]]
[[Kategorie:Platon]]
[[Kategorie:Aristoteles]]


{{Wikipedia}}
{{Wikipedia}}

Version vom 21. September 2016, 00:51 Uhr

Ousía (griech. οὐσία) ist ein Terminus der Metaphysik und Ontologie. Es handelt sich um ein vom Partizip seiend abgeleitetes Substantiv und wird ins Deutsche mit Seiendheit am genauesten übersetzt.[1] Häufig wird es aber auch mit das wahrhafte Sein[2], auch die Wirklichkeit, Substanz oder Wesen[3] wiedergegeben. Im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutet es auch das Vermögen, das Eigentum, d.h. die Gesamtheit der Dinge, die einem Menschen gehören.

Platon

Bei Platon ist ousia das unwandelbare Sein selbst:

Es genügt also, fuhr ich fort, den ersten und obersten Abschnitt des Erkennens Wissenschaft (epistêmê) zu nennen, den zweiten Verstandeseinsicht (dianoia), den dritten Glauben an die Sinne, den vierten bloßen Schein von Wahrheit, und einerseits die beiden letzten zusammen Meinung (doxa), andererseits die ersten zusammen Vernunfteinsicht (noêsis), dabei bezieht sich Meinung auf das wandelbare Werden, Vernunfteinsicht auf das unwandelbare Sein (ousia), so daß wie Sein zum Werden, so Vernunfteinsicht zu Meinung, und wie Wissenschaft zu Glauben an die Sinne, so Verstandeseinsicht zu Scheinwissen sich verhält.[4]

Ousia ist gleichbleibend, wesenhaft und der „ewigen Wahrheit“ verpflichtet:

Welche von beiden Hauptlebensbedingungen scheinen nun nach deiner Meinung des höheren reinen Seins (ousia) teilhaftiger zu sein: etwa die wie Brot, Trank, Fleisch, überhaupt sämtliche leibliche Nahrung, oder das, was in sich begreift wahre Vorstellung, Wissenschaft, Vernunfteinsicht und überhaupt wiederum jede geistige Stärkung! Bilde aber dein Urteil hier auf folgende Weise: Das an das immer Gleichbleibende, Unsterbliche und an die ewige Wahrheit sich Haltende, das selbst so Beschaffene und in einem solchen Entstehende, ist das ein wesenhafteres Sein als das mit dem niemals sich Gleichbleibenden und Vergänglichen Verwandte, selbst so Beschaffene und auch in einem solchen Entstehendes? - Ein weit wesenhafteres Sein, sagte er, hat das mit dem ewig Gleichbleibenden Verwandte.[5]

Aristoteles

Zu einer ganz anderen zentralen Bedeutung gelangte der Begriff in der aristotelischen Philosophie:

Aristoteles aber bestimmte das Seiende als das sich in den Erscheinungen selbst entwickelnde Wesen. Er verzichtete darauf, etwas von den Erscheinungen selbst Verschiedenes (eine zweite Welt) als ihre Ursache auszudenken, und er lehrte, daß das im Begriff erkannte Sein der Dinge keine andere Wirklichkeit besitze, als die Gesamtheit der Erscheinungen, in denen es sich verwirkliche. So betrachtet, nimmt das Sein (ousia) erst vollständig den Charakter des Wesens (to ti ên einai) an, welches den alleinigen Grund seiner einzelnen Gestaltungen bildet, aber nur in diesen selbst wirklich ist: und alle Erscheinung wird zur Verwirklichung des Wesens.[6]

In der frühen Schrift Kategorien bezeichnet ousía als erste Substanz das selbstständige Einzelding, das hypokeimenon, das Zugrundeliegende, d.h. das Subjekt oder Substrat ('Sokrates') gegenüber seinen zufälligen Eigenschaften, Akzidenzien ('weiß'). Zweite Substanz nennt Aristoteles hier das Allgemeine, unter das diese Einzeldinge fallen, ('Mensch').

In den späteren Abhandlungen der Metaphysik treten Einzeldinge der Kategorien weiterhin als Substanzen auf, die zweiten Substanzen nicht mehr. Im Zentrum steht nun die Frage 'Was ist im höchsten Maße wirklich?' im folgenden Sinne: 'Was ist die ousía der Einzeldinge?' Aristoteles' Antwort lautet in Metaphysik Zeta: die Form, das eidos.

Die allgemein übliche Übersetzung von ousia mit Substanz erklärt sich philosophiegeschichtlich damit, dass die Kategorien-Schrift im lateinisch geprägten Mittelalter als logische Lehrschrift einen großen Einfluss auf das philosophische Denken ausübte, während die in ontologischer Hinsicht wesentlich elaboriertere Schrift Metaphysik über Jahrhunderte nicht verfügbar war und erst wesentlich später ins Lateinische übersetzt wurde.

substantia (= das Zugrundeliegende) entspricht der oben dargestellten ontologischen Konzeption der Kategorien. Im Kontext der Metaphysik ist substantia bzw. Substanz jedoch eigentlich eine zu eingeschränkte Übersetzung für ousia, da hier eine differenziertere Theorie des Seienden erörtert wird, in der neben dem Zugrundeliegenden noch andere inhaltliche Bestimmungen der ousia eine Rolle spielen. Der Begriff Substanz hatte sich aber durch die große Verbreitung der Kategorien-Schrift als philosophischer Fachausdruck bereits fest etabliert.

Weitere Philosophen

Nach Boëthius ist ousia die Form. Nach den Stoikern ist ousia als oberste Kategorie die qualitätslose Materie. Nach Plotin ist ousia, was nicht in einem hypokeimenon ist [7], was sich selbst angehört. Das beharrliche Substrat der körperlichen Veränderungen ist die Materie. Als „Potenz der Begriffe“ ist die Seele ousia.[8]

Nach Johannes Scotus Eriugena ist ousia ganz und ungeteilt in den Arten derselben enthalten.[9] Sie ist unkörperlich.[10] Das Allgemeine ist nach Johannes Scotus Eriugena real, als Idee vor den Dingen und als Essenz in den Dingen. Die Dialektik als die Lehre von den allgemeinen Begriffen und Wesenheiten geht von den Gattungen zu den Arten und von diesen wieder zu den Gattungen. Die Kategorien stehen untereinander in Beziehung, wobei die Substanz (ousia) die Grundlage der anderen ist.[11]

Anmerkungen

  1. Wolfgang Schneider, Ousia und Eudaimonia, Walter de Gruyter 2001, S. 128
  2. Wilhelm Pape: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Braunschweig 1914, Band 2, S. 420
  3. So Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 723; Kirchner u.a., Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, S. 692
  4. Platon, Politeia, Buch VII., 534a
  5. Platon, Politeia, Buch IX., 585b f.
  6. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 115 f.
  7. Plotin, Enneaden VI, 3, 5
  8. Plotin, Enneaden VI, 2, 5. vgl. VI, 3, 2
  9. Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, Buch I., 49
  10. Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, Buch I., 33
  11. Eisler, Philosophen-Lexikon, S. 303

Literatur

  • Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Berlin 1904
  • Rudolf Eisler: Philosophen-Lexikon, Berlin 1912
  • Friedrich Kirchner und Carl Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl., Leipzig 1907
  • Wolfgang Schneider: Ousia und Eudaimonia, Walter de Gruyter, Berlin 2001
  • Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1912


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