Tiefenpsychologie und Johannes Trüper: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Sigmund freud um 1905.jpg|mini|Sigmund Freud (1856–1939) gilt als Begründer der Tiefenpsychologie]]
'''Johannes Trüper''' (* [[Wikipedia:2. Februar|2. Februar]] [[Wikipedia:1855|1855]] in [[Wikipedia:Rekum|Rekum]]/[[Wikipedia:Landkreis Blumenthal|Landkreis Blumenthal]]; † [[Wikipedia:1. November|1. November]] [[Wikipedia:1921|1921]] in [[Wikipedia:Jena|Jena]]) war ein [[Deutschland|deutscher]] [[Pädagoge]] aus dem Kreis der „Thüringer Erzieher“ und Mitbegründer der [[Heilpädagogik]] sowie angrenzender pädagogischer Arbeitsfelder. Er vertrat eine lebensnahe Pädagogik, die auf konkretes, gemeinschaftsorientiertes Handeln ausgerichtet ist und dem Einzelnen durch einen möglichst breit gefächerten Ansatz in Förderung und Erziehung begegnen will. Seine Arbeit wurzelt in [[Christentum|christlichen]] Glaubensüberzeugungen und Ideen der [[Sozialfürsorge]] des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sein [[Psychopathie]]-Konzept bahnte ein neues Verständnis beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher an, indem es an Stelle einer vermeintlichen charakterlich-moralischen Minderwertigkeit von deren gesundheitlicher und sozialer Situation ausging, und eine Verknüpfung von eingehender Erziehung und [[Therapie]] anstrebte.
Der Begriff '''Tiefenpsychologie''' fasst alle [[Psychologie|psychologischen]] und [[Psychotherapie|psychotherapeutischen]] Ansätze zusammen, die den ''[[unbewusst]]en'' seelischen Vorgängen einen hohen Stellenwert für die Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens beimessen. Die zentrale Vorstellung der Tiefenpsychologie ist, dass „unter der Oberfläche“ des [[Bewusstsein]]s in den ''Tiefenschichten'' der Psyche weitere, unbewusste Prozesse ablaufen, die das bewusste Seelenleben stark beeinflussen.


Diese Ansicht wurde bereits vor [[Sigmund Freud]] in der [[Philosophie]] ([[Leibniz]], [[Arthur Schopenhauer|Schopenhauer]], [[Nietzsche]]) und der Literatur der [[Romantik]] vertreten, doch Freud war der erste, der diese Annahme systematisch untersuchte und dann aus seinen Erkenntnissen die tiefenpsychologische Schule der [[Psychoanalyse]] begründete. Den von [[Eugen Bleuler]] eingeführten Begriff ''Tiefenpsychologie'' verwendete Freud ab 1913, um zwischen seiner Psychoanalyse und der in der akademischen Psychologie damals vorherrschenden [[Kognitionspsychologie|Bewusstseinspsychologie]] zu unterscheiden.
Besondere Bedeutung erlangte er durch die Gründung eines neuartigen Heimes für Schülerinnen und Schüler, die aufgrund verschiedener Beeinträchtigungen im damaligen Schulwesen keinen Platz fanden.


Bekannte tiefenpsychologische Schulen sind neben der Psychoanalyse die von [[Carl Gustav Jung]] geprägte [[Analytische Psychologie]] und die von [[Alfred Adler]] entwickelte [[Individualpsychologie]]. Alle diese Richtungen der Tiefenpsychologie sind der Auffassung, dass dem bewussten Erleben und Verhalten Prozesse der Triebregulation und Konfliktverarbeitung zugrunde liegen. Diese in der „Tiefe“ des Unbewussten ablaufenden psychischen Prozesse werden von [[Triebtheorie|Trieben]] und anderen [[motivation]]alen Vorgängen bestimmt.
== Leben ==
Trüper, der sich später Johannes nannte, kam 1855 als das vierte von sechs Kindern des Schiffszimmermannes Johann Trüper und seiner Ehefrau Anna Meta, geb. Chantelau, zur Welt. Er besuchte zunächst die Volksschule und – für ihn weitaus bedeutsamer – eine höhere Privatschule mit bemerkenswertem Erfolg. Dabei durfte er als Jugendlicher bereits aushilfsweise an einer Dorfschule unterrichten und erste Lehrerfahrung sammeln. Mit 17 Jahren trat er in das [[Wikipedia:Bremer Lehrerseminare|''Bremer Lehrerseminar'']] ein, war jedoch von der Überbetonung bloßer Wissensvermittlung gegenüber psychologischen Aspekten sowie vom Zustand des Schulwesens seiner Zeit schwer enttäuscht.


Die Art der jeweiligen Triebkraft stellt einen zentralen Unterschied zwischen den drei genannten tiefenpsychologischen Schulen dar: Während Freud dem [[Sexualtrieb]] eine große Bedeutung zumisst, steht für Jung eine unspezifische Triebenergie und für Adler das [[Machtstreben]] im Zentrum der seelischen Antriebskräfte.
Nach seinem Examen unterrichtete der junge Lehrer mehrere Jahre in Schulen bei [[Wikipedia:Bremen|Bremen]]. In dieser Zeit trat er dem Lehrerverein bei und setzte sich in zahlreichen Aufsätzen kritisch mit Mängeln des Schulsystems und anderen sozialen Fragen in Zusammenhang mit der Erziehung heranwachsender Persönlichkeiten auseinander. In Bremen kam Trüper auch mit dem Pädagogen [[Wikipedia:Friedrich Wilhelm Dörpfeld|Friedrich Wilhelm Dörpfeld]] in Verbindung, der seine Arbeit in pädagogischer und philosophischer Hinsicht sehr bereicherte. Anfänglichen Kontakten über Fachpublikationen folgte eine enge persönliche Bekanntschaft; zuletzt ordnete er dessen Nachlass.


== Grundlegende Annahmen der Tiefenpsychologie ==
Nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen bat Trüper schließlich um Beurlaubung vom Schuldienst und ging 1887 nach [[Wikipedia:Jena|Jena]], um dort ein fachlich breit angelegtes Studium unter anderem in [[Philosophie]], [[Pädagogik]], [[Psychiatrie]] und [[Naturwissenschaft]]en aufzunehmen. Er profitierte dabei maßgeblich vom intellektuellen Klima an der Universität und der sich dort sammelnden pädagogischen Fachkompetenz. So kam er − teils persönlich − mit vielen der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit in Kontakt und hörte Vorlesungen bei [[Wikipedia:Wilhelm Rein|Wilhelm Rein]], [[Ernst Haeckel]], [[Wikipedia:Rudolf Eucken|Rudolf Eucken]] und [[Wikipedia:Otto Binswanger|Otto Binswanger]].
Die hier vorgestellten Begriffe bilden gewissermaßen den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der Tiefenpsychologie, dem alle Schulrichtungen im Wesentlichen zustimmen würden.


=== Das (dynamische) Unbewusste ===
Seine weiteren Studien- und Promotionsvorhaben gab er jedoch auf, als er gebeten wurde, einen seelisch beeinträchtigten, intellektuell begabten Jungen, für den sich nach einer Konsultation bei Otto Binswanger keine adäquate Unterbringung finden ließ, einige Zeit zu betreuen. Da ihn diese Aufgabe begeisterte und offensichtlich Bedarf vorhanden war, nahm Trüper nach und nach weitere Kinder auf, und beschloss, sich diese Arbeit zur Lebensaufgabe zu machen.
[[Datei:Instanzenmodell Freud2.svg|mini|Modell der Psyche nach Sigmund Freud]]
Die Vorstellungen der Tiefenpsychologie sind, entgegengesetzt zu den Theorien über die Psyche in der [[Kognitionspsychologie]] und im [[Behaviourismus]], vor allem geprägt durch die Annahme eines ''dynamischen Unbewussten'' als wesentlicher und hochwirksamer Teil unseres psychischen Lebens. Diese Annahme besagt, dass
* viele unserer mentalen Vorgänge unbewusst ablaufen
* ein Teil dieser unbewussten mentalen Vorgänge ganz anderen Funktionsprinzipien bzw. Gesetzmäßigkeiten gehorcht (s. u.) als die bewussten Vorgänge. Dieser Teil übt eine große Wirkungskraft auf unser Erleben und Verhalten aus und wird in der Tiefenpsychologie als (dynamisches) Unbewusstes bezeichnet. Das Attribut „dynamisch“, das manchmal hinzugefügt wird, soll es von denjenigen mentalen Vorgängen abheben, die zwar auch nicht bewusst registriert werden, aber nicht den besonderen Prinzipien des „eigentlichen“ Unbewussten gehorchen (siehe auch [[Psychodynamik]]).


[[Datei:Carl-Jung-mod.jpg|mini|Carl Gustav Jung (1875–1961)]]
1890 gründete Trüper in Jena sein ''Heim für entwicklungsgeschädigte und -gestörte Kinder'', für das er zwei Jahre später die ''Sophienhöhe'', ein ehemaliges Sanatorium, erwarb. Unter verschiedenen Bezeichnungen und wechselnden Rahmenbedingungen entfaltete dieses Heim seine umfassende heil- und sozialpädagogische Konzeption für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Beeinträchtigungen. Nachhaltige Unterstützung – auch in finanzieller Hinsicht – erfuhr Johannes durch seine Schwester Meta Trüper, die seine Arbeit lebenslang begleitete.


Bekannte Beispiele für die Wirkung unbewusster Prozesse sind („Freudsche“) Fehlleistungen (z. B. Versprecher, die verborgenen Gedanken bzw. Motive des Sprechers zum Ausdruck bringen; unbewusst motiviertes Vergessen, Verlaufen, Verlegen usw);
Zusammen mit [[Wikipedia:Julius Ludwig August Koch|Julius Ludwig August Koch]], dem Direktor der ''Staatsirrenanstalt [[Wikipedia:Zwiefalten|Zwiefalten]]'' (heute: ''Münsterklinik''), Christian Ufer, einem Regelschullehrer, und dem evangelischen Theologen [[Wikipedia:Friedrich Zimmer|Friedrich Zimmer]], Begründer des ''[[Wikipedia:Evangelischer Diakonieverein Berlin-Zehlendorf|Evangelischen Diakonievereins]]'', rief er 1895 die Zeitschrift ''Die Kinderfehler'' ins Leben, „die auf ihrem Gebiet [...] für die Entwicklung der Heilpädagogik von höchster Bedeutung geworden“ ist.<ref>Henze 1934, Sp. 2947f.</ref> 1900 erhielt das Blatt seinen späteren Namen ''Zeitschrift für Kinderforschung. Mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie''. Die Zeitschriftengründer waren zugleich Herausgeber, wobei Trüper die Schriftleitung übernahm. Bis zu seinem Tod war das Periodikum Organ des ''Vereins für Kinderforschung'', an dessen Gründung 1898 er beteiligt gewesen war. Ein Höhepunkt seines öffentlichen Wirkens war der ''Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge'', der vom 1. bis 4. Oktober 1906 in Berlin stattfand und an dem über 700 Personen teilnahmen.
[[Abwehrmechanismus|Abwehrmechanismen]] wie [[Projektion (Psychoanalyse)|Projektion]] (unerwünschte Tendenzen der eigenen Person werden bei anderen wahrgenommen bzw. „angesiedelt“); Traumgedanken bzw. -bilder. Das Unbewusste wird in der Tiefenpsychologie auch als „Ort“ der wesentlichen Triebkräfte des Seelenlebens angesehen (von Freud in seinem [[Psychoanalyse#Topographisches Modell und Instanzenmodell|Instanzenmodell]] der Psyche „Es“ genannt). Später gebraucht Freud den Begriff „unbewusst“ jedoch v.&nbsp;a. adjektivisch. Er meint damit nicht mehr nur eine Eigenschaft der psychischen Instanz „Es“, auch das Ich und das Über-Ich haben unbewusste Anteile.


Nach Freud charakterisieren folgende Eigenschaften das Unbewusste:
1896 heiratete Trüper Elisabeth Melaleuka Dörr, Tochter eines Bonner Apothekers aus dem Umkreis Friedrich Wilhelm Dörpfelds. Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor, die später die pädagogische Arbeit ihres Vaters fortsetzten. Der Überlieferung nach prägte Elisabeth Melaleuka die Atmosphäre der Heimgemeinschaft entscheidend mit; wie sich jedoch die offenbar „glückliche“ Beziehung der beiden unter den ständigen Herausforderungen des Heimlebens gestaltete, ist nicht näher bekannt.


* Alogik: die Gesetzmäßigkeiten der Logik gelten hier nicht und haben auf die Inhalte des Unbewussten keinen Einfluss.
Trüper starb im Alter von 66 Jahren infolge einer Krebserkrankung, nachdem es ihm zuvor gelungen war, den Heimbetrieb geordnet zu übergeben. Er wurde im Park der Sophienhöhe begraben.
* Widersprüchlichkeit: im Unbewussten können Gegensätze identisch sein bzw. ihr jeweiliges Gegenteil bedeuten. Freud verweist in diesem Zusammenhang auf die Sprache, in der manche Worte, sog. „Urworte“, einen gegensätzlichen Sinn haben können (lat.: ''altus'' = „hoch“ : „tief“ oder ''sacer'' = „heilig“ : „verflucht“).
* Zeitlosigkeit: Vorgänge im Unbewussten haben keine Beziehung zur Zeit, sind also nicht zeitlich geordnet.


Die Vorstellung, dass es mit dem Unbewussten einen weiteren Bereich der Psyche gibt, der nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten wirkt als das Bewusstsein, ist von der akademischen [[Psychologie]] lange Zeit abgelehnt worden. Um die empirisch-experimentelle Überprüfung tiefenpsychologischer Hypothesen hat sich die [[Gestaltpsychologie]] verdient gemacht – dabei konnten einige Hypothesen bestätigt werden, für andere wurden Modifikationen vorgeschlagen (vgl. dazu die Arbeiten von [[Wolfgang Metzger]]).
Ein Teil seines, bisher nicht vollständig aufgearbeiteten, Nachlasses befindet sich im ''Heilpädagogischen Archiv der Humboldt-Universität Berlin'' sowie bei weiteren wissenschaftlichen Institutionen und in Familienbesitz.


=== Verdrängung ===
=== Ehrungen ===
Ein wichtiges Konzept innerhalb aller tiefenpsychologischen Schulen ist der psychische Mechanismus der [[Verdrängung (Psychoanalyse)|Verdrängung]]. Freud definierte die Verdrängung ursprünglich als „Erinnerungsabwehr“ schmerzhafter, emotional unangenehmer Erinnerungen aus dem Bewusstsein. „Abwehr“ ist eine eher aktive Leistung des „Ichs“ im Freud’schen Sinne, die der innerpsychischen Konfliktbewältigung dient und u.&nbsp;a. auch andere Formen der Abweisung aus dem Bewusstsein umfasst, wie beispielsweise die ''Verleugnung''.  
* Eine Schule für Erziehungshilfe in [[Wikipedia:Chemnitz|Chemnitz]] wurde nach ihm benannt.
{{Siehe auch|Abwehrmechanismus}}
* Die ''Johann-Trüper-Straße'' in Bremen-[[Wikipedia:Rekum|Rekum]] wurde nach ihm benannt.
* Der Weg zur "Sophienhöhe" in [[Wikipedia:Jena|Jena]] erhielt 1991 den Namen "Trüperweg".


=== Übertragung und Gegenübertragung ===
== Pädagogische Konzeption ==
Eine ''Übertragung'' liegt vor, wenn jemand Erwartungen (z.&nbsp;B. Rollenerwartungen), Wünsche, Befürchtungen oder Vorstellungen, die sich in früheren wichtigen Beziehungen gebildet haben, an das Verhalten oder die Eigenschaften anderer Personen richtet. Diese Erwartungen bilden nun eine Art Schablone, die wiederbelebt wird, wenn das Beziehungsmuster eine ähnliche Struktur aufweist wie zu der ursprünglichen Bezugsperson (z.&nbsp;B. Vater – Chef).
=== Grundzüge und Ideen ===
Trüper strebte im Grundsatz eine lebensnahe Pädagogik an, die mit ihrem breit ausgelegten Ansatz die Persönlichkeit seiner (beeinträchtigten) Schüler als Ganzes erfasst und sie durch eine eingehende, auf den Einzelnen abgestimmte Erziehung befähigt, aktiv am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Prägende Leitgedanken sind dabei der „erziehende Unterricht“, der neben der Vermittlung von Lerninhalten zugleich die Weiterentwicklung der Persönlichkeit unterstützen soll, und die neu eingeführte Verknüpfung von Therapie und Medizin, um den Problemen belasteter Schüler umfassend gerecht zu werden.


In einer klassischen psychoanalytischen Therapie nach Freud ist die Entwicklung einer Übertragungsbeziehung zum Analytiker ausdrücklich gewollt und wird durch das psychoanalytische Behandlungssetting gefördert (Liegen auf der Couch, der Psychoanalytiker sitzt außerhalb des Gesichtsfeldes usw). Der Sinn ist, dass die verinnerlichten konflikthaften Gefühle (Ängste, Scham- oder Schuldgefühle usw.) zu den ursprünglichen Bezugspersonen in der Beziehung zum Analytiker wiederbelebt und -erlebt werden sollen („Übertragungsneurose“), aber nun mit Hilfe des Analytikers neu verarbeitet werden können. Freud fasste diesen Prozess mit den Begriffen „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ zusammen und sagte, man könne die Neurose nun einmal nicht „in Abwesenheit“ (''in effigie'') erschlagen.
Praktisches Handeln und Arbeiten (etwa in den Anlagen des Heims) wird, neben dem eigentlichen Unterricht, ein wichtiges Element der Erziehung zu einem selbständigen Leben. Durch diese Erweiterung des pädagogischen Programms können auch schwerer beeinträchtigte Schüler zu einer sinnvollen Beschäftigung finden und konkrete Fertigkeiten erwerben.


Eine Übertragung vergangener, prägender Beziehungsmuster findet aber keineswegs nur in einer psychoanalytischen Beziehung statt, sondern in nahezu allen zwischenmenschlichen Beziehungen – auch in anderen Psychotherapieformen, wo diese Prozesse jedoch in der Regel unerkannt bleiben und nicht thematisiert werden.
Im Trüper'schen Ansatz werden beeinträchtigte Jugendliche neu als Mitmenschen mit charakteristischen Eigenschaften, Stärken und Schwächen wahrgenommen, deren Probleme man durch gezielte [[Erziehung]] angehen muss, um ihnen bessere Werdechancen zu ermöglichen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Erzieherpersönlichkeit, die sich selbst stark und authentisch einbringen muss und dabei fortwährend vor der Aufgabe steht, psychologisches Fachwissen mit pädagogischer [[Intuition]] zu verbinden, um in der jeweiligen konkreten, individuellen Situation zu angemessenen Lösungen zu gelangen.


Als „[[Gegenübertragung]]“ bezeichnet man die emotionale Reaktion eines Analytikers auf den Analysanden (bzw. auf dessen aus Übertragungsphänomenen hervorgehende Handlungen und Äußerungen). Analytiker haben gelernt, auf ihre Gefühlsreaktionen (Gegenübertragungen) auf den Analysanden genau zu achten und sie als wichtige Informationsquelle über dessen innere Konflikte und über das Beziehungsgeschehen im psychoanalytischen Prozess zu nutzen.
Trotz des stark auf die Einzelsituation ausgerichteten Erziehungsmodells bleibt die Erziehung in der und für die Gemeinschaft erklärtes Ziel, wobei Trüper die gegenseitige Unterstützung zwischen (verschiedenartig beeinträchtigten) Kindern besonders betont. [[Strafe]]n als Erziehungsmittel werden – besonders in der Heilpädagogik – entgegen traditioneller Vorstellungen zurückgenommen; der Erzieher bleibt dennoch stets eine wohlwollende, einsichtige und glaubhafte, aber bestimmte [[Autorität]]. Eine deutlichere Akzentuierung der [[Selbstentfaltung]] von Kindern nach deren Wertevorstellungen, wie sie nachfolgende Ansätze propagieren, wird abgelehnt.


=== Die Bedeutung der frühen Kindheit ===
Trüpers Pädagogik stützt außerdem auf eine zeittypisches positives Bild der [[Natur]] sowie auf ein christlich inspiriertes Idealbild der [[Familie]] als beschützender Ort des Heranwachsens. Vom Kontakt mit der „freien Natur“ erhoffte er sich, insbesondere im Gegensatz zu den [[Stadt]]landschaften der frühen [[Industrialisierung]], vielfältige Impulse für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung; die Familie soll hingegen als Baustein der Gesellschaft eine rollengerechte Erziehung durch liebevolle [[Vorbild]]er gewährleisten.
In allen drei Hauptströmungen der Tiefenpsychologie gilt die [[Entwicklungspsychologie|Entwicklung]] in der Kindheit als bestimmend für die spätere Persönlichkeit. Auch die Ursachen für [[psychische Störung]]en werden zumeist in der frühen Kindheit gesehen. Eine Bedeutung kommt hier vor allem der [[Interaktion]] zwischen dem Kind und den wichtigen Bezugspersonen zu.


== Anfänge der Tiefenpsychologie ==
Bezüglich der Lerninhalte fordert Trüper allgemein die Aktualisierung der damaligen Vorgaben, sodass die Lernenden in ihrer, durch die aufkommende Industrialisierung vielfach ungewöhnlich schwierige, Lebenssituation angesprochen werden können und die Erziehung sie auf das Leben in der veränderten Gesellschaft vorbereitet.


=== Sigmund Freud ===
Insbesondere für seine förderungsbedürftigen Schüler, jedoch auch für das gesamte Schulsystem, strebt er eine Konzentration und Reduktion des Lernstoffs an, um eine [[Wikipedia:Überforderung#Schulpädagogik|Überforderung der Schüler]], die Fehlentwicklungen begünstigen könnte, und eine Überfrachtung mit unverstandenem Buchwissen ohne konkrete Bezüge zu verhindern.
[[Datei:Hall Freud Jung in front of Clark 1909.jpg|mini|Jung (rechts unten) und Freud (links unten) vor der Clark University]]
Freud sah zunächst als Beweis für das Unbewusste die so genannte [[posthypnotische Suggestion]] an, worunter verstanden wird, dass Befehle, die einem [[Hypnose|hypnotisierten]] Probanden suggeriert werden, nach dem Erwachen aus der hypnotischen Trance ausgeführt werden, obwohl sich der Proband nicht an den Befehl erinnert. Diesen Ansatz zur Behandlung von [[Hysterie]] übernahm Freud auch zunächst von [[Jean-Martin Charcot]]. Für das Konzept des Unbewussten bedeutet dies, dass der Befehl, obwohl sich der Proband nicht daran erinnern kann, so viel an Spannung besitzt, dass er ihn ausführt, obwohl er sich darüber wundert, warum er es macht. Oft fanden die Probanden für das Ausführen der posthypnotischen Suggestion „Ausreden“. Sie versuchten, sich ihre Handlung durch simple, aber scheinbar logische Absichten zu erklären, ohne sich dabei an die in hypnotischer [[Trance (Zustand)|Trance]] [[Suggestion|suggerierten]] Befehle erinnern zu können. Auch ist der Freud’sche Versprecher oder die Freud’sche [[Fehlleistung]] für eine Annäherung an den Begriff des Unbewussten gebraucht worden.


=== Carl Gustav Jung ===
=== Umsetzung und Arbeitsweise ===
Jung sah als Beweis für das Unbewusste seine Assoziationsexperimente. Er rief den Probanden einige genau festgelegte Wörter zu. Die Probanden sollten so schnell wie möglich das Erste antworten, was ihnen in den Sinn kam. Bei diesem Experiment fiel Jung auf, dass einige der Wörter merkwürdige Reaktionen auslösten. Die [[Assoziation (Psychologie)|Assoziationen]] zu manchen Wörtern wurden gestört. Sie waren zu langsam oder enthielten Assoziationen, die auf einen konflikthaften Zusammenhang schließen ließen. (Beispiel: Arzt: Wolke — Proband: Luft; aber: Arzt: Mutter — Proband sehr spät: Friedhof). Aus diesem Zusammenhang schloss Jung, dass es abseits des Bewusstseins konflikthafte Zusammenhänge gibt, die er als [[Komplex (Psychologie)|Komplexe]] bezeichnete, und die – obwohl unbewusst – die bewusste Absicht stören können.
Trüper legte seiner Heimerziehung das zu seiner Zeit noch vielfach angezweifelte – Prinzip der [[Wikipedia:Koedukation|Koedukation]] zugrunde, da er im möglichst unkomplizierten Zusammenleben von Jungen und Mädchen eine wichtige Vorbereitung auf ein aktives Leben sah; damit verband sich jedoch keinesfalls eine tiefgreifendere Kritik an den traditionellen [[Soziale Rolle|Rollen]]- und Moralvorstellungen.


Jung nahm außerdem an, dass es neben dem ''persönlichen Unbewussten'' ein weiteres gibt, das ''[[Kollektives Unbewusstes|kollektive Unbewusste]]'' (als tiefere Form des Unbewussten, siehe [[Archetyp (Psychologie)|Archetypus]]). Er sah dieses gewissermaßen als Lagerstätte des psychischen Erbes der Menschheitsgeschichte an, welches sich analog zum Körper während der [[Evolution]] entwickelt habe und durch sie geprägt werde.
Der [[Unterricht]] wurde grundsätzlich in drei Klassenstufen erteilt, die ungefähr auf verschiedene Anforderungsniveaus des allgemeinen Schulsystems abgestimmt waren. Unterrichtet wurde jedoch regulär auch in flexibel gebildeten Gruppen mit gleichen Lernbedürfnissen. Entsprechend begabte Schüler konnten extern das [[Abitur]] ablegen und dennoch zugleich Heimbewohner bleiben.


=== Alfred Adler ===
== Pädagogische Praxis: Die Sophienhöhe ==
Adler sah den Menschen – wie es der Name seiner [[Individualpsychologie]] andeutet – als einzigartige Einheit, in der sich Körper und Seele nicht nur gegenseitig beeinflussten, sondern auch auf analoge Weise funktionierten. Ähnlich wie der Körper eine ''Organminderwertigkeit'' auszugleichen versucht, versucht die Psyche ein [[Minderwertigkeitsgefühl]] durch ein Geltungs- oder Vollkommenheitsstreben zu überwinden. Alle psychischen Möglichkeiten des Individuums wie ''emotionale Erlebnisfähigkeit'', psychisches Profil (Charakter) und ''Intelligenz'' bilden sich nach Adler grundlegend in der frühen Kindheit, in der interaktiven Auseinandersetzung mit den ersten Beziehungspersonen je nach Anforderung und Förderung heraus. Diese frühen Lebenseindrücke bestimmen gemäß Adler den meist unbewussten ''Lebensplan'' des Menschen, das heißt, wie er sich selbst und seine Umwelt wahrnehmen kann, wie er das Verhalten seiner Mitmenschen interpretiert und wie er die ''drei Lebensaufgaben –&nbsp;Arbeit, Liebe, Gemeinschaft''&nbsp;– löst. In dieser Zeit kann sich auch das für die Adler’sche Lehre zentrale [[Gemeinschaftsgefühl]] entwickeln, das Gefühl des vertrauten Aufgehobenseins zwischen den Mitmenschen. Für die Individualpsychologen im Sinne Adlers ist es ein Gradmesser für die seelische Gesundheit des Individuums, welches sich dann in seiner Beziehung zur Gemeinschaft und seinem wechselseitigen Einfluss auf diese förderlich ausgestalten und verankern kann. Negatives Gemeinschaftsgefühl als Grundbefindlichkeit verursacht je nach Schweregrad einen latenten [[Minderwertigkeitskomplex]] und parallel dazu ablaufendes, d.&nbsp;h. ein das mangelhaft vorhandene Gemeinschaftsgefühl kompensierendes, überhöhtes ''Geltungsstreben'' ausgeprägt beispielsweise in Form von dem Individuum unbewusstem Dominanzverhalten, einen ''nervösen Charakter'', eine [[Neurose]] oder eine den ganzen Menschen umfassende [[Psychose]]. Diese Erkenntnisse bilden Adlers ''Neurosenlehre'', mit der die Grundlage für die Heilung dieser seelischen Krankheiten durch die ''individualpsychologische Psychotherapie'' und deren Vorbeugung durch die ''Erziehungslehre'' gelegt wurde.
=== Ursprüngliches Konzept ===
Trüpers Konzeption entwickelte sich im Wesentlichen in der pädagogischen Praxis seines Heims, der Sophienhöhe bei Jena, das vor allem in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg schrittweise aufgebaut wurde. Knapp 30 Pädagogen betreuten dort nach dem, damals noch ungewöhnlichen, Prinzip der Koedukation etwa 125 Schüler mit unterschiedlichen Erkrankungen und Schwierigkeiten. Darunter befanden sich auch Kinder und Jugendliche, die nicht hauptsächlich gesundheitliche, sondern schulische und soziale Probleme aus ihrem ursprünglichen Umfeld mitbrachten.


=== Moderne Forschungsgrundlagen ===
Die − betont eng verbundene Heimgemeinschaft − war in Familien nachempfundenen Gruppen organisiert: Die Kinder hatten jeweils eine feste Bezugsperson zur Betreuung, die in der Regel auch bei ihrer Gruppe auf der Sophienhöhe wohnte und eng in das Heim eingebunden war. Die Organisation setzte dabei klar auf Autorität und Hierarchie. Diese enge Einbindung schuf einerseits eine menschlich wie pädagogisch sehr intensive Situation, forderte jedoch extremen Einsatz vonseiten des Personals und brachte aus heutiger Sicht durchaus problematische Arbeitsbedingungen mit sich.
Neuere Untersuchungen bestätigen teilweise diese aus den Anfängen der Tiefenpsychologie (1890–1920) stammenden Experimente. Beispiel: In einigen Untersuchungen zu den [[Konversionsstörung]]en wurden „hysterisch“ blinden Menschen, also Menschen, bei denen aufgrund einer psychischen Störung die visuelle Wahrnehmung abhandengekommen war, verschiedene visuelle Reize vorgelegt. Wenn die Probanden keinen Grund hatten, ihre [[Blindheit]] vor den Untersuchern aufrechtzuerhalten, waren die Testergebnisse ähnlich denen gesunder Probanden. Wenn die Probanden allerdings Grund hatten, ihre Blindheit vor den Untersuchern aufrechtzuerhalten, schnitten sie bei den Tests unterdurchschnittlich ab – und zwar noch schlechter, als ein aus physiologischen Gründen Erblindeter unter Berücksichtigung zufällig richtiger Antworten abgeschnitten hätte. Daraus kann man schließen, dass es tatsächlich unbewusste [[Motivation]]en für menschliches Verhalten gibt.


Die Grundlagen für eine normale oder eine irritierte Entwicklung wird in der Tiefenpsychologie durch die direkte Beobachtung von [[Säuglings- und Kleinkindforschung|Säuglingen und Kleinkindern]] zum Beispiel mit dem Setting [[Fremde Situation]] von [[Mary Ainsworth]] untersucht und diagnostiziert.
Die Sophienhöhe bot eine vergleichsweise moderne Infrastruktur, die mehrere Wohngebäude für die Gruppen sowie Wirtschafts- und Gemeinschaftsräume umfasste. Die Einrichtung verfügte über eine eigene Landwirtschaft und Gärtnerei, eine [[Wikipedia:Tischler|Tischler]]- und [[Wikipedia:Schlosserei|Schlosserwerkstatt]] − alle nicht zuletzt zur praktischen Betätigung der Jugendlichen − sowie unter anderem Möglichkeiten für technischen Anschauungsunterricht, ein Schwimmbad und eine Turnhalle mit Versammlungsmöglichkeit. Auf diese Weise fand der umfassende Ansatz Trüpers in der Gemeinschaft der „Sophienhöher“ eine praktische Umsetzungsmöglichkeit.


Auch einige Ergebnisse der modernen [[Hirnforschung]] zeigen große Ähnlichkeiten zu den Theorien und Modellen der Tiefenpsychologie. Demnach ist absichtsvolles Handeln nicht generell vom „bewussten“ Willen gesteuert, sondern vor allem von den [[Emotion]]en. Des Weiteren wurde ein Bereich im Stirnhirn identifiziert, der das Modell des Über-Ichs zu bestätigen scheint. Auch gibt es große vergleichbare Ergebnisse zur Schichtentheorie = bewusst — vorbewusst — unbewusst ([[Strukturmodell der Psyche#Das Es|Es]], [[Ich]] und [[Über-Ich]] = dynamisches Modell) (siehe hierzu vor allem: [[Mark Solms]] & [[Karen Kaplan-Solms]]: [[Neuro-Psychoanalyse]] auch: [[Hans Markowitsch]]).
=== Weitere Entwicklung ===
Nach dem Tod ihres Gründers geriet die Sophienhöhe zunächst in konzeptionelle und finanziell-organisatorische Schwierigkeiten: Besonders die veränderten gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen stellten die Arbeit vor neue Herausforderungen, die jedoch unter dem neuen Leiter [[Wikipedia:Otto Haase|Otto Haase]] (bis 1930) mit neuen Impulsen erfolgreich angegangen werden konnten. Im Anschluss wurde das Heim, zeitweise unter Mitwirkung von [[Wikipedia:Hanns Eyferth|Hanns Eyferth]], erneut von Nachkommen Trüpers geführt.


Aufgrund seiner biologischen Ausstattung kann der Mensch gegenüber seinen Mitmenschen ein [[Empathie|Mitgefühl]] entwickeln. Aktuelle Untersuchungen ([[Manfred Spitzer]], [[Gerald Hüther]] et al.) der Hirnforschung machen die sogenannten [[Spiegelneuronen]] für diese Fähigkeit verantwortlich. Damit wird die [[Individualpsychologie|individualpsychologische]] Konzeption des [[Gemeinschaftsgefühl]]s und der sozialen Natur des Menschen bestätigt.
In der Zeit des Nationalsozialismus musste sich auch dieses Heim einem System stellen, das den Ideen der Heilpädagogik fundamental entgegengesetzt war. Unter schwierigsten Bedingungen wurde, auch mittels möglichst geringfügiger Anpassung, versucht, die Arbeit im Interesse der Schüler fortzusetzen, was offenbar in vielen Fällen gelang. Einzelheiten sind jedoch nicht immer eindeutig zu klären und aufzuarbeiten.


Die Tiefenpsychologie bedient sich darüber hinaus geisteswissenschaftlicher Methoden, vor allem der [[Hermeneutik]], des [[Konstruktivismus (Philosophie)|Konstruktivismus]], der [[Systemtheorie]] (Psyche als System) sowie der [[Phänomenologie]].
In der Nachkriegszeit bestand das Heim zunächst unter Leitung der Familie fort, fand jedoch im Schulsystem der [[Wikipedia:DDR|DDR]] keine aussichtsreiche Zukunftsperspektive. Nach deren Rückzug wurde es in eine Sonderschule im Sinne sozialistischer Praxis umgeformt und bestand so in unterschiedlicher Prägung bis 1966. Zuletzt führten konzeptionelle und bauliche Mängel, vor allem jedoch ein schwerer Brand, bei dem mehrere Schüler zu Tode kamen, zur Schließung des Heims.


== Kritik an der Tiefenpsychologie ==
Nach dem Ende der DDR war es den Nachkommen nicht möglich, die Arbeit Trüpers in Jena fortzusetzen. Das Gelände fand im Wohnbau eine neue Nutzung.
Kritik an der Tiefenpsychologie findet sich vor allem aus den Reihen anderer psychologischer [[Paradigma|Paradigmen]]. Es wird vor allem kritisiert, dass die Theorien und Modelle der Tiefenpsychologie durch nicht hinreichend wissenschaftlich fundierte Methoden konstruiert wurden. Die tiefenpsychologischen Theorien der normalen psychosozialen Entwicklung von Kindern zu Erwachsenen seien rückwirkend durch die Interpretation der Kindheitserinnerungen und Träume erwachsener Psychotherapiepatienten entstanden. Die Folge sei ein Menschenbild, das Defizite und Konflikte als zentrale Grundlagen der normalen Entwicklung betrachte.


Im Gegensatz zum tiefenpsychologischen Ansatz werden beispielsweise die Grundannahmen der [[Kognitive Verhaltenstherapie|kognitiven Verhaltenstherapie]] mittels empirisch-statistischer Forschungsmethoden entwickelt. Zwar gründen sich die Tiefenpsychologie und die Psychoanalyse ebenfalls auf empirische Methoden, allerdings sind diese wenn überhaupt nur schwer oder über Umwege nachvollziehbar bzw. [[Verifikation|verifizierbar]]. Das tiefenpsychologische Paradigma entzieht sich dem in der naturwissenschaftlichen Theoriebildung üblichen [[Falsifikation]]sprinzip, das besagt, dass Hypothesen so formuliert sein müssen, dass sie empirisch prinzipiell widerlegbar sind. Die Einführung vieler theoretischer Konstrukte führt dazu, dass sich das tiefenpsychologische Gedankengebäude immer wieder selbst bestätigt, da immer wieder alternative Erklärungen aus dem tiefenpsychologischen Ideenfundus herangezogen werden können, um sich einer Falsifikation zu widersetzen. Das naturwissenschaftlich-empirische Methodenprinzip der Einfachheit ([[Ockhams Rasiermesser]]) der Theorienbildung ist damit verletzt.
== Konzeption und Diskussion ==
Bedeutung und Potential des Trüper'schen Heilerziehungskonzepts lassen sich nur schwer eindeutig und einheitlich beurteilen. Zweifellos war es bei seiner Entstehung ein grundlegender Neuansatz im Umgang mit beeinträchtigten Kindern und stieß dementsprechend auf großes internationales Interesse. Allerdings  entwickelte es sich aus verschiedenen Gründen nach dem Tod Johannes Trüpers nicht zu einer eigenständigen Richtung weiter. Der Schwerpunkt seiner Pädagogik war stets die praktische Arbeit: Die konkrete Gesamtheit der Sophienhöhe ließ sich offenbar schwer in ein anderes Umfeld übertragen. Ein eigenes, in sich geschlossenes Theoriegebäude zu seiner Tätigkeit dort existiert gleichwohl nicht.


== Siehe auch ==
Die historische Bedeutung Johannes Trüpers in der Pädagogik ist wissenschaftlich bislang nicht vollständig aufgearbeitet. Das Ende des Heimbetriebs stieß bei einigen Zeitzeugen auf tiefes Unverständnis; eine Weiterführung ließ sich jedoch nicht verwirklichen. Das Entwicklungspotential seiner Pädagogik für nachfolgende heutige Ansätze wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sein Denken aus seinem ursprünglichen, konservativen, geschichtlichen Zusammenhang gelöst und mit neuen Werthaltungen und Anforderungen − etwa der [[Selbstbestimmung]] von Kindern, oder einem gewandelten Autoritätsverständnis und [[Wikipedia:Behinderung (Sozialrecht)|Behindertenbild]]− in Einklang gebracht werden kann.
* {{WikipediaDE|Tiefenpsychologie}}
 
* {{WikipediaDE|Liste von Psychotherapie- und Selbsterfahrungsmethoden}}
== Schriften (Auswahl) ==
* {{WikipediaDE|Entwicklungspsychologie}}
* ''Zur Vereinfachung der Schrift unserer Schwachbegabten''. Langensalza 1892.
* {{WikipediaDE|Säuglings- und Kleinkindforschung}}
* ''Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter. Ein Mahnwort für Lehrer, Eltern und Erzieher.'' Gütersloh 1893.
* {{WikipediaDE|Control-Mastery-Theorie}}
* ''Zur pädagogischen Pathologie und Therapie.'' Langensalza 1896.
* ''Friedrich Wilhelm Dörpfelds Sociale Erziehung in Theorie und Praxis.'' Gütersloh 1901.
* ''Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen Seelenleben.'' Altenburg 1902.
* ''Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen Jugendlicher.'' Langensalza 1904.
* ''Zur Frage der ethischen Hygiene unter besonderer Berücksichtigung der Internate.'' Altenburg 1904.
* ''Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück?'' Langensalza 1910.
* ''Trüpers Erziehungsheim und Jugendsanatorium auf der Sophienhöhe bei Jena.'' Jena 1912.
* ''Eine Bankrotterklärung des Schulkasernentums.'' o. O. u. J.
* ''Zur Geschichte des Schulwesens.'' o. O. u. J.
* ''Über Dörpfelds politische und soziale Reformbestrebungen.'' o. O. u. J.


== Literatur ==
== Literatur ==
* Wilfried Daim: Tiefenpsychologie und Erlösung, Verlag Herold, Wien 1953, [https://austria-forum.org/web-books/tiefenpsychologie00de1954iicm online]
* [[Wikipedia:Manfred Berger (Pädagoge)|Manfred Berger]], [[Wikipedia:Jörg W. Ziegenspeck|Jörg W. Ziegenspeck]] (Vorwort): ''Johannes Trüper. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik''. Edition Erlebnispädagogik, Lüneburg 1998, ISBN 3-89569-037-6.
* Christel Bettermann, Alexandra Schotte: ''„Heraus aus den Schulstuben, fort von den schlafraubenden Hausaufgaben, in die freie Natur“. Das Lebenswerk von Johannes Trüper: die Sophienhöhe bei Jena''. (= Dokumentation der Städtischen Museen Jena. Band 10). Städtische Museen Jena, Jena 2002, ISBN 3-930128-51-9.
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* Horst-Heinz Richter: ''Johannes Trüper und seine Sophienhöhe in Jena''. Bussert und Stadeler, Quedlinburg/ Jena 2003, ISBN 3-932906-40-3.
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* Alexandra Schotte: ''Heilpädagogik als Sozialpädagogik. Johannes Trüper und die Sophienhöhe bei Jena''. Dissertation. Universität Jena 2010. IKS Garamond, Jena 2010, ISBN 978-3-941854-11-6.
* Helmut und Irmela Trüper: ''Ursprünge der Heilpädagogik in Deutschland. Johannes Trüper: Leben und Werk ''. Konzepte der Humanwissenschaften, Angewandte Wissenschaft. Klett-Cotta, Stuttgart 1978, ISBN 3-12-928200-9.
* Uwe-Jens Gerhard, Anke Schönberg: ''Johannes Trüper – Die Entstehung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Jena unter dem Einfluss und in Wechselwirkung mit der Pädagogik.'' In: Rolf Castell (Hrsg.): ''Hundert Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie : Biografien und Autobiografien.'' V & R Unipress, Göttingen 2008, ISBN 978-3-89971-509-5, S. 17–44.


* Siegfried Elhardt: ''Tiefenpsychologie. Eine Einführung.'' 16. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 2006, ISBN 3-17-016988-2.
== Weblinks ==
* Josef Rattner: ''Klassiker der Psychoanalyse.'' Beltz, Weinheim 1995, ISBN 3-621-27276-3.
* {{DNB-Portal|118624199}}
* Gerald Mackenthun: ''Grundlagen der Tiefenpsychologie.'' Psychosozial, Gießen 2013, ISBN 978-3-8379-2285-1.
* Biografie [http://www.uni-jena.de/unijenamedia/Downloads/faculties/fsv/institut_erzwi/ls_sozpaed/herbar/Trueper.pdf Uni Jena] (PDF; 51&nbsp;kB)
* S. Schaper u. a.: [http://www.efb-stupa.de/service/handouts/sonpaed_2006-05-22_a.pdf ''Johannes Trüper. Ursprünge der Heilpädagogik.''] Referat. (PDF-Datei; 187&nbsp;kB)
* Manfred Berger: [http://archiv-heilpaedagogik.de/down/Medien/Kurzbiographien-Berger/Trueper,%20Johannes.pdf ''Johannes Trüper - sein Leben und Wirken.''] In: ''Zeitschrift für Erlebnispädagogik.'' 1999.


== Weblinks ==
== Einzelnachweise ==
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<references />
* [http://www.dgpt.de/ Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V.]
* [http://www.dft-online.de/ Deutsche Fachgesellschaft für Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie e.V. (DFT)]
* [http://www.igt-plochingen.de/ Internationale Gesellschaft für Tiefenpsychologie e.V.]
* [http://www.mikoleit.de/tiefenpsychologie.htm Was ist tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?]


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Version vom 14. August 2018, 14:51 Uhr

Johannes Trüper (* 2. Februar 1855 in Rekum/Landkreis Blumenthal; † 1. November 1921 in Jena) war ein deutscher Pädagoge aus dem Kreis der „Thüringer Erzieher“ und Mitbegründer der Heilpädagogik sowie angrenzender pädagogischer Arbeitsfelder. Er vertrat eine lebensnahe Pädagogik, die auf konkretes, gemeinschaftsorientiertes Handeln ausgerichtet ist und dem Einzelnen durch einen möglichst breit gefächerten Ansatz in Förderung und Erziehung begegnen will. Seine Arbeit wurzelt in christlichen Glaubensüberzeugungen und Ideen der Sozialfürsorge des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sein Psychopathie-Konzept bahnte ein neues Verständnis beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher an, indem es an Stelle einer vermeintlichen charakterlich-moralischen Minderwertigkeit von deren gesundheitlicher und sozialer Situation ausging, und eine Verknüpfung von eingehender Erziehung und Therapie anstrebte.

Besondere Bedeutung erlangte er durch die Gründung eines neuartigen Heimes für Schülerinnen und Schüler, die aufgrund verschiedener Beeinträchtigungen im damaligen Schulwesen keinen Platz fanden.

Leben

Trüper, der sich später Johannes nannte, kam 1855 als das vierte von sechs Kindern des Schiffszimmermannes Johann Trüper und seiner Ehefrau Anna Meta, geb. Chantelau, zur Welt. Er besuchte zunächst die Volksschule und – für ihn weitaus bedeutsamer – eine höhere Privatschule mit bemerkenswertem Erfolg. Dabei durfte er als Jugendlicher bereits aushilfsweise an einer Dorfschule unterrichten und erste Lehrerfahrung sammeln. Mit 17 Jahren trat er in das Bremer Lehrerseminar ein, war jedoch von der Überbetonung bloßer Wissensvermittlung gegenüber psychologischen Aspekten sowie vom Zustand des Schulwesens seiner Zeit schwer enttäuscht.

Nach seinem Examen unterrichtete der junge Lehrer mehrere Jahre in Schulen bei Bremen. In dieser Zeit trat er dem Lehrerverein bei und setzte sich in zahlreichen Aufsätzen kritisch mit Mängeln des Schulsystems und anderen sozialen Fragen in Zusammenhang mit der Erziehung heranwachsender Persönlichkeiten auseinander. In Bremen kam Trüper auch mit dem Pädagogen Friedrich Wilhelm Dörpfeld in Verbindung, der seine Arbeit in pädagogischer und philosophischer Hinsicht sehr bereicherte. Anfänglichen Kontakten über Fachpublikationen folgte eine enge persönliche Bekanntschaft; zuletzt ordnete er dessen Nachlass.

Nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen bat Trüper schließlich um Beurlaubung vom Schuldienst und ging 1887 nach Jena, um dort ein fachlich breit angelegtes Studium unter anderem in Philosophie, Pädagogik, Psychiatrie und Naturwissenschaften aufzunehmen. Er profitierte dabei maßgeblich vom intellektuellen Klima an der Universität und der sich dort sammelnden pädagogischen Fachkompetenz. So kam er − teils persönlich − mit vielen der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit in Kontakt und hörte Vorlesungen bei Wilhelm Rein, Ernst Haeckel, Rudolf Eucken und Otto Binswanger.

Seine weiteren Studien- und Promotionsvorhaben gab er jedoch auf, als er gebeten wurde, einen seelisch beeinträchtigten, intellektuell begabten Jungen, für den sich nach einer Konsultation bei Otto Binswanger keine adäquate Unterbringung finden ließ, einige Zeit zu betreuen. Da ihn diese Aufgabe begeisterte und offensichtlich Bedarf vorhanden war, nahm Trüper nach und nach weitere Kinder auf, und beschloss, sich diese Arbeit zur Lebensaufgabe zu machen.

1890 gründete Trüper in Jena sein Heim für entwicklungsgeschädigte und -gestörte Kinder, für das er zwei Jahre später die Sophienhöhe, ein ehemaliges Sanatorium, erwarb. Unter verschiedenen Bezeichnungen und wechselnden Rahmenbedingungen entfaltete dieses Heim seine umfassende heil- und sozialpädagogische Konzeption für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Beeinträchtigungen. Nachhaltige Unterstützung – auch in finanzieller Hinsicht – erfuhr Johannes durch seine Schwester Meta Trüper, die seine Arbeit lebenslang begleitete.

Zusammen mit Julius Ludwig August Koch, dem Direktor der Staatsirrenanstalt Zwiefalten (heute: Münsterklinik), Christian Ufer, einem Regelschullehrer, und dem evangelischen Theologen Friedrich Zimmer, Begründer des Evangelischen Diakonievereins, rief er 1895 die Zeitschrift Die Kinderfehler ins Leben, „die auf ihrem Gebiet [...] für die Entwicklung der Heilpädagogik von höchster Bedeutung geworden“ ist.[1] 1900 erhielt das Blatt seinen späteren Namen Zeitschrift für Kinderforschung. Mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie. Die Zeitschriftengründer waren zugleich Herausgeber, wobei Trüper die Schriftleitung übernahm. Bis zu seinem Tod war das Periodikum Organ des Vereins für Kinderforschung, an dessen Gründung 1898 er beteiligt gewesen war. Ein Höhepunkt seines öffentlichen Wirkens war der Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge, der vom 1. bis 4. Oktober 1906 in Berlin stattfand und an dem über 700 Personen teilnahmen.

1896 heiratete Trüper Elisabeth Melaleuka Dörr, Tochter eines Bonner Apothekers aus dem Umkreis Friedrich Wilhelm Dörpfelds. Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor, die später die pädagogische Arbeit ihres Vaters fortsetzten. Der Überlieferung nach prägte Elisabeth Melaleuka die Atmosphäre der Heimgemeinschaft entscheidend mit; wie sich jedoch die offenbar „glückliche“ Beziehung der beiden unter den ständigen Herausforderungen des Heimlebens gestaltete, ist nicht näher bekannt.

Trüper starb im Alter von 66 Jahren infolge einer Krebserkrankung, nachdem es ihm zuvor gelungen war, den Heimbetrieb geordnet zu übergeben. Er wurde im Park der Sophienhöhe begraben.

Ein Teil seines, bisher nicht vollständig aufgearbeiteten, Nachlasses befindet sich im Heilpädagogischen Archiv der Humboldt-Universität Berlin sowie bei weiteren wissenschaftlichen Institutionen und in Familienbesitz.

Ehrungen

  • Eine Schule für Erziehungshilfe in Chemnitz wurde nach ihm benannt.
  • Die Johann-Trüper-Straße in Bremen-Rekum wurde nach ihm benannt.
  • Der Weg zur "Sophienhöhe" in Jena erhielt 1991 den Namen "Trüperweg".

Pädagogische Konzeption

Grundzüge und Ideen

Trüper strebte im Grundsatz eine lebensnahe Pädagogik an, die mit ihrem breit ausgelegten Ansatz die Persönlichkeit seiner (beeinträchtigten) Schüler als Ganzes erfasst und sie durch eine eingehende, auf den Einzelnen abgestimmte Erziehung befähigt, aktiv am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Prägende Leitgedanken sind dabei der „erziehende Unterricht“, der neben der Vermittlung von Lerninhalten zugleich die Weiterentwicklung der Persönlichkeit unterstützen soll, und die neu eingeführte Verknüpfung von Therapie und Medizin, um den Problemen belasteter Schüler umfassend gerecht zu werden.

Praktisches Handeln und Arbeiten (etwa in den Anlagen des Heims) wird, neben dem eigentlichen Unterricht, ein wichtiges Element der Erziehung zu einem selbständigen Leben. Durch diese Erweiterung des pädagogischen Programms können auch schwerer beeinträchtigte Schüler zu einer sinnvollen Beschäftigung finden und konkrete Fertigkeiten erwerben.

Im Trüper'schen Ansatz werden beeinträchtigte Jugendliche neu als Mitmenschen mit charakteristischen Eigenschaften, Stärken und Schwächen wahrgenommen, deren Probleme man durch gezielte Erziehung angehen muss, um ihnen bessere Werdechancen zu ermöglichen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Erzieherpersönlichkeit, die sich selbst stark und authentisch einbringen muss und dabei fortwährend vor der Aufgabe steht, psychologisches Fachwissen mit pädagogischer Intuition zu verbinden, um in der jeweiligen konkreten, individuellen Situation zu angemessenen Lösungen zu gelangen.

Trotz des stark auf die Einzelsituation ausgerichteten Erziehungsmodells bleibt die Erziehung in der und für die Gemeinschaft erklärtes Ziel, wobei Trüper die gegenseitige Unterstützung zwischen (verschiedenartig beeinträchtigten) Kindern besonders betont. Strafen als Erziehungsmittel werden – besonders in der Heilpädagogik – entgegen traditioneller Vorstellungen zurückgenommen; der Erzieher bleibt dennoch stets eine wohlwollende, einsichtige und glaubhafte, aber bestimmte Autorität. Eine deutlichere Akzentuierung der Selbstentfaltung von Kindern nach deren Wertevorstellungen, wie sie nachfolgende Ansätze propagieren, wird abgelehnt.

Trüpers Pädagogik stützt außerdem auf eine zeittypisches positives Bild der Natur sowie auf ein christlich inspiriertes Idealbild der Familie als beschützender Ort des Heranwachsens. Vom Kontakt mit der „freien Natur“ erhoffte er sich, insbesondere im Gegensatz zu den Stadtlandschaften der frühen Industrialisierung, vielfältige Impulse für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung; die Familie soll hingegen als Baustein der Gesellschaft eine rollengerechte Erziehung durch liebevolle Vorbilder gewährleisten.

Bezüglich der Lerninhalte fordert Trüper allgemein die Aktualisierung der damaligen Vorgaben, sodass die Lernenden in ihrer, durch die aufkommende Industrialisierung vielfach ungewöhnlich schwierige, Lebenssituation angesprochen werden können und die Erziehung sie auf das Leben in der veränderten Gesellschaft vorbereitet.

Insbesondere für seine förderungsbedürftigen Schüler, jedoch auch für das gesamte Schulsystem, strebt er eine Konzentration und Reduktion des Lernstoffs an, um eine Überforderung der Schüler, die Fehlentwicklungen begünstigen könnte, und eine Überfrachtung mit unverstandenem Buchwissen ohne konkrete Bezüge zu verhindern.

Umsetzung und Arbeitsweise

Trüper legte seiner Heimerziehung das – zu seiner Zeit noch vielfach angezweifelte – Prinzip der Koedukation zugrunde, da er im möglichst unkomplizierten Zusammenleben von Jungen und Mädchen eine wichtige Vorbereitung auf ein aktives Leben sah; damit verband sich jedoch keinesfalls eine tiefgreifendere Kritik an den traditionellen Rollen- und Moralvorstellungen.

Der Unterricht wurde grundsätzlich in drei Klassenstufen erteilt, die ungefähr auf verschiedene Anforderungsniveaus des allgemeinen Schulsystems abgestimmt waren. Unterrichtet wurde jedoch regulär auch in flexibel gebildeten Gruppen mit gleichen Lernbedürfnissen. Entsprechend begabte Schüler konnten extern das Abitur ablegen und dennoch zugleich Heimbewohner bleiben.

Pädagogische Praxis: Die Sophienhöhe

Ursprüngliches Konzept

Trüpers Konzeption entwickelte sich im Wesentlichen in der pädagogischen Praxis seines Heims, der Sophienhöhe bei Jena, das vor allem in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg schrittweise aufgebaut wurde. Knapp 30 Pädagogen betreuten dort nach dem, damals noch ungewöhnlichen, Prinzip der Koedukation etwa 125 Schüler mit unterschiedlichen Erkrankungen und Schwierigkeiten. Darunter befanden sich auch Kinder und Jugendliche, die nicht hauptsächlich gesundheitliche, sondern schulische und soziale Probleme aus ihrem ursprünglichen Umfeld mitbrachten.

Die − betont eng verbundene Heimgemeinschaft − war in Familien nachempfundenen Gruppen organisiert: Die Kinder hatten jeweils eine feste Bezugsperson zur Betreuung, die in der Regel auch bei ihrer Gruppe auf der Sophienhöhe wohnte und eng in das Heim eingebunden war. Die Organisation setzte dabei klar auf Autorität und Hierarchie. Diese enge Einbindung schuf einerseits eine menschlich wie pädagogisch sehr intensive Situation, forderte jedoch extremen Einsatz vonseiten des Personals und brachte aus heutiger Sicht durchaus problematische Arbeitsbedingungen mit sich.

Die Sophienhöhe bot eine vergleichsweise moderne Infrastruktur, die mehrere Wohngebäude für die Gruppen sowie Wirtschafts- und Gemeinschaftsräume umfasste. Die Einrichtung verfügte über eine eigene Landwirtschaft und Gärtnerei, eine Tischler- und Schlosserwerkstatt − alle nicht zuletzt zur praktischen Betätigung der Jugendlichen − sowie unter anderem Möglichkeiten für technischen Anschauungsunterricht, ein Schwimmbad und eine Turnhalle mit Versammlungsmöglichkeit. Auf diese Weise fand der umfassende Ansatz Trüpers in der Gemeinschaft der „Sophienhöher“ eine praktische Umsetzungsmöglichkeit.

Weitere Entwicklung

Nach dem Tod ihres Gründers geriet die Sophienhöhe zunächst in konzeptionelle und finanziell-organisatorische Schwierigkeiten: Besonders die veränderten gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen stellten die Arbeit vor neue Herausforderungen, die jedoch unter dem neuen Leiter Otto Haase (bis 1930) mit neuen Impulsen erfolgreich angegangen werden konnten. Im Anschluss wurde das Heim, zeitweise unter Mitwirkung von Hanns Eyferth, erneut von Nachkommen Trüpers geführt.

In der Zeit des Nationalsozialismus musste sich auch dieses Heim einem System stellen, das den Ideen der Heilpädagogik fundamental entgegengesetzt war. Unter schwierigsten Bedingungen wurde, auch mittels möglichst geringfügiger Anpassung, versucht, die Arbeit im Interesse der Schüler fortzusetzen, was offenbar in vielen Fällen gelang. Einzelheiten sind jedoch nicht immer eindeutig zu klären und aufzuarbeiten.

In der Nachkriegszeit bestand das Heim zunächst unter Leitung der Familie fort, fand jedoch im Schulsystem der DDR keine aussichtsreiche Zukunftsperspektive. Nach deren Rückzug wurde es in eine Sonderschule im Sinne sozialistischer Praxis umgeformt und bestand so in unterschiedlicher Prägung bis 1966. Zuletzt führten konzeptionelle und bauliche Mängel, vor allem jedoch ein schwerer Brand, bei dem mehrere Schüler zu Tode kamen, zur Schließung des Heims.

Nach dem Ende der DDR war es den Nachkommen nicht möglich, die Arbeit Trüpers in Jena fortzusetzen. Das Gelände fand im Wohnbau eine neue Nutzung.

Konzeption und Diskussion

Bedeutung und Potential des Trüper'schen Heilerziehungskonzepts lassen sich nur schwer eindeutig und einheitlich beurteilen. Zweifellos war es bei seiner Entstehung ein grundlegender Neuansatz im Umgang mit beeinträchtigten Kindern und stieß dementsprechend auf großes internationales Interesse. Allerdings entwickelte es sich aus verschiedenen Gründen nach dem Tod Johannes Trüpers nicht zu einer eigenständigen Richtung weiter. Der Schwerpunkt seiner Pädagogik war stets die praktische Arbeit: Die konkrete Gesamtheit der Sophienhöhe ließ sich offenbar schwer in ein anderes Umfeld übertragen. Ein eigenes, in sich geschlossenes Theoriegebäude zu seiner Tätigkeit dort existiert gleichwohl nicht.

Die historische Bedeutung Johannes Trüpers in der Pädagogik ist wissenschaftlich bislang nicht vollständig aufgearbeitet. Das Ende des Heimbetriebs stieß bei einigen Zeitzeugen auf tiefes Unverständnis; eine Weiterführung ließ sich jedoch nicht verwirklichen. Das Entwicklungspotential seiner Pädagogik für nachfolgende heutige Ansätze wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sein Denken aus seinem ursprünglichen, konservativen, geschichtlichen Zusammenhang gelöst und mit neuen Werthaltungen und Anforderungen − etwa der Selbstbestimmung von Kindern, oder einem gewandelten Autoritätsverständnis und Behindertenbild− in Einklang gebracht werden kann.

Schriften (Auswahl)

  • Zur Vereinfachung der Schrift unserer Schwachbegabten. Langensalza 1892.
  • Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter. Ein Mahnwort für Lehrer, Eltern und Erzieher. Gütersloh 1893.
  • Zur pädagogischen Pathologie und Therapie. Langensalza 1896.
  • Friedrich Wilhelm Dörpfelds Sociale Erziehung in Theorie und Praxis. Gütersloh 1901.
  • Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. Altenburg 1902.
  • Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen Jugendlicher. Langensalza 1904.
  • Zur Frage der ethischen Hygiene unter besonderer Berücksichtigung der Internate. Altenburg 1904.
  • Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Langensalza 1910.
  • Trüpers Erziehungsheim und Jugendsanatorium auf der Sophienhöhe bei Jena. Jena 1912.
  • Eine Bankrotterklärung des Schulkasernentums. o. O. u. J.
  • Zur Geschichte des Schulwesens. o. O. u. J.
  • Über Dörpfelds politische und soziale Reformbestrebungen. o. O. u. J.

Literatur

  • Manfred Berger, Jörg W. Ziegenspeck (Vorwort): Johannes Trüper. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik. Edition Erlebnispädagogik, Lüneburg 1998, ISBN 3-89569-037-6.
  • Christel Bettermann, Alexandra Schotte: „Heraus aus den Schulstuben, fort von den schlafraubenden Hausaufgaben, in die freie Natur“. Das Lebenswerk von Johannes Trüper: die Sophienhöhe bei Jena. (= Dokumentation der Städtischen Museen Jena. Band 10). Städtische Museen Jena, Jena 2002, ISBN 3-930128-51-9.
  • August Henze: Trüper, Johann. In: Adolf Dannemann u. a. (Hrsg.).: Enzyklopädisches Lexikon der Heilpädagogik. Halle an der Saale BD. II, Sp 2946–2948.
  • Horst-Heinz Richter: Johannes Trüper und seine Sophienhöhe in Jena. Bussert und Stadeler, Quedlinburg/ Jena 2003, ISBN 3-932906-40-3.
  • Karel Zimmermann: Johannes Trüper. Ein Heilpädagoge zwischen Pädagogik und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dissertation. Universität Köln, 2005,(http://d-nb.info/978391233/34 PDF; 6,5 MB).
  • Alexandra Schotte: Heilpädagogik als Sozialpädagogik. Johannes Trüper und die Sophienhöhe bei Jena. Dissertation. Universität Jena 2010. IKS Garamond, Jena 2010, ISBN 978-3-941854-11-6.
  • Helmut und Irmela Trüper: Ursprünge der Heilpädagogik in Deutschland. Johannes Trüper: Leben und Werk . Konzepte der Humanwissenschaften, Angewandte Wissenschaft. Klett-Cotta, Stuttgart 1978, ISBN 3-12-928200-9.
  • Uwe-Jens Gerhard, Anke Schönberg: Johannes Trüper – Die Entstehung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Jena unter dem Einfluss und in Wechselwirkung mit der Pädagogik. In: Rolf Castell (Hrsg.): Hundert Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie : Biografien und Autobiografien. V & R Unipress, Göttingen 2008, ISBN 978-3-89971-509-5, S. 17–44.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Henze 1934, Sp. 2947f.


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